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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 13.09.2009

Predigt zu Lukas 17:11-19, verfasst von Birgit Weyel

Liebe Gemeinde,

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.
Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Was für ein Glück! Gesund zu sein. Endlich wieder zurückkehren zu dürfen zu den Freunden, zur Familie, wieder einer von ihnen zu sein, mitten im Leben zu stehen und nicht länger aus der Gemeinschaft ausgesetzt zu sein, durch die Sorge vor einer Ansteckung der anderen, durch die Zeichen der Krankheit im Gesicht, den Schmerz, die Angst, auch noch das Leben zu verlieren, durch das Mitleid der anderen. Was für ein Glück! Nach Monaten und Jahren der andauernden Krankheit, wieder gesund zu sein. Vom Aussatz geheilt zu sein. Alle zehn ehemaligen Aussätzigen sind überglücklich. Immer wieder streichen sie sich über die gesunde Haut, suchen ihr eigenes Spiegelbild bei jeder Gelegenheit - in der glatten Oberfläche des Wassers und in den erstaunten Augen der anderen. Wirklich geheilt! Und sie werden sicher alle voll Dankbarkeit an Jesus zurückgedacht haben, ihren Arzt, den Wunderheiler, den sie hoffnungsvoll angerufen haben und der sich ihrer erbarmt und sie geheilt hat.

Und doch gibt es einen Unterschied. Und auf diesen Unterschied zwischen den neun und dem Einen kommt es wesentlich an. Die Frage Jesu zielt auf uns, die Hörer dieser Erzählung: „Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?"

Wie es mit den neun weitergegangen ist, darüber erfahren wir nichts. Ihnen einen Mangel an Dankbarkeit zu unterstellen wäre bloße Spekulation. Warum sollten sie nicht dankbar von ihrer Heilung durch Jesus erzählt haben? Warum sollten sie nicht die wieder gewonnene glückliche Routine des Alltags immer wieder einmal unterbrechen, um sich an ihre wunderbare Rettung zu erinnern?

Ebenso wenig erfahren wir über ihre innere Einstellung zu Jesus, als sie sich bittend an ihn wenden. Zu Beginn der Erzählung wird kein Unterschied gemacht. Die zehn Aussätzigen sprechen von Ferne, das gebietet die hygienische Vorschrift, und sie rufen mit einer Stimme: „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser." Wie groß ihr Vertrauen, ihre Hoffnung, ihre Zuversicht im Einzelnen gewesen sein mag, darauf kommt es gar nicht an. Sie werden nicht auf ihren Glauben hin geprüft, sondern einzig und allein auf ihren bittenden Ruf hin geheilt - ohne Unterschied. Ihr Ruf, „erbarme dich unser", erinnerte den zeitgenössischen jüdischen Hörer an die Sprache der Klagepsalmen, in denen Gott mit der Bitte um Hilfe angerufen wird. Die Anrede der zehn „lieber Meister" ist bei Lukas sonst nur aus dem Mund der Jünger zu hören. ‚Meister‘ ist ein Ehrentitel. Aber auch dann, wenn er von den Jüngern verwendet wird, bleibt in der Schwebe, ob sie denn erkannt haben, wer Jesus wirklich ist. Dass sie es mit Gott zu tun haben.

Die Erzählung aber lässt keinen Zweifel offen: In der Person Jesu wendet sich Gott selbst den Menschen zu. Die zehn Aussätzigen begegnen in Jesus nicht etwa einem begabten Arzt, einem Wunderheiler oder einem menschenfreundlichen Therapeuten, sondern sie begegnen dem allmächtigen Gott, dem Schöpfer allen Lebens, der nicht in der Ferne thront, sondern sich der kranken und leidenden Menschen annimmt.

Das hat allein der eine erkannt, der umkehrt, um vor Jesus niederzufallen, und in dieser Geste der Anbetung Gott die Ehre zu geben. Darin liegt der Unterschied zu den neun. Nicht dass sie etwa undankbar waren oder geschäftig zur Tagesordnung übergegangen wären. Das priesterliche Ritual, mit dem sie wieder in die Religionsgemeinschaft aufgenommen werden konnten, wird gewiss auch Raum für den Dank gelassen haben. Gott sei Dank!

Aber die neun haben nicht verstanden, dass sie in Jesus Gott begegnet sind. Das hat allein der Samaritaner erkannt und darum fällt er vor Jesus auf sein Angesicht. „Und Jesus sprach zu ihm: Steh auf, geh hin, dein Glaube hat dir geholfen!"

Alle zehn sind gesund geworden, aber nur der Eine, und zwar ausgerechnet derjenige, der außerhalb der jüdischen Religionsgemeinschaft stand, ein Samaritaner, ein Ungläubiger, hat begriffen, dass er Gott begegnet ist, dass Gott sein Arzt war. Das ist der Glaube, der ihm geholfen hat.

Dein Glaube hat Dir geholfen - der Samaritaner hat in der Heilung das Heil erkannt. Gesund geworden sind auch die anderen, aber die tatsächliche spirituelle Dimension dieser Heilung hat nur der Samaritaner erfasst.

Gesundheit, Krankheit und Glaube stehen in einem engen Zusammenhang. Die Medizin hat sich sehr viel weiter entwickelt und der Priester ist nicht mehr dafür zuständig ist, die Gesundheit festzustellen. Aber viel mehr hat sich nicht geändert.  Auch heute noch werden Kranke aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, selbst dann wenn keine Ansteckungsgefahr besteht, weil ihre Krankheit Angst und Unsicherheit auslöst. „Wie schrecklich!" „Was soll ich bloß sagen?" „Was würde ich tun, wenn mir die Diagnose gestellt würde?" „Besser nicht dran denken." So die Gesunden, verzweifelt um Normalität bemüht, tragen sie mit dazu bei, dass der Kranke in die Ferne rückt wie ein Aussätziger.

Viele Menschen, die ernsthaft erkrankt sind, sagen, dass sich ihr Leben durch die Krankheit völlig verändert hat. Alles hat sich geändert. Nichts ist mehr wie es war. Und wenn man nachfragt, was sich denn geändert hat, dann sprechen sie von einem Verlust an Selbstverständlichkeit: der Selbstverständlichkeit, gesund zu sein, frei von Krankheit zu sein. Und manche sprechen in diesem Zusammenhang von einem großen Gewinn, nämlich einer neuen Wertschätzung für das Leben, für jeden neuen Morgen, das Glück eines jeden Atemzugs, das warme Sonnenlicht auf der Haut, das Geschenk des Augenblicks, und davon, dass sie einen besseren Blick gewonnen haben für das, was im Leben wirklich wichtig ist.

Krankheit bedeutet leiden und es wäre falsch, das Leiden drehen und wenden zu wollen, ihm - zumal aus der Perspektive des Gesunden - eine positive Seite abgewinnen zu wollen. Das wäre zynisch! Aber es gelingt manchem Kranken, in der Auseinandersetzung mit seiner Krankheit, eine Dankbarkeit für das geschenkte Leben zu entwickeln, die kostbar ist und von denen sich auch andere anrühren lassen. „Ich schaue aus dem Fenster und staune, als hätte ich noch nie Sonne und Wolken gesehen." So beschreibt es Christoph Schlingensief in dem Tagebuch seiner Krebserkrankung.

Krankheit bedeutet aber immer auch tiefe Angst und Verzweiflung, das kalte Wissen um das, was unwiederbringlich vorbei ist. Die Bilanz des Verlorenen: „Das geht nun alles nicht mehr." Krankheit ist daher auch immer mehr als nur die Abwesenheit von Gesundheit. Sie ist ein Symbol für den Tod. Walter Benjamin sagt: „Es gibt für den Menschen nur eine radikale Neuigkeit - und das ist immer die gleiche: der Tod." Das ist die immer gleiche, die radikale Neuigkeit, die uns in der Krankheit schreckt, der eigenen und in der des anderen.

Was aber kann das heißen: Dein Glaube hat Dir geholfen? Gesund geworden sind ja auch die anderen. Und was ist mit den Menschen jenseits des Predigttextes, die nicht gesund werden? Was ist mit uns, die wir sterben müssen? Und sei es irgendwann in ferner Zukunft.

Die Erzählung von den zehn Aussätzigen zeigt, dass Gesundheit unverfügbar ist. Wir können sie nicht machen. Sie ist ein Geschenk, nichts Selbstverständliches, das uns zustünde. Ärzte und Mediziner engagieren sich für das Leben, und wir können unsere Gesundheit zu pflegen versuchen, aber es gibt keinen Automatismus. Das Leben wird uns geschenkt - und zwar nicht nur einmal, als würde es in unseren Besitz wechseln, vielmehr jeden Moment, auch in diesem Augenblick, jetzt, aufs Neue.

Die Erzählung von den zehn Geheilten legt uns nahe, dass Gott für alle Menschen das Leben will. Er offenbart sich in Jesus als ein heilender Gott, der sich denen, die Hilfe brauchen und ihn darum bitten, wirkliche Hilfe schenkt. Allen zehn, ohne ihre innere Haltung zu prüfen,  ihren Glauben zu evaluieren.

Die Erzählung von dem einen, dem Samaritaner, der zu Jesus umkehrt, führt uns vor Augen daher, dass Glaube mehr ist als nur Freude über eine wiedergewonnene Gesundheit. Ihm ist nicht nur die Heilung, sondern auch das Heil geschenkt, weil er erkannt hat, dass ihm in Jesus Gott begegnet ist. Sein Leben hat sich geändert. Nichts ist mehr wie es vorher war. Seine Freude gründet in der Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens.

Das Leben, das Gott schenkt, bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit für die Dauer einer durchschnittlichen Lebensspanne. Was sich wie eine beiläufige Reisenotiz liest, der Hinweis auf Jerusalem, er deutet daraufhin hin, dass vor Jesus nicht nur menschliches Leiden, sondern auch der Tod liegt, den er in Solidarität mit seinen Geschöpfen auf sich nimmt, um uns die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zu eröffnen.

„Steh auf, geh hin, dein Glaube hat dir geholfen." Von den zehn Aussätzigen können wir lernen, unser Leiden vor Gott zu bringen. Wie wir sie zum Ausdruck bringen, in liturgisch geprägter Sprache, wenn wir bitten „Herr, erbarme dich", oder in einem stummen Seufzer, das spielt keine Rolle. Die Klage ist Ausdruck des Glaubens, dass wir von Gott Hilfe erwarten dürfen. Von dem Samaritaner können wir lernen, dass der Dank die angemessene Haltung gegenüber unserem Schöpfer ist. Nicht weil wir ihn schuldig wären, wie ein Pensum, das man zu erbringen hätte, sondern weil er unser Lebensgefühl prägt. Auch gegenüber dem Nächsten, dem kranken Nachbarn, mit dem wir in der Solidarität der Geschöpfe leben, die ihr Leben Gott verdanken. Gesundheit ist keine Leistung, die wir uns zurechnen könnten.

Am Ende der Erzählung stehen sich beide in einer Szene gegenüber, die den Himmel offen zeigt. Irgendwo auf dem Weg nach Jerusalem, im Staub, am Wegesrand und die Jünger stehen staunend daneben: Der allmächtige Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, der Schöpfer allen Lebens und der sterbliche Mensch, der das Leben aus Gottes Hand voll Dankbarkeit entgegennimmt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen



Prof. Dr. Birgit Weyel
Lehrstuhl für Praktische Theologie, Tübingen
E-Mail: birgit.weyel@uni-tuebingen.de

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