Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis / Erntedank, 04.10.2009

Predigt zu Matthäus 6:25-34, verfasst von Manfred Wussow

25 Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? 27 Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?

28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. 30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?

31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. 34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.


Predigt

Schauen, Staunen

Und wenn ich jetzt gar nichts mehr sagte? Einfach in den Himmel schaute, dem Flug der Vögel mit den Augen folgte, mich ihrem Kreisen anschlösse? Schwerlos, sorglos... Ich könnte aber auch mit den Augen zu den Lilien huschen. Wie schön sie sind und in der herbstlichen Sonne leuchten! Aufrecht und ungebeugt! Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Wunder, wohin ich schaue.

Es ist, als ob Jesus in die Schule der Vögel gegangen ist, fasziniert von den Lilien: In seiner Bergpredigt - man hat sie auch seine Antrittsrede oder Regierungserklärung genannt - sagt er: Sorgt nicht um euer Leben. Und lässt unsere Augen schweifen. Er teilt den Vögeln das Wort zu, die Lilien haben etwas zu sagen. Tatsächlich - den Vögeln und den Blumen gelingt von einem geschenkten Leben zu erzählen. Wir sehen den Schlag der Flügel, kunstvoll und gleichmäßig, wir sehen die Farbenpracht, vielfältig und verschwenderisch. Nur: Bin ich ein Vogel, eine Lilie?


Sorgenindex

In der Zeitung konnten wir den neuesten Angstindex lesen - ja, so was gibt's. In Prozenten wird fein säuberlich angegeben, wo - der Schuh drückt. Die Schlagzeile: „Wirtschaftskrise löst größte Sorge aus". Untertitel: Angst-Index der Deutschen: Furcht vor dem Zerbrechen der Partnerschaft ist geringer ausgeprägt" (Aachener Nachrichten 4.9.09). Ich bin fasziniert, was sich alles objektivieren lässt. Der Versuch aber, noch näher an die Zahlen heranzukommen, besser: hinter sie zu schauen, gelang mir nicht. Leider. In einer Welt, in der Zahlen alles sagen sollen, sagen sie eigentlich - nichts. Ich kenne aber Menschen, die heute schon vor dem nächsten Tag Angst haben. Wenn sie zu erzählen anfangen, bekommen Sorgen ein Gesicht.

In der Zeitung lese ich auch den Artikel einer jungen Frau, die sich um einen Platz in einer WG - in einer sehr teuren Stadt - bewirbt - und ständig auf Castingshows trifft. Gemustert, befragt - bis ins Intimste - soll sie der versammelten WG Rede und Antwort stehen. Nasenfaktor plus. Das sind dann Sorgen der besonderen Art. Die Sorge, glänzen zu müssen, die Sorge, sich zu verkaufen, die Sorge, voyeuristisch ausgenutzt zu werden. Vesprechen doch Castingshows, die wie Pilze aus dem Boden schießen, Erfolg, Unterhaltung und Verständnis, führen aber von einer Enttäuschung in die nächste. Die Sorge wird zu einem Spiel.

Schließlich, auch in der Zeitung, wird berichtet, wie mit dem Bevölkerungswachstum gerade in den Ländern der so apostrophierten Dritten Welt Land- und Waldstücke gerodet, abgeholzt und ausgelaugt werden. Die, die nicht wissen, wie sie und ihre Kinder satt werden, werden verantwortlich gemacht für den Raubbau, der in der wohlhabenden Welt als Sorge um das Klima auf unzählige Tagungsordnungen kommt. Wie gut sich Sorgen in klugen Reden machen!  

Drei Beispiele, in den Sorgen vorkommen: Vom AngstIndex über die Castingshow zu dem Überlebenskampf. Beispiele für eine ungeheure Vielfalt, die auch den Sorgen eigen ist - von den „gemachten Sorgen" (das ist der verräterischste Ausdruck sowieso) bis hin zum Todeskampf.


Lied zur Ermutigung

Hilde Domin, 1909 als Hilde Löwenstein in Köln geboren, vor hundert Jahren also, schrieb 1962 nach einem sehr bewegten und gefährdeten Leben - sie war Jüdin - ein „Lied zur Ermutigung", gewidmet: für Li

Diese Vögel
ohne Schmerzen,
diese leichtesten goldenen
Vögel
dahintreibend
über den Dächern.

Keiner
nach dem andern
fragend.

Ohne Bitte,
ohne Sehnsucht,
sich mischend, sich trennend.

Wir,
unter den Dächern,
uns anklammernd.

Sieh,
die Sonne kehrt
wieder
als goldener Rauch.
Die fallende steigt.
Steigt aus den Dächern Hiobs.
Es tagt
heute
zum zweiten Mal.

In diesem Gedicht kommen die Vögel vor. „Ohne Schmerzen", „diese leichtesten goldenen Vögel dahintreibend", „ohne Bitte, ohne Sehnsucht". Es ist dann wie ein Kontrast: „Wir, unter den Dächern, uns anklammernd". Was sich alles in diesem Wort „anklammernd" verbirgt! Ich sehe ein Haus vor mir, ein Dach, die Sehnsucht nach Heimat, nach Geborgenheit, einen Raum, der nur mühsam gehalten werden kann. Vögel brauchen kein Haus, sie brauchen nicht einmal ein Dach. „Anklammernd" aber hört sich geradezu krampfhaft, schmerzhaft, ermüdend an. Was ist, wenn sich die Finger lösen, wenn die Hände keine Kraft mehr haben, das Leben entgleitet? Hilde Domin aber deutet nur an - wer ihr Leben kennt, weiß, was in diesem Bild steckt. An Lebenswillen, Hoffnung und Vertrauen. Sie sieht „aus den Dächern Hiobs" die Sonne wiederkehren - und stößt uns mit den Augen darauf! Hiob, das ist der verlassene, der gottverlassene Mensch, der nicht klein zu kriegen ist, der vom Glauben nicht lässt, der Vertrauen bewahrt.
Ganz unbefangen riskiert Hilde Domin den Blick auf das Dach. Bei ihr wird das Dach zur Bühne, zum Podium, zum Blickfang. Über ihm sieht sie die Vögel treiben, unter ihm sieht sie, wie wir uns anklammern - und dann, wie aus ihm die Sonne wiederkehrt. Dass sie weg war, ist unter den Zeilen verborgen. Wie in der Lebenserfahrung auch. Doch: „Sieh, die Sonne kehrt wieder"! Auffällig dann: „Es tagt heute zum zweiten Mal". Das ist eine ebenso grandiose wie einfühlsame Erinnerung an den ersten Tag der Schöpfung: als Gott sprach „es werde Licht". In dem „Lied zur Ermutigung" hat Hilde Domin nicht nur eigene Erfahrungen festgehalten. Sie lässt uns erst über die Dächer sehen, dann unter die Dächer - und schließlich aus den Dächern die Sonne wiederkehren.

Ich werde an die Vögel unter dem Himmel erinnert und an die Lilien auf dem Felde. Auf einmal sind sie wieder ganz nah.
„Diese Vögel
ohne Schmerzen,
diese leichtesten goldenen
Vögel
dahintreibend
über den Dächern."


Lied für ...
 
In dem Lied von Hilde Domin klingt etwas an, was sich jeder Erbaulichkeit oder Naivität entzieht. Es ist ein Lied „für Li". Ich könnte auf die Suche gehen, wer sich hinter „Li" versteckt, wichtiger aber ist, das „Lied zur Ermutigung" einem Menschen gewidmet zu sehen. Mehr noch: Das Lied ist für einen anderen Menschen geschrieben. Bewusst zugeeignet. Ein Geschenk der besonderen Art. Was mag Li erlebt haben? Braucht sie, braucht er - Ermutigung? Unter welchem Dach wurden die Hände müde, entglitt das Leben? War das auch ein Dach - Hiobs?

Hilde Domin wählt das Wort „wir" - und hält es offen. Viele Menschen haben auf einmal Platz in dem „wir", ohne dass es eng wird. Und dann wechselt sie die Anrede: „Sieh". Nicht „Seht". Ein einzelnes Geschick, ein einzelner Mensch bekommt ein Gesicht - und eine Perspektive.

Wenn ein Mensch wieder Mut zum Leben bekommt, die Sonne wiederkehren sieht, ist das sicherlich noch nicht das Reich Gottes, von dem Jesus spricht, aber unverkennbar sein Leuchten. Hilde Domin hat bescheiden formuliert „Es tagt heute zum zweiten Mal".
Es ist nicht das - letzte Mal.

Wir hören Jesus sagen: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Leben zufallen".


Erntedankfest

Heute haben wir unsere Kirche geschmückt. Der Blumenschmuck ist üppiger als sonst. Obst und Gemüse, selbst gekochte Marmelade und Lebensmittel aus dem Geschäft dürfen auf dem Altar liegen. Brot und Wein auch. In mancher Gemeinde ist es guter Brauch, den Altar zu umgehen, um eine zusätzliche Gabe dort niederzulegen. Eine Gabe für Bedürftige. An manchem Ort gibt es die „Tafel", die das ganze Jahr über Menschen versorgt, die nicht genug Geld haben, regelmäßig in einem Geschäft einzukaufen.

Heute haben wir unsere Kirche nicht nur geschmückt. Wir zeigen in ihr den Reichtum, den wir empfangen haben. Der uns, im wahrsten Sinn des Wortes, zugewachsen ist. Wir sagen „danke". „Danke" für geschenktes Leben, „Danke" auch für Leben, das wir teilen können. Vieler Worte bedarf es nicht. Von Hilde Domin habe ich gelernt, Dächer wahrzunehmen: über ihnen die Vögel ohne Schmerzen, die - oftmals verzweifelten - Klammerversuche unter ihnen - und die aus ihnen steigende wiederkehrende Sonne. Gelernt habe ich auch, dass ich für einen anderen Menschen sehen und singen soll.

„Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?"

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.



Pfarrer Manfred Wussow
Aachen
E-Mail: M.Wussow@gmx.de

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