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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis / Erntedank, 04.10.2009

Predigt zu Matthäus 15:21-28, verfasst von Wolfgang Winter

Glaubenskampf

  

Und als Jesus von dort (Genezareth) hinausging, zog er sich zurück in die Gegend von Tyros und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau aus jenem (scil. heidnischen)Gebiet kam heraus, schrie und sagte: Erbarm dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist von Dämonen besessen!  Er aber antwortete ihr kein Wort.  Und seine Jünger traten herzu, baten ihn und sagten: Schick sie weg, denn sie schreit hinter uns her!  Er aber antwortete und sagte: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt!  Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!  Er aber antwortete und sagte:  Es ist nicht gut, das Brot der Kinder wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen!  Sie aber sagte: Gewiss, Herr! Und doch fressen ja die Hunde die Brocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen!  Da antwortete Jesus und sagte ihr: Frau, dein Glaube ist groß! Es geschehe dir, wie du willst! Und ihre Tochter wurde von jener Stunde an gesund.

 

Liebe Gemeinde,

Glaube ist keine  Angelegenheit eines Ein-Für-Allemal-Wissens, Glauben muss erlernt werden, nach und nach und immer wieder neu. Glaube ist ein lebenslanger Lern- und Erfahrungsprozess, mit dem wir wohl nie zu Ende kommen. Oder doch?

Ich meine: Nein. Denn das fraglose Gottvertrauen und die Geborgenheit zu Zeiten und die Sicherheit von Augenblicken oder ganzen Lebensabschnitten, in denen uns ganz  klar und deutlich und einleuchtend ist, dass wir  sagen können:  Ja, das ist wahr, im Glauben an Jesus Christus erfahre ich die Liebe und die Freiheit, von der ich und alle Menschen leben  -  diese Geborgenheit und Sicherheit geht uns so oft und immer wieder verloren, wenn unsere guten Lebenserfahrungen durch schlimme und böse infrage gestellt werden. Dann erfahren und erleiden wir die Brüche und Widersprüche in unserer eigenen Person, in unserem und der anderen zwischenmenschlichem Zusammenleben in dieser Welt. Von einer solchen Notlage und einem nun gar nicht mehr selbstverständlichen Gottvertrauen handelt unsere Geschichte. Sehen wir näher hin.

Da ist zunächst die Frau, deren Tochter von Dämonen besessen ist und die sich in ihrer Not an Jesus wendet. Das tut sie laut schreiend, intensiv und drängend. Matthäus verwendet hier das gleiche Wort, wie er es anderswo für das Schreien und Brüllen von Besessenen gebraucht. Man könnte denken, dass die Dämonen von der Tochter auf die Mutter übergesprungen sind. Jedenfalls: sie stürmt auf Jesus ein, packt ihn gewissermaßen bei seinem Herrschafts- und Messiasnamen und übt einen zwingenden Druck aus: Erbarm dich meiner, Herr, Sohn Davids!

Jesus schweigt.

 Die Jünger dagegen sind gleichsam gefangen von der Dynamik der Szene und reagieren ähnlich massiv, nämlich mit Gegendruck: Diese Frau fällt ihnen lästig und sie wollen sie loswerden.

Jesus verhält sich anders. Er schickt die Frau nicht fort, aber er setzt nun eine Grenze: ich bin nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt!

Und wieder drängt die Frau und rückt ihm ganz nahe: sie wirft sich dieses Mal vor ihm zu Boden und bittet in der ehrwürdigen Sprache der Psalmen: Herr hilf mir! So übt sie noch einmal einen intensiven Druck auf Jesus aus, ihr zu Willen zu sein.

Und auch ein drittes Mal entzieht sich Jesus nicht oder schickt sie fort  -  aber er konfrontiert sie noch einmal  mit einer harten, ja kränkenden Zumutung: Kindern soll man nicht das Brot wegnehmen und den Hunden vorwerfen. Das ist bei Matthäus nicht so sehr verächtlich, sondern allegorisch gemeint, in dem Sinne: es gibt eine prinzipielle Grenze zwischen Juden (Kindern) und Heiden (Hunden).

Und nun geschieht etwas Neues zwischen den Beiden: Der Kampf hört auf. Im Kampf  gibt es nur Sieg oder Niederlage, Dominanz oder Unterwerfung, drängendes Begehren oder Versagung.  Die Frau schreit nicht mehr. Sie zwingt Jesus nicht mehr in die Rolle des großen, machtvollen Wunscherfüllers. Stattdessen spricht sie mit ihm. Und sie kann nun seine Grenzbestimmung gelten lassen, ohne sich ihr ganz zu unterwerfen. Im Gegenteil  -  sie nimmt sein Bildwort von den Kindern und Hunden eigenständig auf und wandelt es erfinderisch um: Auch die Hunde gehören zum Tisch der Herren dazu und fressen von deren Brocken.

Auf dieses Gespräch kann nun auch Jesus eingehen und sich  ebenfalls  auf die Frau einlassen und kann ihr Vertrauen zu ihm anerkennen: Frau, dein Glaube ist groß!  Erst darauf folgt  - und eben nicht vorher und unter Druck  -  die Erfüllung ihres Wunsches. Die Tochter wird gesund.

 

Wie kommt es zu dieser Wandlung im Dialog der beiden? Ich empfinde diese Wandlung auch atmosphärisch, nämlich als Übergang von den lauten, lärmenden Tönen und Aktionen zu etwas Leisem, ja Schwebenden.

Dies Schwebende im Dialog der Frau mit Jesus hat auch Martin Luther in einer Predigt über diese Geschichte hervorgehoben. Er schreibt: „Hier siehst du, obwohl sich Christus gleich hart stellt, so gibt er doch kein endgültiges Urteil, dass er Nein sage; sondern alle seine Antwort lautet wohl Nein, sind aber nicht Nein, sondern hängen und schweben .... und ist doch endlich mehr Ja drinnen denn Nein. Ja, eitel Ja ist drinnen, aber gar tief und heimlich". (Fastenpostille 1525)

 

Ich denke, auf dieses verborgene Ja hat sich diese verzweifelte Frau zutiefst verlassen in all ihrem Anrennen gegen das Nein Jesu. Aus diesem letzten Vertrauen kamen die Kraft und die Energie für ihren Kampf. Und in diesem Vertrauen konnte sie schließlich den Kampf aufgeben und sich auf  Jesus als wirkliches Gegenüber einlassen.

 

Ich denke, dass wir in dieser Geschichte einen Glauben kennen lernen, der sich doch deutlich unterscheidet von unserem gewohnten moderaten Alltagsglauben (G. Theißen), in dem wir Erfahrungen von Geborgenheit, Vertrauen und Verbundenheit gewissermaßen kampflos machen können. In dieser Geschichte geht es um das mühsame Entstehen eines Glaubens in extremer Not.

 Es gibt auch in unserem Leben Zeiten, in denen uns innere und äußere Mächte überwältigen und unser vertrautes Repertoire der Lebensbewältigung außer Kraft setzen. Das können namenlose Ängste  um uns selbst oder um unsere Nächsten sein, das können Mächte des Hasses sein oder Erfahrungen völliger Sinnlosigkeit. Wir brauchen dann dringend jemanden, der uns halten und beruhigen kann.

 

In einer Gesprächsgruppe von heute älter gewordenen Kriegskindern des zweiten Weltkrieges kam das Gespräch auf die Bedeutung der Religiosität für die eigene Lebensbewältigung. Eine Frau hatte die plötzliche Verhaftung ihres Vaters und die damit verbundene plötzliche Ausgrenzung und die Isolierung der Familie als neunjähriges Mädchen unmittelbar nach dem Krieg in der damaligen Sowjetischen Zone erlebt. Das war ein Schock gewesen. Bis heute scheue sie vor allzu engen Kontakten zurück und könne nicht wirklich anderen Menschen Vertrauen schenken. Nur Gott gegenüber könne sie sich öffnen und ihm alles sagen. „An wen wollte ich mich sonst wenden?", sagte sie.

Nur Gott kann sie sich  zumuten. Nur Gott hält ihrem Ansturm stand und setzt ihm Grenzen. Gerade so kann sie ihm vertrauen, weil er ihre Verzweiflung, manchmal ihren Hass übererlebt und ihre Dämonen bändigen kann.

Liebe Gemeinde, dieser Glaube, diese Verwandlung von Kontrollversuchen in Vertrauen muss erlernt werden, nach und nach und immer wieder neu. Davon erzählt eine chassidische Legende, die Martin Buber überliefert hat.

Ein Rabbiner-Schüler kommt nach wenigen Monaten Unterricht nach Hause in die Ferien. Dort wird er von seinem Vater gefragt, was er denn bisher in seinem Studium gelernt habe. Der Sohn antwortet: dass es einen Gott gibt.

Diese lapidare Antwort irritiert den Vater. Er wittert nichts Gutes: vielleicht ist der Sohn bei schlechten Lehrern, die ihm nichts Wichtiges beibringen können, vielleicht ist er auch faul, dass er eine solche Selbstverständlichkeit wie die Existenz Gottes als Ergebnis seiner bisherigen Studien herausstellt. Die Antwort des Sohnes lässt dem Vater keine Ruhe. Er möchte ihn mit der Lächerlichkeit seiner Antwort konfrontieren, damit er aufwacht. Deshalb ruft der Vater alle, die bei ihm arbeiten, zusammen und fragt diese Nicht-Studierten, ob sie wüssten, dass es einen Gott gibt. Jeder, den er fragt, bejaht: ja, das wisse er, dass es einen Gott gibt.

Provozierend und erwartungsvoll wendet sich der Vater darauf hin an seinen Sohn: Nun, was sagst du dazu? Dieser antwortet: Natürlich wissen alle, dass es einen Gott gibt, aber haben sie es auch erlernt?  (zit. bei W.-V. Lindner)

 

Möge Gottes Geist uns auf diesem  Erfahrungsweg gnädig geleiten.

Amen

 

 

Literatur

U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I,2 Mainz/Neukirchen, 2. Aufl. 1996

G. Schneider-Flume, in: GPM 57, 2002/2003, 459-465 (zum 17. Sonntag nach Trinitatis)

W.-V. Lindner, Predigten eines Psychoanalytikers, Göttingen 1993, 15f.

M. Luther, Fastenpostille zum Sonntag Reminiszere 1525, Mt 15,21-28, EA (2.Aufl.) 11, 125

 



Pastor i.R. Wolfgang Winter
Göttingen
E-Mail: wolfgang-winter@gmx.de

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