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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

7. Sonntag nach Trinitatis, 26.07.2009

Predigt zu Lukas 19:1-10, verfasst von Jens Arendt

Niemandem von uns ist völlig gleichgültig, was Andere meinen.

            Wenn einem gleichgültig ist, was Andere meinen, dann sind einem die Anderen gleichgültig.

            Touristen können sich zum Beispiel auf eine Art und Weise benehmen, wie sie es bei sich zu Hause nie tun würden. "Jetzt können wir ganz wir selbst sein", sagen sie, aber das ist Unsinn. Sie mögen freier sein, aber das hat seinen Grund auch darin, dass ihnen die Menschen, deren Land sie besuchen, gleichgültig sind.

            Dass man man selbst ist, bedeutet, sich zu einer Verantwortung für die Menschen, unter denen man lebt, zu bekennen.

            Andererseits. Wenn wir sagen, die Menschen, unter denen wir wohnen, seien uns gleichgültig, dann kann es auch bedeuten, dass sie in Wirklichkeit unglaublich viel für uns bedeuten. Aber durch unser äußeres Auftreten wollen wir das Gegenteil zeigen. Das kann ein Ausdruck von Verzweiflung sein. Man denke an junge Menschen, die sich bis zur Unkenntlichkeit gepierct haben. Oder an den jungen Mann, der sich nach 100 unbeantworteten Bewerbungen seinen Kopf zur Glatze rasiert hat. Aber am Tag darauf ist er zu einem Anstellungsgespräch bei Mercedes eingeladen.

            Zachäus lebte in einer Gesellschaft, in der Würde obenan stand. Aber die Meinungen Anderer waren einem nicht gleichgültig. Man lief nicht und kletterte in Bäume. Man ging in langen Gewändern, die anzeigten, dass man ein Mensch war, bei dem Würde einen hohen Rang einnahm. Deshalb gehen wir heute mit Talar und Messgewand. Oder: deshalb tragen Rechtsanwälte und Staatschefs zugeknöpfte dunkle Anzüge bei 40 Grad im Schatten.

            Zachäus konnte wegen der Volksmenge nichts sehen, weil er klein von Gestalt war. Also lief er voraus und kletterte in einen Maulbeerbaum, um ihn sehen zu können, denn er sollte dort durchkommen. Vielleicht hat er sich selbst gesagt, dass ihm gleichgültig war, was Andere meinen. Aber sicher war das Gegenteil der Fall.

            Wir bekommen unseren Wert von etwas Anderem als uns selbst. Wir spiegeln uns in den Augen Anderer; deshalb ist die Familie so wichtig. Hier sind Menschen, die einen von vornherein akzeptieren. Ähnlich kann es mit den Kollegen am Arbeitsplatz sein.

            Aber man kann den eigenen Wert auch auf andere Weise messen. Man denke an Zachäus. Er stand außerhalb der Familie, der Kinder Abrahams. Sein Maßstab war nicht der Respekt und die Zuneigung Anderer. Es war nicht die Gerechtigkeit; sondern es war das Geld.

            Er gehörte zu der Welt, in der Menschen wie Waren eingeschätzt werden, nach Angebot und Nachfrage. Zachäus war nicht gefragt.

            Niemand fragte nach Zachäus.

            Menschen fragen nach einem Sinn. Das heißt, sie fragen nach einem Maßstab. Und das wird auf den Kopf gestellt. Das Wichtigste ist nicht, wonach wir fragen. Sondern dass nach uns gefragt wird.

            "Hat jemand nach mir gefragt?", rufen wir, wenn wir nach Hause kommen. Oder wir denken es, wenn wir unser Handy oder unsere Mail checken.

            Es ist traurig, wenn sich niemand an uns gewandt hat.

            Das Entscheidende ist nicht, dass wir nach jemandem fragen, sondern dass jemand nach uns fragt. Der Sinn des Lebens liegt nicht darin zu fragen, sondern zuzuhören. Und zu antworten. Das ist auch der Sinn des Wortes Verantwortung.

            Von Anfang an sind da Fragen, die mit Anwort, Verantwortung zu tun haben: Gott der Herr fragt: "Wo bist du, Adam?", oder er fragt Kain: "Wo ist dein Bruder?"

            Eines Tages kommt einer und fragt nach Zachäus. Wer? Ich? Heute will ich dein Gast sein.

            Gefragt zu sein ist das Evangelium, aber es ist auch gefordert zu sein. Diese Forderung zu hören. Deshalb endet es damit, dass Zachäus die Hälfte seines Besitzes den Armen gibt.

            Zachäus war nicht allein auf der Welt. Ganz Jericho war an jenem Tag auf den Beinen, aber er war einsam.

            Eine Sache ist, allein zu sein - manchmal kann das sehr angenehm sein. Aber es ist sehr viel schlimmer, einsam zu sein. Einsamkeit bedeutet, dass niemand nach dir fragt; oder dass du glaubst, dass niemand nach dir fragt.

            Knut Hamsun, Norwegens großer Dichter, bekam die Nichtachtung der Anderen zu spüren. Er hatte in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges nazistische Sympathien an den Tag gelegt. Dafür wurde er nach dem Kriege mit einer Mauer des Schweigens und staatlicher Demütigung bestraft. Er wurde zu ärztlicher Untersuchung in eine psychiatrische Klinik eingesperrt.

            In seinem Tagebuch "Auf überwachsenen Pfaden" aus dieser Zeit schreibt der fast 90-jährige Hamsun über die Krankenschwestern, die seinen Gruß nicht erwidern, über den Jungen, der ihm den Rücken zukehrt, als er ihn darum bittet, einen Brief nach Hause in den Kasten zur werfen, über die Mütter, die ihre Kinder an sich reißen, wenn er vorbeigeht. Über kleine Episoden mit großer Wirkung, und über den Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik, wo man ihn auf "dauerhaft seelisch geschwächt" reduzieren wollte. Wenn man Hamsuns Tagebuch liest, bekommt man einen Eindruck davon, wir zersetzend Nichtachtung ist. Dass sie eine der besten Waffen ist, die wir gegeneinander haben. Sehr viel wirksamer als Zorn und offene Gegnerschaft. Mit all dem konnte Hamsun wohl leben. Aber nicht mit der Kälte der Anderen und mit der ärztlichen Vernichtung, mit dem Versuch, ihm seine Menschenwürde zu nehmen.

            Aber es war doch auch Hamsun, der gesagt hat, dass "ein Mensch größer ist als sein Schicksal". Jeder Mensch hat einen Wert und eine Würde, die über das hinausgeht, was sonst in dieser Welt geschehen ist - aus eigener Schuld oder ohne eigene Schuld.

            Und gerade die Erzählung von Zachäus kann das gut veranschaulichen. Ein Mensch ist größer als sein Schicksal. Kein Mensch befindet sich in einer solchen Lage, dass nicht nach ihm gefragt werden soll, dass er nicht gefragt ist, dass er keine Verantwortung gibt.

            Es ist wichtig, das jemand nach dir fragt. Und der Sinn liegt auch auf der rein menschlichen Ebene.

            Nicht in deinen Fragen. Wir haben geglaubt, wenn der Mensch seine Bedürfnisse befriedigt bekäme und ihm seine Fragen beantwortet würden, dann würde er das Dasein als sinnvoll betrachten.

            (Das Christentum wird sagen, dass die Liebe der Sinn des Lebens ist. Aber Liebe ist ja gerade dies, dass jemand nach dir fragt. Dass Andere nach dir fragen. Dein Nächster. Und hinter all denen, die nach dir fragen, liegt das Fragen Gottes.)

            Das heißt, dass du eine Antwort geben sollst. Du fragst nicht, sondern umgekehrt, du bist gefragt. Du sollst Antwort geben. In diesem Antwortgeben zu leben, das ist der Sinn des Lebens.

            Wir sollen auf Gott hören, der nach uns fragt. Wir sprechen von der Stimme des Hirten - seiner Stimme, die bescheiden nach dir fragt in den vielen anderen Fragen, die zu stellen und zu hören du in die Kirche gekommen bist.

            Gott fragt nach dir. Es ist die Stimme des Hirten. Du gibst die Ver-Anwort-ung. Und Gott antwortet mit der Vergebung. Amen.



Dompropst Jens Arendt
Roskilde (Dänemark)
E-Mail: jea(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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