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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 23.08.2009

Predigt zu Lukas 18:9-14, verfasst von Titus Reinmuth

Liebe Gemeinde,

(I) es gibt unsympathische Zeitgenossen. Der Dicke, der sich im Bus neben mir breit macht, verschwitzt riecht und laut mit einer Tüte Chips hantiert. Die Jugendlichen, die an der Haltestelle herumhängen und aus deren Handys schrille Musik dröhnt, als wären sie allein auf der Welt. Die Tante, die ständig glaubt, gerade sie sei besonders hart vom Schicksal getroffen und die allen auf die Nerven geht mit ihrem Gejammer.
Schon über solche Äußerlichkeiten könnte ich mich aufregen. Haben die alle keinen Respekt? Merken die nicht, dass es da rechts und links noch andere Menschen gibt, die einfach nur ein wenig Platz brauchen, die auch mal Gehör finden wollen oder einfach nur ihre Ruhe haben möchten?
Es geht ja noch schlimmer. Was ist mit der geradezu kaltblütigen Intrigantin, die nach außen immer schön freundlich tut, groß von Gemeinschaft und Verständnis tönt, und dann hinten herum ganz anders redet und schließlich die andern ins offene Messer laufen lässt. Eine fiese Zeitgenossin. Was ist mit dem Investmentbänker, der ohne mit der Wimper zu zucken das Geld anderer Leute verzockt, aber selbst sein Schäflein ins Trockene bringt? Omas Erspartes ist dahin, aber er fährt mit seinem dicken Auto auf und davon. Ein skrupelloser Charakter. Was ist mit der Politikerin, dem Politiker, die schöne Worte machen, auf die vermeintlichen Erfolge verweisen, am Misserfolg aber nie schuld sein wollen - und schon gar nicht ehrlich sagen, was sie vorhaben? Aalglatte Typen.

Muss ich die eigentlich alle mögen? Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich sie nicht leiden kann? Ich bin froh, wenn ich manchen Menschen einfach aus dem Weg gehen kann. Ist das unchristlich? Zum Glück bin ich nicht so wie die, denke ich manchmal. Darf ich das? Es heißt doch: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Lieben? Schon der Respekt fällt mir schwer. Ist das ok?

(II) Der Predigttext für den heutigen Sonntag erzählt von zwei ungleichen Typen. Pharisäer und Zöllner. Manche kennen die Geschichte. Nach Lukas erzählt Jesus diese Begebenheit ein paar frommen Leuten - oder solchen, wie es heißt, „die sich anmaßten, fromm zu sein und die andern verachteten".
Denen wird also erzählt: „Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten. Der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner." Schon mit diesem ersten Satz wird für die Hörerinnen und Hörer damals die größte denkbare Spannung aufgebaut. Die Pharisäer: Gelehrt und fromm kommen sie daher, in den Evangelien nie ohne kritischen Unterton. Sie gelten oft als rechthaberisch und unbelehrbar. In Wirklichkeit waren das schon aufrichtige Leute. Flavius Josephus, ein jüdischer Geschichtsschreiber des ersten Jahrhunderts, berichtet von sieben verschiedenen Schulen, verschiedenen Denkrichtungen also unter diesen Schriftgelehrten. Diese Pharisäer waren wirklich gelehrte Männer, kluge Leute, die lange und genau die Bibel studiert hatten, die versuchten, danach zu leben, die in den Schulen und Versammlungshäusern der Gemeinden ihre Diskussionen führten. Freilich, sie wollten auch genau sagen können, was richtig oder falsch war, was sich gehörte und was nicht. Sie beschrieben die Religion, sie machten die Regeln. Und sie sagten, wie man zu leben hat, wenn dieses Leben Gott gefallen soll. Fromm und gelehrt und rechtschaffen wollten sie sein. Einflussreich und bestimmend waren sie auf jeden Fall. All das klingt mit, wenn Lukas nur das Stichwort nennt: Ein Pharisäer geht in den Tempel.
Daneben ein Zöllner. Auch hier steht den Hörerinnen und Hören sofort vor Augen, was das für ein Charakter ist. Der Zöllner ist geradezu der Typus des „Sünders", vielleicht noch zusammen mit den Prostituierten steht er stellvertretend für diejenigen, die sich nun wirklich und für alle offensichtlich von Gott und den Menschen getrennt haben. Ein Zöllner gilt seinen jüdischen Mitbürgern als gewinnsüchtiger Kollaborateur der römischen Besatzer. Mit so einem spricht man nicht, im Gegenteil, man geht ihm aus dem Weg.
Pharisäer und Zöllner. Diese beiden Typen gehen hinauf in den Tempel, um zu beten. Der Pharisäer stand für sich, so heißt es, und betete so: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöller. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme." Der Zöllner dagegen „stand ferne", so wird notiert, „wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig."
Pharisäer und Zöllner, man könnte sie kaum unterschiedlicher beschreiben. Hier ist alles bis ins Detail inszeniert, das ist wirklich ganz großes Kino. Zuerst ihre Haltung: Der Pharisäer stand für sich. Aufrecht, alleine, für sich. Mehr wird gar nicht gesagt. Umso wortreicher sein Gebet, mit dem er sich an Gott wendet. „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern..." Und sogleich werden sie ausführlich genannt: die Räuber, Betrüger, Ehebrecher - und eben auch der Zöllner. Das „Ich" des Pharisäers steht dabei an erster Stelle: Ich danke dir, ich bin nicht wie die andern, ich faste zweimal in der Woche, ich  gebe den Zehnten. Ich, ich, ich, ich! Er präsentiert Gott sein rechtschaffenes Leben und kann dabei geradezu aus dem Vollen schöpfen. Im Grunde bleibt hier wenig Spielraum für Gott. Er soll und muss ihn anerkennen.
Ganz anders der Zöllner. Bei ihm wird zunächst die Haltung ausführlich beschrieben: Er steht abseits, etwas am Rand, gleichsam demütig gebeugt, denn er will die Augen nicht zum Himmel aufheben, so heißt es. Er schlägt sich mit der Hand an seine Brust, eigentlich eine Geste des Trauerns, und dann sagt er nur einen Satz: „Gott, sei mir Sünder gnädig." - Hier steht Gott an erster Stelle. Der Zöllner kann nicht aus dem Vollen schöpfen, sondern steht gleichsam mit leeren Händen da und erwartet alles von Gott. Er möge ihm gnädig sein. Unsicher, aber doch voller Vertrauen wendet er sich an Gott. Er möge ihn ansehen und gut zu ihm sein. „Gott sei mir gnädig nach deiner Güte", so formuliert es ein Psalm, auf den hier wohl angespielt wird. Nicht auf sich selbst und sein Leben setzt der Zöllner, sondern darauf, dass Gott es gut meint und sein Leben wieder gut macht. Er braucht nur einen Satz dafür: Gott, sei mir Sünder gnädig.

Das ist die kleine, spannungsvolle, tiefgründige Erzählung. Ein Gleichnis, eine Beispielgeschichte. Die Deutung liefert Jesus gleich mit: „Ich sage euch, dieser" - also der Zöllner - „ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener." Gerechtfertigt. Ein schönes altes Wort. Der Pharisäer hat sich selbst gerechtfertigt: Ich bin rechtschaffen, ich tue das Richtige, ich bin gut. Der Zöller hat alles von Gott erwartet: Gott, mach du es recht, mach du mein Leben gut. Sei mir gnädig nach deiner Güte. So geht er, von Gott angesehen, allein aus Gnade für gut und gerecht befunden, hinab in sein Haus.

(III) Liebe Gemeinde, am liebsten würde ich Sie fragen: Wo ist wohl Ihr Platz in der Geschichte? Wo finden Sie sich am ehesten wieder? In der Rolle des Pharisäers? In der des Zöllners? Oder gar nirgendwo so richtig? Vielen wird die Rolle des Zöllners sympathisch sein. Er hat sein Leben eigentlich verwirkt, aber er bittet Gott demütig um Vergebung. Das ist schon beeindruckend. Und doch ist es auch etwas unangenehm, sich so mit dem Zöllner zu identifizieren. Bin ich denn so einer? So in Schuld verstrickt, so außen vor? Das doch auch nicht. Ich kann mein Leben doch ganz gut verantworten, und wenn mal etwas schief läuft, dann regele ich das schon selber. So werden manche sagen. Der Zöllner - keine nur angenehme Rolle. Sie lässt uns nach unserer Schuld fragen, nach unserem Scheitern. Und die des Pharisäers? In dieser Karikatur des Lukasevangeliums will man nicht wirklich Pharisäer sein, oder? Rechthaberisch und nur auf sich selbst bezogen. Aber wenn ich ehrlich bin, so mögen wieder einige einwenden, bin ich doch oft damit beschäftigt, mich ins rechte Licht zu setzen. Und Fehler geb´ ich gar nicht gern zu. Und es ist doch wirklich so: Diese lauten Jugendlichen an der Haltestelle, die nervende Tante beim Kaffeetrinken, erst recht der skrupellose Bänker - ich mag sie nicht. Bin ich jetzt doch der Pharisäer, der ich gar nicht sein will? Sie merken schon, es ist eine zwiespältige Angelegenheit. Beide Positionen sind ein wenig unangenehm. Und womöglich gibt's noch ein paar sympathische moderne Skeptiker unter uns, die sagen: Spannende Geschichte, gutes Kino, aber nach dem, was ich bisher gehört habe, ist das alles nicht wirklich mein Thema. Ich lebe mein Leben, ich frage auch nach Gott, aber ich stehe nicht jeden Morgen mit der Frage auf, ob ich vor Gott als guter und gerechter Mensch dastehe. „Gott, sei mir Sünder gnädig", das könnte ich nicht einfach so beten. Das ist nicht meine Welt, das ist nicht meine Sprache.

Fangen wir bei der dritten Gruppe an. In der Tat: Die Frage, was unser Leben ausmacht, was uns Menschen leben läst, was uns letztlich trägt, sie wird heute von vielen nicht gleich vor Gott verhandelt. Aber sie wird verhandelt. Vielleicht sogar schärfer noch als in früheren Zeiten.
Bei der Leichtathletik-WM in Berlin gibt es viele starke Sportlerinnen und Sportler, wirklich tolle Typen. Eine sticht in den Medien besonders heraus, die Hochspringerin Ariane Friedrich. Sie wissen schon, das ist die große mit den hellblonden, hoch stehenden Haaren, die immer mit dunkler Sonnenbrille an den Start geht. „Ich bin in der Form meines Lebens - und ich weiß das", sagt sie selbstbewusst in die Kameras. Sie verlässt sich nicht nur ganz auf ihre Fähigkeiten, auf ihre Leistung. Sie zeigt es auch. Sie inszeniert sich selbst. Das darf sie. Es fällt vielleicht deshalb besonders auf, weil das viele von uns ganz gerne selber machen. Zum Beispiel:
Ein Freund von mir hat in seiner Firma zum ersten Mal ein wichtiges Projekt geleitet. Mit 12 Mitarbeitern und einer Millionen Euro. Es wurde ein Erfolg. Jetzt hat man ihm dauerhaft die Leitung einer eigenen Abteilung angeboten. Er ist mächtig stolz. Natürlich wird er jetzt 50-60 Std. arbeiten, aber da ist ja auch die Familie, drei Kinder, das große Haus, das abbezahlt werden will. Er muss das schaffen. Arbeit ist nun mal ein wichtiger Teil seines Lebens. So einen guten Job zu haben, ist nicht selbstverständlich. Ihn zu behalten aber auch nicht. Jetzt hat eine amerikanische Gesellschaft die Mehrheit seiner Firma übernommen. Die neuen Herren machen neue Regeln. Auf einmal ist nichts mehr sicher, auch seine Stelle nicht.
Oder: In den letzten sechs Monaten bekamen wir gleich zweimal Besuch von alten Freundinnen, deren Ehe kriselt. Einmal hat er die Affäre, einmal sie. In beiden Fällen sind Kinder da. Die Eltern stecken in der Midlife-Crisis, der fast schon vorhersehbaren Krise in der Lebensmitte. Dass Beziehungen tragen ein Leben lang, das ist nicht mehr selbstverständlich. Menschen leben Tag ein, Tag aus unter großem Druck. Sie erwarten alles Glück von ihrer Beziehung und ihrer Familie. Wie soll das gelingen? Viele sind überfordert mit dem Glück, das man sich selber machen muss.
Schließlich: Gesundheits-Check beim Internisten. Die Blutwerte sind nicht in Ordnung, der Blutdruck ist schon lange zu hoch. Mehr Bewegung wäre gut und auch eine andere Ernährung. Weniger Fleisch, mehr Obst und Gemüse, Fisch wäre gut. Es gibt „Risikofaktoren", wie es so schön heißt. Soll man doch schon unterstützend zu Medikamenten greifen? Auf die eigene Gesundheit ist kein Verlass mehr, das Leben ist riskant.

Sicherheit im Beruf, gelingende Beziehungen, die eigene Gesundheit, all das trägt das Leben. Aber für all das müssen Menschen heute selbst Verantwortung übernehmen. Lange Zeit mag das gelingen: gesund und fit, das Projekt erfolgreich, die Ehe glücklich, die Kinder stark. Aber manche merken es schon, zu dem Satz „ich bin toll, in der Form meines Lebens" gesellt sich bald ein „ich muss das alles selber schaffen". Was ist, wenn ich scheitere? Wenn andere sagen: Naja, so toll ist das nicht mehr, was du hier ablieferst. Wenn jemand eingestehen muss: Ich schaffe es nicht mehr.
In der Gesellschaft, in der wir leben, muss man so vieles selber schaffen. Menschen müssen sich alle paar Jahre neu erfinden, mobil und flexibel sein, um auf dem Markt mithalten zu können. Mitmachen und gewinnen, lautet die Devise. Das verspricht Erfolg, das verspricht Sicherheit, das verspricht schließlich Leben. Immer mehr Menschen merken, dass sie das am Ende nicht kriegen, so sehr sie sich auch anstrengen. Das erfüllte Leben, ein Leben, das mich trägt, es ist nicht selbst zu machen. Es ist nicht in dem zu finden, was ich selber schaffen kann. Im Gegenteil: es ist riskant, gefährdet, zerbrechlich. Da kann ich noch solange sagen: Ich habe doch das und das und das getan.

Da ist es wirklich anstrengend, anders zu sein, das Leben nicht „machen" zu wollen, sondern auch die eigenen Grenzen zu erkennen, auch das eigene Scheitern anzuerkennen.
Vorstellung der Kandidaten auf der Synode, dem höchsten Kirchenparlament: Der berufliche Werdegang wird erzählt, das kirchliche Engagement und natürlich auch das familiäre Leben: 26 Jahre verheiratet, glücklich, versteht sich, zwei erwachsene Kinder, das Nesthäkchen ist schon 15.  Menschen berichten von scheinbar gelingendem Leben. Einmal nur möchte ich erleben, das ein Kandidat ans Mikrofon tritt und sagt: Mein Name ist Hans Maier, ich war 17 Jahre verheiratet und bin seit zwei Jahren geschieden. Meine älteste Tochter spricht nicht mehr mit mir, sie mag meine neue Lebensgefährtin nicht. Ich arbeite seit 8 Jahren in derselben Abteilung, verdiene mein Geld und freue mich auf den Feierabend. Ich muss nichts mehr werden. Wer weiß, vielleicht hätte dieser Kandidat die Größe, dann auch von seinem Glauben zu erzählen. Davon, dass er womöglich im Gegenüber zu Gott lebt, sich angesehen und geschätzt weiß mit dem, was doch so nach Scheitern aussieht. Dass er versucht, in der neuen Partnerschaft nicht wieder in die alten Verhaltensmuster zurückzufallen. Dass er seinen Kindern ein Vater bleiben will trotz allem Scheitern. Er könnte mir sympathisch werden.

Was mich in der Geschichte vom Zöllner so beeindruckt, ist seine Haltung. Ich sehe hier einen wahrhaft nachdenklichen Menschen. Einen, der aus seinem Leben ausbricht. Einen, der innehält. Er sieht von sich selbst ab und wendet sich Gott zu. Verlässt sein Haus, seine Zollstation, seine Familie und geht in den Tempel, um zu beten. Das erzählt etwas vom Glauben. Wer glaubt, bricht aus aus all den selbst gemachten Sicherheiten, schaut nüchtern auf sich selbst und die Welt und findet in großen Momenten der Einsicht vielleicht wirklich nur noch diese Worte: Gott, sei mir Sünder gnädig.

Der Markt fordert Macher, die auf das nächste Quartal schauen, Angestellte, die sich fit halten für die nächste Herausforderung. Unsere Kirche wünscht sich Menschen, die Vorbilder sind: Arbeiten bis zum Umfallen, die Ehe trotzdem glücklich, die Kinder eine Pracht. Aber der Glaube erfordert Menschen, die von sich selbst absehen. Die offen sind, bereit zu empfangen, etwas entgegen zu nehmen. Und sich dann beschenken lassen. Mit nicht weniger als „Leben". Dann ist der Glaube eine Lebenskraft, die trägt. Was ich brauche, um mit dieser Lebenskraft in Kontakt zu kommen? Manchmal einfach nur eine Auszeit. Wenn ich mich auf Gott verlassen soll, dann nehme ich das gern mal wörtlich: Ich verlasse mich, bzw. das, was mich scheinbar ausmacht. Dann lasse ich alles hinter mir, was sich und mich wichtig macht. Weg vom Schreibtisch, raus aus dem Haus, ein paar Schritte durch den Wald bis zu dieser kleinen Lichtung auf einer Anhöhe. Kein Tempel, aber doch ein spezieller Ort. Manchmal bete ich dann. Und fasse ich wieder Vertrauen ins Leben. Eine Freundin von mir macht etwas anderes. Sie geht jeden Morgen noch vor dem Frühstück raus auf die Terrasse, zieht die Schuhe aus und betritt barfuss den feuchten Rasen. Dann spricht sie immer das gleiche Morgengebet und dankt Gott für nicht mehr und nicht weniger als das Leben, dass sie gesund ist, Körper und Geist noch gebrauchen kann und Kraft findet für den neuen Tag. Und ein Journalist eines Hamburger Nachrichtenmagazins berichtet im Internet, er gehe mittags nicht mehr in die Kantine, sondern gegenüber in die Kirche. Da tanke er wirklich auf, so sagt er.

Sich auf Gott verlassen heißt womöglich „sich verlassen". Der Zöller verlässt sich selbst und ist ganz bei Gott und erst so wieder ganz bei sich. Das will ich auch können. Dann darf ich wieder erleben, dass Gott mich ansieht, mich schätzt und liebt - obwohl er mich kennt. Wer weiß, vielleicht kann ich dann auch die andern neu ansehen. Kann erkennen, dass die Jugendlichen mit ihrer lauten Musik eben keinen anderen Platz haben als den an der Haltestelle, dass sich offenbar niemand so richtig für sie interessiert. Kann womöglich verstehen, dass niemand der nervigen Tante wirklich jemals richtig zugehört hat. Kann mich mal hineinversetzen in den Politiker, der etwas gestalten will, sich vornimmt, etwas Gutes umzusetzen, und dann doch Entscheidungen trifft, die auch Menschen schaden. Und selbst der Investmentbänker müste ja nicht bleiben, der er ist. Vielleicht bekommt er seine eigene Midlife-Crisis und stellt sein Leben auf den Kopf. Sein Verhalten verdient alle Kritik. Aber er als Mensch verdient alle Achtung und nicht Verachtung.

Ich muss sie alle nicht mögen, diese Typen. Aber ich kann mir sagen: Auch den, auf den ich im ersten Moment herabsehe oder den ich doch am liebsten auf den Mond schießen würde - auch den liebt Gott. Unbegreiflich. Aber so wird es sein. Und ich bin so froh, dass Gott auch mich liebt. Unbegreiflich vielleicht für andere und manchmal noch für mich. Aber immer wieder begreife ich es. Wenn ich aussteige aus dem nur selbst gemachten Leben. Mag sein, ich schaffe es nicht, manche Typen auch nur annährend nett zu finden. Aber Gott schafft es. Er will ihr Leben gut machen. Bei mir hat er schon angefangen. Nichts anderes lässt mich leben. Amen.



Dr. Titus Reinmuth
www.titus-reinmuth.de
E-Mail: titus.reinmuth@ekir.de

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