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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 16.08.2009

Predigt zu Lukas 19:41-48, verfasst von Peter Lind

Wenn wir heute aufstehen und den heutigen Text aus dem Evangelium des Lukas hören, dann hören wir in Wirklichkeit zweierlei: einerseits das Evangelium als Offenbarung der Botschaft von Gottes Gnade und Liebe in Jesus Christus, der am Karfreitag am Kreuz gelitten hat und gestorben und am Ostermorgen von den Toten auferstanden ist, und andererseits hören wir das Evangelium als die vier verschiedenen Berichte von Jesus Christus, die wir in unserer Bibel besitzen, wie sie von Matthäus bzw. Markus, Lukas und Johannes erzählt werden. Die Unterscheidung ist wichtig, weil das Evangelium der zuerst genannten Art - also die Botschaft von Jesus Christus - feststeht. Man kann z.B. nicht die Frage stellen, ob Jesus Christus tatsächlich am Ostermorgen von den Toten auferstanden ist; d.h. natürlich kann man Fragen stellen, aber man hat auch zu akzeptieren, dass es letzten Endes keine andere Antwort geben kann, als dass es darum geht, daran zu glauben. Ganz anders ist es, wenn es sich um die zweite Art des Evangeliums handelt, nämlich um die vier Erzählungen von Jesus Christus. Denn die sind zu einer bestimmten Zeit von Menschen geschrieben und deshalb natürlich auch von diesen Menschen und ihrer Zeit beeinflusst; und um zu verstehen, wie sie das Evangelium - die Botschaft - von Jesus Christus damals im Verhältnis zu ihrer Zeit und ihrer Welt erlebten, sind wir genötigt, ihre Berichte mit historischen, kritischen Augen zu sehen. U.a. um zu lernen, wie wir mit unserer Zeit und unserer Welt uns zu der zeitlosen und ewigen Botschaft von Jesus Christus verhalten können. 

            Als Lukas in den 70-er Jahren - also vor etwa 1940 Jahren - sein Evangelium schreibt, hat sich in Israel etwas so Gewaltiges und Entscheidendes ereignet, dass seiner Auffassung nach ganz einfach eine Beziehung zwischen Jesus und diesem Ereignis bestehen muss: Jerusalem ist durch die römischen Legionen des Titus nach einem vier Jahre währenden jüdischen Aufruhr belagert und erobert worden. Die Stadt ist geplündert und größtenteils völlig zerstört worden. In den Monaten, vor der Belagerung der Stadt durch die Römer hatten Juden aus ganz Israel in der Stadt hinter den hohen, dicken Mauern Zuflucht gesucht im festen Vertrauen auf die Stärke dieser Mauern gegenüber den Angriffen der Römer und nicht zuletzt im Glauben daran, dass Gott der Herr niemals zulassen würde, dass seine heilige Stadt fallen würde. Aber noch während der Belagerung sterben viele dieser Menschen, und zwar sowohl infolge der Kämpfe mit den Römern als auch auf Grund der heftigen inneren Auseinandersetzungen unter den Verteidigern und infolge des Hungers, und die meisten Überlebenden werden umgebracht, als die römischen Soldaten nach fünfmonatiger Belagerung schließlich durch eines der Stadttore in die Stadt eindringen. Die wenigen Überlebenden werden entweder in die Sklaverei verkauft oder nach Rom verschleppt, um dort im Triumphzug des Titus zur Schau gestellt zu werden.

            Aber das Schlimmste von allem, die größte Katastrophe ist dennoch, dass der Tempel, der unfassbar prächtige Tempel, das absolute Zentrum der Gottesanbetung der Juden, auch zerstört wird. Obwohl Titus eigentlich den Befehl erteilt hat, dass der Tempel verschont würde, geht er in der Hitze des Gefechts in Flammen auf - allerdings erst, nachdem die römischen Soldaten das Allerheiligste geplündert haben, so dass sie beim Triumphzug in Rom u.a. den Tisch mit den Schaubroten, die silbernen Trompeten und den siebenarmigen Leuchter mitführen können, so wie man es noch heute im Triumphbogen des Titus in Rom geschildert sehen kann.

            Die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 ist die größte und entscheidendste Katastrophe des Judentums, denn von da an verbreiten sich die Juden in der ganzen Welt in dem, was sie die "Diaspora" - das Exil nennen. Von da an haben sie nicht mehr den Tempel als gemeinsamen, festen Versammlungsort; -  jetzt haben sie nur ihren Glauben an Gott den Herrn und seinen Pakt mit Abraham und die Hoffnung, die in dem traditionellen Gruß des jüdischen Osterrituals in den nun folgenden fast 2000 Jahren zum Ausdruck kommt: "nächstes Jahr in Jerusalem"; - eine Hoffnung, die de facto erst Wirklichkeit wird, als die israelischen Soldaten während des Sechstagekrieges 1967 Ostjerusalem und damit die Klagemauer erobern, die heute das Einzige ist, was von dem Tempel noch erhalten ist.

            Aber damals in den 70-ern, als Lukas es unternahm, seine Version des Evangeliums niederzuschreiben, ist diese Hoffnung genauso schwach und zerbrechlich wie der Haufen Steine und die rauchgeschwärzten Brocken, die dort liegen, wo Jerusalems prächtiger Tempel sich einmal erhob.

            Die Frage, die sich Juden wie Christen - und damit auch Lukas - jetzt stellen müssen, ist natürlich: "Warum?" Warum lässt es Gott zu, dass sein auserwähltes Volk so unglaublich hart gestraft wird, wie es hier geschehen ist?

            Die Antwort finden wir im heutigen Text, und es ist klar, dass die Antwort für Lukas genauso einleuchtend ist, wie ihre Perspektiven für uns erschreckend sind: weil die Juden die Gelegenheit nicht ergriffen, als Jesus Christus, der Sohn Gottes, mit der Botschaft von der Gnade und Liebe Gottes zu ihnen kam! - Weil sie ihn stattdessen verleugneten und erschlugen! Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und der Untergang der Juden als nationales Volk ist Gottes Strafe!

            Diesen Schluss musste Lukas ja aus der aktuellen Situation unvermeidlich ziehen, aber wenn wir mit dem historischen Wissen von fast 2000 Jahren diese Aussage beurteilen sollen, dann müssen wir einen anderen Schluss ziehen als Lukas. Denn wenn wir die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 als Gottes Strafe an den Juden akzeptieren sollen, dann müssen wir auch die Ausrottung der sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkrieges durch die Nazis als Strafe Gottes akzeptieren. Dann müsssen wir auch die Terrorbomben von Hamas in Israel als Strafe Gottes akzeptieren.

            Denn dann müssen wir auch akzeptieren, an einen Gott zu glauben, der in seinem Zorn und in seinem unversöhnlichen Hass das Volk wieder und wieder und wieder straft, das seinen Sohn ablehnte und tötete.

            Aber dann glauben wir auch an einen Gott, der die Gnade, die Barmherzigkeit und die Liebe nicht unter den größten sein lässt, und dann hat Jesu Auferstehung am Ostermorgen ihre Bedeutung verloren. Sie ist sinnlos geworden als Zeichen der Macht, der Liebe, der Gnade und der Vergebung Gottes.

            Wir können nicht zur selben Zeit an Gott als sowohl gut als auch böse glauben, als sowohl liebend als auch hassend. Gott ist einer. Er ist nicht schizofren und gespalten in einem mächtigen Sammelsurium von einander widersprechenden Eigenschaften. Mit Jesus Christus zeigte er uns - und zwar besonders, indem er Jesus von den Toten auferweckte -, dass er der Gott der Gnade, der Barmherzigkeit und der Liebe ist.           

            Aber für Lukas und seine Zeitgenossen waren die Ereignisse allzu gegenwärtig, als dass sie z.B. die Zerstörung Jerusalems und des Tempels als zufällig und sinnlos hätten akzeptieren können. In seinem Evangelium musste Lukas daher versuchen, es zu interpretieren und es zu verstehen, so wie wir heute versuchen, es zu verstehen, wenn unsere Welt von gewaltigen und erschütternden Ereignissen heimgesucht wird. Einst werden Historiker vielleicht ihr Urteil über uns und unsere Engstirnigkeit fällen, heute aber sind wir es, die mit der historisch-kritischen Brille der Wissenschaft ganz sachlich und distanziert diese Aussage definieren können, die Jesus unter Tränen macht, als eine Prophetie, die Lukas selbst aller Wahrscheinlichkeit nach Jesus in den Mund gelegt hat, um mit seiner verspäteten geschichtlichen Einsicht zu beweisen, dass die Juden einen so furchtbaren Fehler begingen, als die Jesus verwarfen.

            Aber damit landen wir dann auch in Sinnlosigkeit und wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. Was sollen wir anfangen mit den Katastrophen der Welt und mit der Bosheit von Menschen, wenn wir nicht dem sonst so allmächtigen Gott die Verantwortung dafür geben können?

            Aber, auch wenn es unbefriedigend ist und von Verzweiflung zeugt, sind wir genötigt, zu akzeptieren, dass wir keine endgültige Erklärung dafür geben können, dass es manchmal so geschieht - dass es sinnlos sein kann.

            Vielleicht ist das trotz allem auch gar keine so schlechte Erklärung, wenn wir nur zu dem Wagnis imstande sind, zu glauben und zu hoffen, dass wir mit dieser schrecklichen und verzweifelten Sinnlosigkeit nicht allein und ohnmächtig dastehen, sondern dass Gott mit seiner Liebe auch dann bei uns sein wird und einen Sinn bewahren wird - auch dann, mitten in der Sinnlosigkeit.

            Das ist der Grund, warum Jesus weint, als er die Stadt sieht. Er weint über die Katastrophen und Unglücke der Welt, über Dummheit und Bosheit von Menschen. Er weint um unseretwillen. Er weint mit uns. Weil er ein Teil unserer Welt und unseres Lebens ist - auch in der furchtbaren Finsternis der Sinnlosigkeit, und deshalb ist der Glaube und die Hoffnung auf Gottes machtvolle Liebe in ihm unser fester Anker - auch dort, wo alles Andere untergeht.

            Das wusste Lukas natürlich genau - es liegt auch als ein festes Fundament unter seinem gesamten Evangelium von Jesus Christus, und deshalb erzählt er, dass Jesus weint; denn warum sollte Jesus eigentlich überhaupt eine Träne vergießen, wenn die Zerstörung Jerusalems bloß Gottes harte, gerechte Strafe war? Aber auch für einen Lukas war es schwer, an die schrecklichen Ereignisse des Jahres 70 als Sinn und Wille Gottes zu glauben, denn auch für ihn war die Botschaft von der Gnade und Liebe Gottes natürlich das Größte und Wichtigste im Evangelium von Jesus Christus. Amen



Pastor Peter Lind
Middelfart (Dänemark)
E-Mail: pli(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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