Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 05.07.2009

Predigt zu Lukas 6:36-38.41-42, verfasst von Berthold W. Köber

Vom Richten

Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde!
Eines der beliebtesten Gesprächsthemen - das sind die anderen.
Das sind diejenigen Menschen, die gerade nicht anwesend sind.
Sie bieten immer interessanten Gesprächsstoff, besonders dann, wenn man Negatives über sie zu erzählen weiß.
Und das führt dann unversehens dazu, dass man über sie urteilt, sie richtet -
und das wird zumeist ein Ver-Urteilen. - Warum tut man das eigentlich?

Oft geschieht es aus dem einfachen Grund, dass man sich mit dem,
was man über andere weiß, interessant machen möchte. Davon lebt im Übrigen die Boulevardpresse. Und nicht nur sie, leider, sondern zunehmend mehr auch Zeitungen und Zeitschriften, die den Anspruch erheben, seriös zu sein. Und auch manche Sendungen im Fernsehen. Aufmerksamkeit und Aufsehen erregen - das kann man so am besten. Auf solche Weise wird versucht, zu unterhalten und natürlich auch, um Leser zu werden und hohe Einschaltquoten zu erzielen.

Dabei kann man gleichzeitig auch zeigen, wie genau man weiß, was gut und
was böse ist; wie genau man weiß, wer gut und - vor allem - wer böse ist.
Und wie sehr man bereit ist, sich für das Gute einzusetzen und das Böse zu bekämpfen, indem man es beim Namen nennt und publik macht.
Es bietet auch Gelegenheit, zu zeigen, wie gut man selbst ist und dass man solches nie tun würde. Man zeigt, wie ernst es einem um die eigene Frömmigkeit bestellt
und wie wichtig einem die Bewährung im christlichen Glauben ist.
Dadurch spielt man den Moralapostel.
Der einkalkulierte Nebeneffekt ist dabei oft, die Blicke von einem selbst weg,
vom eigenen Sein und Tun, wegzulenken, nach dem Motto: Haltet den Dieb.

Nicht selten urteilt man über die anderen auch, weil man daran ganz existenziell interessiert ist, sei es, um es ihnen heimzuzahlen, sei es, weil man sie von dort, wo sie sind, verdrängen will, weil man es ihnen neidet, weil man selbst ihre Stelle einnehmen möchte, sei es, um sie fertig zu machen.

Wie urteilen die Menschen? Das zeigt uns in eindrücklicher Weise die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8, 1 - 11). Da bringen Schriftgelehrte und Pharisäer eine Frau zu Jesus, die auf frischem Ehebruch ergriffen worden ist. Sie wollen seine Ansicht dazu hören - aber nicht etwa, weil sie von ihm etwas lernen wollten, sondern um ihm eine Falle zu stellen. Ehebruch galt damals als Verbrechen, das nach dem Gesetz des Mose mit dem Tod, und zwar durch Steinigung, bestraft werden musste. (In streng-islamischen Ländern existiert diese unmenschliche Praxis auch heute noch.) Hätte Jesus dem zugestimmt, wäre er nicht mehr der liebende und vergebende Heiland gewesen. Hätte er aber gesagt, lasst sie laufen, hätte man ihn als Verächter des als göttlich geltenden Gesetzes verurteilen können.

Sie hatten die Frau schon längst verurteilt: streng gesetzlich, unbarmherzig, verständnislos, gnadenlos und lieblos, ohne zu fragen, wie es überhaupt dazu gekommen war. Und - sie missbrauchen die tief betroffene, bedauernswerte, um ihr Leben bangende Frau, um Jesus zu provozieren. 

Ihr urteilt, wie Menschen urteilen, sagt Jesus. Und was tut Jesus? Er verharmlost nicht etwa die Tat. Aber er sagt zu ihnen, die sich als Ankläger und Richter aufspielen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Niemand tut es, alle schleichen nacheinander kleinlaut davon. Daraufhin sagt Jesus zur Frau: So verurteile ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Trotzdem urteilen die Menschen auch heute noch. Sie tun es in ähnlich wie die Schriftgelehrten damals: selbstgerecht, nach dem Augenschein, nach Vorurteilen, undifferenziert, einseitig, parteiisch, und sie tun es unbarmherzig, gnadenlos und lieblos.

Unser Herr Jesus Christus warnt uns vor solchem Richten mit allem Nachdruck.
Er öffnet uns die Augen über uns selbst. Unser Blick ist unheimlich scharf,
was die anderen betrifft. Man kann von einer richtigen Entdeckerfreudigkeit sprechen, wenn es um die Fehler und Schwächen der anderen geht.
Was einen selbst betrifft, so ist man unheimlich großzügig und nachsichtig;
man kann alles erklären und entschuldigen und verharmlosen. Mit den Worten Jesu gesprochen: Den kleinen Splitter im Auge des anderen sieht man sofort, den Balken im eigenen Auge nimmt man nicht wahr.

Das aber ist heuchlerische Überheblichkeit und Scheinheiligkeit. Denn das, was man am anderen verurteilt, kann einem auch sehr leicht passieren, - und was dann?
Man verurteilt am anderen genau das, was man selbst auch tut oder ist,
was die anderen auch an einem selbst aussetzen können.
Dann aber richtet man sich selbst, spricht sein eigenes Urteil.
Es ist eine bekannte Feststellung: Wenn ich mit meinem Zeigefinger auf den anderen zeige, weisen gleichzeitig drei Finger auf mich selbst zurück.

Jesus öffnet auch den Blick für den Nächsten.
Den anderen zu richten ist ein Zeichen von Lieblosigkeit. Man bemüht sich nicht, ihn zu verstehen, man hilft ihm nicht, man stellt sich nicht neben ihn, sondern über ihn,
man verdrängt ihn, man macht ihn fertig.

Und Jesus öffnet auch den Blick für Gott.
Andere zu richten, ist ein Zeichen von Gottlosigkeit. Man maßt sich an,
was Gott allein zusteht. Man stellt sich damit auf seinen Platz und greift in sein Recht ein. Nur er allein kennt die Menschen, wie sie wirklich sind, und er kennt sie bis auf den Grund ihres Wesens. Ihm kann niemand etwas vormachen oder vorschreiben.
Er allein ist gut und darum kann nur er allein wissen und befinden,
was gut und was böse ist. Daher steht ihm allein das Richten zu.

Und wie richtet Gott?
Gott hat seinen Sohn Jesus Christus zu uns Menschen kommen und unter uns
leben lassen. So hat er unser Wesen und unsere Regungen, unsere Stärken
und unsere Schwächen, unsere Gefühle und Neigungen am eigenen Leib kennengelernt. Er hat nicht verurteilt, sondern hat sich selbst anstelle der Menschen verurteilen lassen. Der Richter ist der Gerichtete geworden. Sein Kreuz ist das Zeichen von Gottes großer Liebe und Barmherzigkeit.

Durch sein Sterben und Auferstehen hat Jesus Christus unser Verhältnis zu Gott wieder in Ordnung gebracht. Alle Selbstanmaßung gegenüber Gott und Lieblosigkeit gegenüber den Menschen wird uns vergeben. Wir dürfen ihm getrost das Richten überlassen. Er richtet gerecht und barmherzig.

Durch ihn kommt auch unser Verhältnis zum anderen wieder in Ordnung.
Seine Barmherzigkeit öffnet uns den Blick für den anderen: wir erkennen im anderen nicht mehr unseren Konkurrenten, Gegner, unseren Feind, sondern unseren Nächsten, unsere Schwester, unseren Bruder, die er auch in seiner Liebe trägt und für die er auch gestorben und auferstanden ist.

Und er bringt auch unser Verhältnis zu uns selbst in Ordnung. Seine Barmherzigkeit öffnet mir den Blick auch für mich selbst. Ich weiß mich geliebt und angenommen, darum kann ich mich selbst auch annehmen, wie ich bin - mit allen meinen Fehlern und Schwächen und allem Ungenügen. Daher habe es nicht nötig, mich über andere zu erheben und sie herabzusetzen, um selbst zu bestehen.

Dadurch ist allem Richten der Grund entzogen. Seine Barmherzigkeit lässt auch uns barmherzig sein. Gegenüber den anderen und gegenüber uns selbst. Amen



Prof. Dr. Berthold W. Köber
Köln
E-Mail: bwoeber@gmx.de

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