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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

15. Sonntag nach Trinitatis, 20.09.2009

Predigt zu Matthäus 6:25-34, verfasst von Christoph Ernst

Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?

Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?

Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich darum auch sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?

Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

 

Der Wunschtraum - „ach wenn es doch nur so wäre"

Liebe Gemeinde,

zu Beginn unseres Gottesdienstes haben wir den 127. Psalm zusammen gesprochen. Es ist einer meiner liebsten Psalmen, weil er doch eine wichtige Grundwahrheit über das menschliche Leben enthält: Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. (...) Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und esst euer Brot mit Sorgen, denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf...

Dieser Psalm wurde meiner Frau und mir so lieb, dass wir ihn uns seinerzeit als Text für unsere Trauung und damit wohl auch ein bisschen als ein Lebensmotto auswählten. Schließlich wäre es doch zu schön, wenn man sich so gelassen wie der Psalmist zurücklehnen könnte und sich Glück und Lebenssinn dann über Nacht und von selbst einstellten. Ist es nur ein Wunschtraum am Anfang eines gemeinsamen Lebensweges?

Der gute Freund, der die Predigt bei unserer Trauung hielt, holte uns gleich zu Beginn seiner Rede auf den Boden der Realität zurück: „Wenn der Herr nicht das Haus baut...? - Nun, wenn ihr schon am Anfang eures gemeinsamen Weges so an die Sache herangeht, dann werdet ihr nie zu einem eigenen Haus kommen...!"

 

Das Dilemma

Liebe Gemeinde, ob im 127. Psalm oder auch im Predigttext für diesen Tag - sehr deutlich tritt das Dilemma zutage, in das die Bibel den gläubigen Menschen, der also in seinem Leben ganz und gar auf Gott vertrauen möchte, drängt.

Denn: Auf der einen Seite werden wir hier nachdrücklich ermahnt, uns dem kindlichen Vertrauen auf Gott als dem himmlisch für uns sorgenden Vater zu ergeben und darüber all unser irdisches Sorgen zu vergessen. Und das lesen oder hören wir (wie ich finde: unnötigerweise) mit einem pädagogisch-belehrenden Unterton, der uns unser eigenes, alltägliches Sorgen und Handeln als geradezu beschämend kleingläubig vor Augen führt.

Auf der anderen Seite wissen wir aber nur allzu gut, dass wir, ob wir wollen oder nicht, so großgläubig-sorgenfrei gar nicht leben können, weil das Sorgen mit all seinen Schattierungen zum menschlichen Leben schlechterdings dazugehört. Alle Menschen sorgen, und alle Menschen sorgen sich. Folgen wir dem Philosophen Martin Heidegger, dann ist es gar allererst die Sorge, die uns Menschen unser Dasein vergegenwärtigt, die uns unser Leben bewusst macht. In der Konsequenz hieße „Nicht-Sorgen" dann nur, dass wir nicht bewusst leben.

Wer, gar von der Kanzel herab, behauptet, wir Menschen könnten allein durch kindliches Gottvertrauen und den Glauben an den für uns sorgenden Vater-Gott ein sorgenfreies Leben führen, begibt sich in eine doppelte Gefahr: entweder nehmen wir ihn, wenn er denn wirklich so glaubt, nicht ernst. Oder wir werden ein fragwürdiges Moralisieren unterstellen, das uns einen Lebensstil zumuten will, den in Wahrheit niemand pflegt und der wohl auch nicht gut für uns wäre.

 

Menschliche Sorge und Vorsorge

Alle Menschen sorgen, und alle Menschen sorgen sich. Die größte Sorge der Deutschen, wenn man einer Umfrage von McKinsey aus dem Jahr 2005 glauben will, ist die Sorge, dass sich ihre finanzielle Situation verschlechtern könnte. Von dieser Sorge waren immerhin 60 Prozent der Befragten betroffen, und nur 12 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich um ihre finanzielle Zukunft keine Sorgen machen. Diese Zahlen dürften sich seither wohl kaum zugunsten der Sorgenfreien gebessert haben.

Ähnlich massiv ausgeprägt war vor vier Jahren, nach dieser Umfrage bei 58 Prozent der Deutschen, die Sorge darum, im Alter für Lebensunterhalt und Gesundheitskosten nicht mehr aufkommen zu können. Und nur 15 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen diese Frage keinerlei Sorgen verursache.*

Liebe Gemeinde, ganz alltägliches Sich-Sorgen, das niemandem von uns fremd ist. Und selbst wenn wir zu den sorgenfreien 12 oder 15 Prozent derer gehören sollten, die gerade diese Sorgen nicht haben, so könnten wir hier mit leichter Hand von unseren eigenen Sorgen erzählen: etwa dass die Kinder uns Sorgen machen, weil sie nicht das geworden sind, was wir erwartet, oder sie unserer Meinung nach den falschen Partner geheiratet haben. Oder dass die Einsamkeit unser Leben als nicht mehr lebenswert erscheinen lässt. Oder dass es mit der Karriere nicht so weitergeht, wie ich es mir vorgestellt habe. Oder dass der gelegentliche Schmerz in der Magengegend mehr sein könnte als nur eine Reaktion des Körpers auf die augenblickliche Arbeitsbelastung. - Nicht zuletzt könnten wir in stiller Stunde unsere Sorge preisgeben, irgendwann Abschied für immer nehmen zu müssen und dann noch nicht gehen zu wollen.

Um all diese Sorgen, die wir uns machen, abzumildern, treffen wir Vorsorge. Es beginnt bei den Vorsorgeuntersuchungen, bevor wir geboren werden. Und die Vorsorge endet noch nicht mit dem Tod, sondern erst ein wenig später, bei der Bestattung, für die wir ja auch Vorsorge treffen, damit für alles gesorgt ist. In den Jahrzehnten dazwischen legen wir uns vorsorglich etwas auf die Hohe Kante. Oder, wenn es gut geht, versuchen wir, zu einer Eigentumswohnung oder einem Haus zu kommen, um für das Alter vorgesorgt zu haben. Selbstverständlich gehen wir zu Krebs-Vorsorgeuntersuchungen, um mögliche Tumoren rechtzeitig diagnostizieren und unserer Lebensspanne hoffentlich doch noch ein paar Jahre hinzu setzen zu können. Und vorsorglich versichern wir unser Leben (bzw. unseren Tod).

Wir Menschen sind fest eingewoben in das Netz einer ganzen Vorsorge-Industrie, die sich unserer ganz natürlichen Sorgen annimmt und sie mit Gewinn zu versorgen, d.h. irgendwie weg zu besorgen verspricht. Auch als Seelsorger ist man davon nicht ausgenommen, sondern kümmert sich, also: sorgt sich um die Sorgen anderer Menschen - wenn auch, von ein paar unrühmlichen Ausnahmen einmal abgesehen, nicht mit allzu großem wirtschaftlichen Gewinn.

Das Sorgen und Vorsorgen gehört zu uns Menschen wie das Essen und Trinken, wie das Schlafen und Wachen. Unser Sorgen macht uns allererst bewusst, dass wir leben.

Doch in all unser Sorgen und Vorsorgen hinein sagt nun Jesus, der Seelsorger und Lehrer: Sorgt nicht! - Liebe Gemeinde, das kann eigentlich nicht ganz ernst, jedenfalls nicht wörtlich gemeint sein. Denn die bloße Aufforderung zum Nicht-Sorgen macht doch die natürliche menschliche Sorge nicht schon hinfällig, sondern führt uns, auf Gott vertrauende Menschen, erst in das beschriebene Dilemma. Oder in eine Paradoxie: wir wissen, dass wir weder spontan noch fröhlich sein können, wenn wir dazu aufgefordert werden. Wir werden auch nichts vergessen, wenn es uns befohlen wird. So konnten sich auch die Jünger Jesu nicht plötzlich nicht mehr sorgen, als Jesus das von ihnen verlangt. Vielmehr bürdet Jesus ihnen damit paradoxerweise noch eine zusätzliche Sorge auf, die da heißt: Sorgt euch nicht!

 

Die Sehnsucht

Wir Menschen bleiben an unser Menschsein gebunden. Es gibt Dinge, die wir nicht ändern können. Und aller Aufforderung zum Trotz werden wir uns weiterhin sorgen.

Dennoch: zu unserem Menschsein gehört auch das andere: die Sehnsucht. Wer sehnte sich nicht danach, den alltäglichen Lauf der Dinge zu durchbrechen, etwas hinter sich zu lassen oder gar ein paar Sorgen abzuschütteln? Wer wünschte sich nicht, dass es mit unserem Leben anders, also besser sei, als es ist? Wer träumte nicht ab und zu davon, dass einem diese oder jene Sorge einfach auch mal abgenommen wäre?

Wenn mein Blick in unserer Buchhandlung über die langen Meter an Lebenshilfe- und Ratgeber-Literatur streift, dann bekomme ich eine leise Ahnung davon, wie viel ernsthafte Sorgen es tatsächlich geben muss. Aber mehr noch: wie viel Sehnsucht es unter uns gibt, die eigenen Sorgen unter Kontrolle zu halten und sie auch einmal nicht über mich herrschen und mich lähmen zu sehen. Nur zwei Beispiele:

Mein persönlicher „Ratgeber-Favorit" ist das schöne deutsche Buch „Simplify your life!" - Unter Anleitung eines Pfarrers und eines Unternehmensberaters „lerne" ich hier in verschiedenen, aufeinander aufbauenden Stufen, dass Weniger Mehr ist und sich an einem aufgeräumten Schreibtisch mehr Kreativität entfalten lässt als zwischen aufgetürmten Papierstapeln. Der Autor, Werner Küstenmacher, schlägt viele kleine und mitunter witzige Schneisen in den Dschungel des Alltags, auf dass wir, die Leser, endlich weniger Sorgen und mehr Übersicht hätten.

Oder nehmen Sie den amerikanischen Klassiker der Ratgeberliteratur, schon aus dem Jahr 1948, der in 17 Sprachen übersetzt und in Deutschland fast drei Millionen Male verkauft wurde. Seit Jahrzehnten steht: „Sorge nicht, lebe!" von Dale Carnegie auf den Bestsellerlisten dieser Welt. - Ja, die Sehnsucht nach einem sorgenarmen oder sorgenfreien Leben hat Hochkonjunktur!

Es ist bei uns, Gott sei Dank, zumeist nicht die Sorge um ausreichend Essen oder Trinken, die uns zu Boden drückt. Uns quälen allzu häufig luxuriösere Sorgen, z.B. der richtige Umgang mit dem alltäglichen Überfluss, der ständige Entscheidungszwang zwischen verschiedenen Lebensmöglichkeiten, oder die Jagd auf Sonderangebote, die wir am Ende vielleicht gar nicht brauchen. Diese luxuriösen Sorgen überschatten allzu schnell die ohnehin schon vorhandenen Sorgen um Gesundheit, Familienglück und gelingendes Leben.

 

Die Befreiung

Liebe Gemeinde, ich glaube, deshalb trifft unser Predigttext mit der paradoxen Aufforderung Jesu an seine Jünger „Sorgt euch nicht um euer Leben" genau auch auf unsere Zeit zu: ich spüre die Sehnsucht, die Jesus in mir weckt - „ach wenn es doch nur so wäre und ich weniger sorgen müsste!" Ich spüre zugleich mein Unvermögen, nicht zu sorgen. (Und im Stillen fühle ich mich auch ein bisschen verletzt, weil ich Jesu Vorwurf der „heidnischen" Sorge auf mich beziehe.) Ich sehe das Sorgen-Netz um mich herum, in das ich wie ein Gefangener hineingezwängt bin und das so unentrinnbar scheint.

Doch wieder und wieder lese ich den Text durch: „Sorgt nicht um euer Leben!" - also doch: „Sorge nicht, lebe?" oder: „Simplify your life?"

Es muss noch etwas anderes sein. Je länger ich den Bibelabschnitt lese, je mehr ich mich auf das Naiv-Fremde dieser paradoxen Zumutung des „Sorgt nicht!" einlasse, desto mehr fällt, wunderbarerweise, etwas von meiner Alltagslast ab. Ruhe kehrt ein, Nachdenken, Gelassenheit, Trost. Schließlich bleibe ich immer wieder am letzten Vers, besonders am letzten Satz hängen: Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

Liebe Gemeinde, und plötzlich merke ich es wieder: Es stimmt doch! Der morgige Tag wird auch ohne mein heutiges Sorgen seine eigene Plage haben. Heute muss ich mich darum vielleicht noch nicht kümmern, sondern kann diese Sorge getrost zur Seite schieben und Gott überlassen. Manches erledigt sich bis morgen vielleicht sogar von selbst. Und bevor der neue Tag anbricht, wird - so hoffe und bete ich - eine gute Nacht kommen, nach der ich dann dankbar aufstehen und sagen möchte: seinen Freunden gibt er es im Schlaf.

Amen

 

Lied nach der Predigt: EG 352, Alles ist an Gottes Segen

 

* Zahlen zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Sorge (zuletzt nachgeschlagen am 14. September 2009)

Literatur:
Predigtstudien 2002/03 Bd. 2, 168-179.
Göttinger Predigtmeditationen 63/2009, 423-428.



Pastor Christoph Ernst
Ottawa
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E-Mail: ernst.worldwide(at)gmail.com

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