Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 06.09.2009

Predigt zu Lukas 10:25-37, verfasst von Angelika Überrück

Liebe Gemeinde,

Was macht einen Christen zum Christen?

Dass er an Gott und Jesus Christus glaubt, natürlich. Und als nächstes Kennzeichen würde Ihnen und den meisten Menschen wahrscheinlich die Nächstenliebe einfallen. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist eine der Schlüsselstellen in der Bibel, die erklärt, was es mit der Nächstenliebe auf sich hat.

Der Inhalt ist klar und unmittelbar einleuchtend: Sieh dich um und du wirst sehen, wer dein Nächster ist, der deine Hilfe braucht.

Die Aufforderung zur Nächstenliebe hat große Auswirkungen in unsere Gesellschaft hinein. Nicht nur der Arbeiter-Samariter-Bund beruft sich auf diese Geschichte. Wer helfend tätig ist und sozial engagiert, hat bestimmt schon einmal von dem Samariter als Vorbild gehört, egal, ob beim Roten Kreuz, bei der Feuerwehr, in Krankenhäusern, bei Notfalldiensten. Dieses soziale Engagement für Arme und Schwache, für Kranke, für Ausgegrenzte, für Unfallopfer, für Drogenabhängige und viele andere ist notwendig und gehört zum besseren Zusammenleben in unserer Gesellschaft dazu.

Deshalb ist es wichtig, diese Geschichte immer wieder zu hören.  Praktizierte Nächstenliebe ist nichts selbstverständliches.

Denn die Klage darüber, dass die Menschen nur noch für sich selbst leben und völlig egoistisch sind, ist nicht zu überhören. Neulich las ich in einer christlichen Zeitung einen Artikel über die Vereinzelung des Menschen, die mit der Erfindung des Walkmans begonnen hätte. Wenn ich im Zug sitze oder im Wartezimmer eines Arztes, dann sind da viele entweder mit einem MP3 Player im Ohr, dem Handy am Ohr oder einem Laptop vor sich und geben damit deutlich zu verstehen, dass sie ein Gespräch nicht wünschen. Anteilnahme oder einfach ein kurzer Small-Talk sind nicht drin.

Und so durchzieht es unseren Alltag. Vielen ist es egal, was der Nachbar neben sich macht oder wie es ihm geht. Ein Päckchen für den Nachbarn anzunehmen, ist längst nicht mehr selbstverständlich. „Jeder ist sich selbst der Nächste", ist zu einem vielfach gelebten Sprichwort geworden.

Und andererseits kenne ich viele Menschen, gerade auch in unseren Kirchengemeinden, für die der barmherzige Samariter Motivation ihres Handelns ist. Sie kümmern sich um Kranke, machen Besuche, kochen Kaffee, übernehmen Patenschaften, arbeiten in Hospizen mit, sind als Grüne Damen in den Krankenhäusern unterwegs, sind bei den Tafeln engagiert, kümmern sich um Kinder, die kein Mittagessen bekommen, leisten Hausaufgabenhilfe und und und. Es gibt richtige Helfertypen, die immer hilfsbereit sind, immer für den Anderen ein offenes Ohr haben, auf die man sich blind verlassen kann - bewundernswert, aber manchmal hat es auch eine Kehrseite.

Viele strampeln sich ab, hasten und hetzen im Dienst für andere und man fragt sich, wann sie unter der Last des Helfens zusammenbrechen. Sie wollen zu jeder Zeit und an jedem Ort für andere die barmherzigen Samariter sein, ohne an sich zu denken.

Was treibt sie an in ihrem Tun? Was bewegt sie, anderen zu helfen? Nur Jesu Aufforderung aus dieser Geschichte? Vielleicht ist das für die eine oder den anderen so, nach dem alten Pfadfindermotto: „Jeden Tag mindestens eine gute Tat."

Der Wunsch nach Anerkennung und Lob könnte auch ein Grund sein zu helfen. Sie kennen das sicher alle aus der eigenen Erfahrung. Wie schön das Gefühl ist, richtig gehandelt zu haben, jemandem etwas Gutes getan zu haben. Und vielleicht auch noch öffentlich gelobt zu werden.

Und wem die öffentliche Anerkennung versagt bleibt, dem kann es auch schon helfen, dass Jesus ja diese Geschichte erzählt und somit der moderne Samariter sein Lob also irgendwie auch von Gott her bekommt.

Glücklich wirken manche dieser Helfer und guten Geister dennoch oft nicht, eher abgehetzt und manchmal auch frustriert, denn das Problem der Nächstenliebe ist ja, dass man mit ihr nie ans Ende kommt. Ich muss nur einmal durch eine Fußgängerzone gehen. Da sitzen gleich mehrere Menschen, die auf meine Hilfe, mein gutes Herz oder mein schlechtes Gewissen warten. Oder im Fernsehen wird aufgerufen, für Opfer von Katastrophen zu spenden. Menschen, denen ich zum Nächsten werden kann, gibt es mehr als genug. Das Leid ist überall. Man kommt auch mit noch so viel Engagement nicht dagegen an. Trotzdem ist und bleibt es gut, dass es Menschen gibt, die sich das Handeln des barmherzigen Samariters zur Lebensaufgabe gemacht haben.

Ich möchte heute eben diese Menschen, die manchmal frustriert sind in ihrem Tun der Nächstenliebe und das Gefühl haben, nie an ein Ende zu kommen, anregen, auch den Vorspann der Geschichte vom barmherzigen Samariter zu hören. Jesus sagt zu Beginn: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Er sagt nicht: „Liebe deinen Nächsten grenzenlos und bis ans Ende deiner Kräfte."

Wenn wir das Ernst nehmen, dann müsste die Geschichte mehr enthalten als den Ansporn zum sozialen Handeln. Sie müsste uns auch den Blick öffnen für das „Liebe dich selbst".

Aber darf man das denn als aktiver Christ, sich selbst lieben? Für viele Christen ist das eine Art Tabu. Denn das wirkt auf den ersten Blick wie Selbstsucht oder Egoismus. Aber nur wer sich selbst liebt, der kann sich annehmen, der kann auch Grenzen zulassen. Ich kann nur dann für andere da sein, wenn ich auch meine Interessen und mich lieb habe. Wenn ich dafür sorge, dass mein Glaube nicht zu kurz kommt und auch das, was mir wichtig ist.

Ich möchte mir die Geschichte von dem Samariter mit Ihnen noch einmal ansehen, um herauszufinden, ob der Samariter bis an das Ende seiner Kräfte selbstlos Hilfe leistet oder ob er Grenzen setzt und anerkennt.

Der Samariter sieht den Überfallenen. Er überlegt nicht lange, sondern er geht hin und sieht nach, ob und wie er helfen kann. Das unterscheidet sein Handeln zunächst einmal von einem Egoisten. Der würde jetzt wahrscheinlich denken: „O, hier sind Räuber, die könnten mich auch überfallen. Also schnell weg." Und er würde seine Beine in die Hand nehmen und weglaufen. Wer egoistisch denkt, der handelt nur für sich und sein eigenes Wohlergehen. Den rührt so ein Mensch auf der Straße nicht, es sei denn, er könnte daraus einen Vorteil ziehen.

Das also macht der Samariter nicht, sondern er leistet Erste Hilfe. Er gießt Öl und Wein auf die Wunde und verbindet sie. Eine einfache und ganz klare Hilfe, die jede und jeder von uns zu tun sogar gesetzlich verpflichtet ist, wenn wir als Erste an eine Unfallstelle kommen. Deshalb lernen wir Erste Hilfe, wenn wir unseren Führerschein machen und eigentlich sollte man dieses Wissen auch öfter mal auffrischen. Der Samariter tut also zunächst gar nichts Besonderes, sondern das, was man mal eben am Straßenrand machen kann. Er sichert sich nicht erst ab oder überlegt, ob er auch dafür ausgebildet ist. Sondern er leistet Erste Hilfe und macht als nächstes dann etwas, was ihn ebenfalls entlastet. Er holt sich weitere Unterstützung.

Er bringt den Mann dahin, wo ihm weiter geholfen werden kann, nämlich in eine Gaststätte. Wir würden vielleicht heute einen Rettungswagen rufen oder den Verletzten in ein Krankenhaus bringen. Er sagt nicht: „Nun muss ich mich um den Mann kümmern, bis er wieder gesund ist. Ich kann ihn nicht alleine lassen, denn ich habe ihn ja gefunden. Nun bin ich der Einzige, den er hat." Sondern er übergibt den Kranken jemand Anderem, der sich nun um ihn kümmert und für seine Genesung sorgt.

Das ist ein wichtiger Aspekt der Selbstliebe, dass ich erkenne, wo meine Grenzen sind. Manchmal tun wir uns damit schwer, gerade wenn wir engagiert sind. Dann haben wir das Gefühl, die ganze Verantwortung alleine tragen zu müssen. Aber oft gibt es Möglichkeiten, die Verantwortung zu teilen, andere mit einzubeziehen. Da gibt es Spezialisten, die sich auskennen und besser wissen, was zu tun ist. Das muss ja nicht heißen, dass man den Hilfebedürftigen abschiebt.

Das tut auch der Samariter nicht. Sondern er gibt dem Wirt Geld für die Pflege und verspricht, auf der Rückreise den Rest zu bezahlen. D.h. er schiebt den Verletzten nicht ab, sondern er überträgt lediglich die Verantwortung. Auf der Rückreise wird er nachfragen, was aus dem Verletzten geworden ist. Damit ist für ihn die Hilfe abgeschlossen.

Der Samariter zieht seines Weges. Er verschiebt nicht alle anderen Termine und Pläne, die er hat, sondern er nimmt sie nach dieser Unterbrechung wahr. Der Samariter gründet auch keine Hilfsorganisation, die sich um Überfallene kümmert, oder eine Bürgerinitiative gegen Räuberüberfälle. Er beendet seine Hilfe hier. Das, was er tun konnte, hat er getan. Er hat sich in einer Notsituation um einen Menschen gekümmert, wichtige und gute Hilfe geleistet, soweit es seine Möglichkeiten zuließen.

Wenn wir diese Geschichte so lesen, dann kann sie für die engagierten Helfer und in unseren Gemeinden unermüdlich Tätigen auch zur Entlastung werden. Denn dann heißt das: Jesus erzählt diese Geschichte nicht nur als Ansporn für mein Handeln, sondern auch als Entlastung. Denn sie macht deutlich: Ich darf Grenzen setzen. Ich muss nicht bis zum Umfallen für andere da sein. Ich darf auch für mich sorgen. Nächstenliebe und Selbstliebe bedingen sich.

Und ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass diejenigen, die es schaffen, auch mal ihre Grenzen und Belastungen zu sehen und zuzulassen, viel fröhlichere Helfer sind und viel mehr bewirken.

Amen



Pastorin Dr. Angelika Überrück
Unna
E-Mail: RUeberrueck@t-online.de

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