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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 06.09.2009

Predigt zu Lukas 10:23-37, verfasst von Margrethe Dahlerup Koch

"Was ist Christentum?" "Das Gebot der Nächstenliebe", lautet die Antwort oft. Und sie ist auf der einen Seite nicht falsch. Aber sie ist auf der anderen Seite auch nicht richtig. Das Gebot der Nächstenliebe ist, so wie wir es heute im Evangelium hören, kein Gebot, auf das das Christentum Patent hätte. Es ist der gesetzeskundige, rechtgläubige Jude, der das Gebot "du sollst Gott und deinen Nächsten lieben wie dich selbst" als das allerwichtigste bezeichnet - im Judentum. Ein Moslem oder ein Buddhist würde etwas Ähnliches sagen können. Es zeugt von grober religionsgeschichtlicher Verfälschung, wenn wir Christen uns einbilden, wir hätten das Gebot der Nächstenliebe "erfunden". Dies Gebot ist etwas so Modernes wie ein multireligiöses Gebot. Die abendländische, christliche Zivilisation ist ja nicht die einzige, die Krankenhäuser, Pflegeheime, Fürsorge oder andere Institutionen der Nächstenliebe hat. Eine der fünf Säulen des Islam ist ja gerade, dass man den Armen Almosen geben soll. Buddhistische Mönche haben Krankenhäuser betrieben, die für alle da waren, schon lange bevor es in unserem Teil der Welt ein öffentliches Krankenhauswesen gab.

            Insofern könnte also das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ohne Weiteres ein buddhistisches oder moslemisches Gleichnis sein. Ja, es könnte sogar von einem Atheisten erzählt sein. Denn die Moral in dem Gleichnis: Dass man an dem, der Hilfe braucht, nicht vorbeigehen darf - diese Moral wird kaum jemand für falsch halten.

            Und deshalb ist es sehr wichtig, die Einleitung zu dem Gleichnis zu beachten. Denn sie macht das Gleichnis zu mehr als einer selbstverständlichen und hübschen Geschichte, die von Hilfsbereitschaft handelt. "Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht," sagt Jesus zu den Jüngern. "Viel Könige und Propheten wollten sehen und hören, was ihr seht und hört. Aber sie haben es weder gesehen noch gehört."

            Jesus verweist also auf sich selbst und auf das, was er sagt und tut, und dann sagt er, dass es das ist, worauf  Menschen Jahrtausende lang gewartet haben, und dass es das ist, was niemals zuvor gehört oder gesehen worden ist.  Er ist derjenige, auf den die Menschen Jahrtausende lang gewartet haben. Und was er sagt und tut, hat niemand zuvor gehört oder gesehen. Er ist die Mitte und der Wendepunkt der Geschichte. Und es gehört schon etwas dazu, sich selbst so zu nennen.

            Da kann es nicht wundernehmen, dass einer der Gesetzeskundigen, der religiösen und politischen Sachverständigen, sich nicht enthalten kann, ihn ein wenig auf Normalmaß zu bringen. Offen gestanden, was ist an dem, was er sagt, schon so entscheidend neu? Zunächst einmal also gar nichts. Dass das Gebot "du sollst Gott und deinen Nächsten lieben wie dich selbst" das allererste und wichtigste Gebot im Gesetz ist, darüber können sich der Gesetzeskundige und Jesus nur einig sein. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Man hat es schon früher gehört und gesehen.

            Das Gebot der Nächstenliebe ist nicht das Neue. Das Neue ist, dass Jesus auf sich selbst hinweist und mit dem Gleichnis nicht einfach eine moralische Erzählung erzählt, wie Menschen miteinander leben sollen. Nein, er erzählt auch eine völlig neue Erzählung darüber, wie Gott mit und neben den Menschen lebt.

            Denn dass Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt nicht nur, was "ich" tun soll - "ich", der Gesetzeskundige, der fragte, und wir, die wir das Gespräch zwischen ihm und Jesus mit anhören. Das Gleichnis erzählt auch und vor allem, was für "mich" - für den Gesetzeskundigen und uns - getan worden ist. Das Gleichnis erzählt von Jesus. Es erzählt davon, was er Neues, nicht zuvor Gesehenes und Gehörtes tat.

            Denn der Samariter, der das tat, was niemand sonst in dem Gleichnis hat tun wollen oder gewagt hat, gleicht nicht uns, sondern dem, der das Gleichnis erzählte. Der Nächste des Überfallenen gleicht Jesus. Dem, der behauptet, dass Gott wie er ist. Der Samariter gleicht mit anderen Worten Gott selbst, verkündet Jesus. Und das ist das Neue, nie zuvor Gehörte und Gesehene. Dass Gott, aller Dinge Grund, derjenige, der vor allem und nach allem ist - dass Gott wie der Samariter im Gleichnis ist und wie der Zimmermannssohn Jesus.

            Der Samariter gab dem Überfallenen seine Habe, sein Reittier und seine Denare, und am Ende das vielleicht Wichtigste: Er gab ihm seine Zeit - er war auf seiner Reise um des Anderen willen um einen Tag verspätet. Mit seinen Taten gab der Samariter dem halbtoten, überfallenen Mann sein Leben wieder.

            Sein Eigenes geben. Seine eigene Zeit geben. Leben geben und Freude und Mut für den, der nichts davon hat. Das gleicht dem, was Jesus tat. Und jedesmal, wenn ein anderer Mensch uns das Leben wiedergibt in Gestalt neuen Mutes, neuer Gesundheit, neuer Möglichkeiten, seien sie finanzieller, sozialer oder menschlicher Art, dann gleicht das dem, was Jesus tat. Dann geschieht Gottes Wille auf Erden wie im Himmel.

            Ein Mann lag halbtot in einem Graben auf dem Wege zwischen Jerusalem und Jericho. Dem halbtoten Mann gleichen wir - vielleicht sogar öfter als, wir zugeben möchten - wenn sich das Leben für uns verschlossen hat; wenn die Möglichkeiten erschöpft scheinen; wenn die Routine das kleine Bisschen Begeisterung zunichte gemacht hat und wir vergessen haben, was uns einst vor Eifer und Engagement hat glühen lassen. So wie man oft vergisst, worum es überhaupt geht, wenn man sich dort im Graben befindet, auf Abwege geraten und überholt worden ist.

            Ein Fremder, ein Samariter oder ein Heimatloser, psychisch krank und mit schlechtem Körpergeruch, kam vorbei, war sein Nächster und gab ihm sein Leben wieder. Der Fremde gleicht Jesus. Der Nächste gleicht Gott.

            Und wie der Überfallene im Graben so leben wir, wenn es darauf ankommt, nicht von dem, was wir selbst tun können, sondern von dem, was Andere tun wollen, was Andere uns nachsehen und für uns opfern wollen. Vielleicht sind es diejenigen, die wir lieben und ordentlich behandelt haben, die uns die Hilfe und Fürsorge geben, von denen wir leben. Vielleicht geraten wir in Situationen wie die des Überfallenen im Gleichnis, wo diejenigen, von denen wir Hilfe und Fürsorge empfangen müssen, Menschen sind, die wir nicht ordentlich behandelt haben, weil wir im Alltag an ihnen vorbeisehen, wie man zur Zeit Jesu an den Samaritern vorbeisah.

            Der verachtete Samariter, der Nächste des Mannes, gleicht Jesus. Ihm, der nicht an dem Graben vorbeiging - an dem dunklen Loch des Grabes - sondern in das Grab ging. Und von dort, aus der Finsternis des Grabes, wieder auferstanden ist, damit wir dasselbe tun.

            "Was ist Christentum?" Es ist unaufgebbar dies, dass Gott unsere Sache zu der seinen gemacht hat. Gott hat von sich hören lassen. Gott trat an unsere Stelle und wurde ein Mensch.

            Das ist der Kern des Christentums und nicht das Gebot der Nächstenliebe, wie wichtig es auch immer sein mag.

             Dies ist das Neue, das nie zuvor Gehörte und Gesehene, das Jesus verkündet, zeigt und selbst ist.

            In Jesus zeigte Gott sich als unser Nächster. Von ihm leben wir. Und ihm sollen wir in einander begegnen und ihn wiedererkennen. Amen.



Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
Tim (Dänemark)
E-Mail: mdk(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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