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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 01.11.2009

Predigt zu Matthäus 5:38-48, verfasst von Gottfried Brakemeier

Liebe Gemeinde!

Merkwürdig weltfremd mag uns dieser Text erscheinen. Und seit jeher ist er auch als solcher empfunden worden. Mit der Bergpredigt, so hat man gesagt, kann man keinen Staat regieren. Wo kämen wir hin, wenn wir dem Bösen nicht widerstehen würden? Absoluter Pazifismus ist unrealistisch. Eine Gesellschaft, die Agression und Ungerechtigkeit unbetraft lässt, macht sich schuldig, das Verbrechen zu begünstigen. Ich erinnere an konkrete Beispiele aus jüngster Vergangenheit. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund, Ausländer oder alte Menschen brutal zusammengeschlagen werden, wenn religiöse Fanatiker Selbstmordattentate planen oder Amokläufer wahllos Menschen erschießen, soll man dann tatenlos zusehen?

Die Diskussion um das Wiederstandsrecht hat eine lange Geschichte. Sie hat die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 ebenso bewegt wie die Befreiungsbewegungen Lateinamerikas. Muss man dem Bösen nicht in die Speichen greifen selbst wenn das heißt, seinerseits Menschenleben zu opfern? Man denke an Dietrich Bonhoeffer. Camilo Torres, ein katholischer Priester aus Columbien, sah in der bewaffneten Gegenwehr den einzigen Ausweg aus der grausamen Unterdrückung seines Volkes. Er starb 1966 als Untergrundkämpfer. Der Kampf gegen den Terror legitimiert sich aus dem Recht auf Verteidigung. Das ist immer so gewesen. Das Böse muss im Zaum gehalten werden.       

Offenbar mutet Jesus seinen Hörern etwas Unsinniges zu. Wenn dich jemand auf die rechte Backe haut, sagt er, halte ihm auch die linke dar. Ähnlich sollen wir reagieren, wenn wir vor Gericht erpresst werden, wenn wir einen Fall von Nötigung erleben oder wenn uns jemand anpumpen will. Stets sollen wir nicht nur dem Zwang nachgeben, sondern darüber hinaus etwas Überschüssiges tun. Vergeltung wird in ihr Gegenteil umgewandelt. Wenn man uns den Rock nehmen will, geben wir auch den Mantel dazu, und wenn jemand uns zwingt, eine Meile mitzugehen, gehen wir mit ihm zwei. Die Konflikte werden beendet durch Entgegenkommen, nicht durch Konfrontation.

Jesus überbietet das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn" wie es im zweiten Buch Mose formuliert ist. Es ist das Prinzip der gerechten Vergeltung, ein Fortschritt in der menschlichen Rechtsgeschichte. Denn es untersagt die ungezügelte Rache und fordert Proportionalität. Die Vergeltung darf nicht über das Maß des verursachten Schadens hinausgehen. Schon im Alten Testament selbst ist der Satz nicht immer wörtlich verstanden worden. Körperverletzung konnte auch durch eine Entschädigung in Geld beglichen werden. „Rückerstattung" ist Grundlage jeder Rechtsprechung geblieben. Wer anderen einen Schaden zufügt, hat Schadensersatz zu leisten, nicht unbedingt in gleicher Form, aber doch in angemessener Höhe. Was ist dagegen einzuwenden? 

Nun, als neues Gesetz wäre die Anweisung Jesu gründlich missverstanden. Jesus hebt das Recht nicht auf. So hat es auch die junge Christenheit gesehen, die vom Staat die Bestrafung des Bösen forderte und ihm deshalb ein Gewaltmonopol zubilligte. Die „Obrigkeit" trägt das Schwert zu recht. Weil man dem Bösen nicht freie Hand lassen darf, ist die Polizei keine überflüssige Einrichtung. Auch auf eine „Bundeswehr" ist nicht zu verzichten. Denn das Böse kann von außen kommen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Erfüllung der Forderung Jesu nicht erzwungen werden kann. Es kann kein Gesetz geben, dass zu mehr verpflichtet als verlangt wird. Nur freie Menschen können dies tun, aus freien Stücken, freiwillig. Nur sie können den Mantel dazu geben, wenn man ihnen den Rock nimmt. Schließlich ist ein Unterschied zu machen, ob ich für mich selbst auf Wiedervergeltung verzichte, oder ob ich mich für die Rechte Anderer einsetze. Wenn mein Nächster angegriffen wird, habe ich dem Bösen sehr wohl zu wiederstehen. Jesus hat nicht die Anderen im Blick, sondern „mich" und meinen Durst nach Rache im Sinne jenes „Das wirst du mir bezahlen"!

Müssen wir also von einer „Privatethik" sprechen? Auch das wäre falsch. Jesus hat nicht nur den Einzelnen im Blick. Ohne das Recht abzuschaffen, macht er auf etwas aufmerksam, das für menschliche Gemeinschaft allgemein grundlegend ist. Das Recht schafft Gerechtigkeit, aber nicht unbedingt Frieden. In Sachen „Vergeltung" ist die Bilanz sogar gefährlich. Vergeltung fällt für gewöhnlich unverhältnismässig aus. Sie fügt neue Wunden hinzu statt alte zu heilen und schürt damit den Hass. Vergeltung treibt die Spirale der Gewalt in die Höhe. Der bewaffnete Kampf gegen den Terror hat unzählige Menschenleben gekostet, und damit den ersehnten Frieden in weite Ferne geschoben. „Auge um Auge, Zahn um Zahn" - als Rechtssatz ist das akzeptabel, aber nicht als „Vergeltungsprinzip". Friede braucht „Entgegenkommen", er braucht das Versöhnungsangebot, den Verzicht auf vermeintliche oder sogar reale Rechte. Was Jesus ablehnt, ist nicht das Recht, sondern die Rache.        

Eine solche Haltung hat ein neues Feindbild zur Voraussetzung. Das wird im zweiten Teil dieses Textes entfaltet. Wiederum hebt Jesus ein bis dahin gültiges Gebot auf. Es beschränkte die Nächstenliebe auf den Volksgenossen, den Nachbarn, auf „Meinesgleichen", ja auch noch auf den Fremden im eigenen Land. Aber der Feind war von der Verpflichtung ausgenommen. Es ist bezeichnend, dass es in der Schrift keine Stelle gibt, die ausdrücklich sagt, dass man den Feind hassen soll. Aber die Erlaubnis zum Feindeshass ist die logische Folge, wenn der Feind nicht mehr als Nächster gesehen wird. Jesus sagt: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen."  Das Gebot der Nächstenliebe macht vor dem Feind nicht halt. Es schließt ihn ein. Dazu gibt es nichts Vergleichbares in der gesamten Religionsgeschichte.           

Natürlich kann man sofort Widerspruch einlegen. Wie kann man seinen Feind lieben? Hier scheint Naivität das Wort zu führen. Mein Feind kann mir nicht sympathisch sein. Ich muss mich gegen ihn wehren und ihn unschädlich machen bevor er mich ausschaltet. Alles andere ist Gefühlsduselei. Die Christen selbst sind an diesem Gebot allzu oft gescheitert. Anstatt für ihre Feinde zu beten, haben sie ihnen nach dem Leben getrachtet. Das Sündenregister der Kirche ist lang. Dennoch, der Verweis auf das Fehlverhalten von Christen hebt die Gültigkeit des Gebotes der Feindesliebe nicht auf. Im Gegenteil! Es unterstreicht die Dringlichkeit. Dies besonders in der globalen Welt. Noch nie waren die Konflikte auf unserer Erde so gefährlich wie heute. Jeder kann sich in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen und den Terror über das Internet verbreiten. Die Menschheit braucht zu ihrem Überleben entschiedene Friedenstifter. Die sind wichtiger als Panzer, Kriegsschiffe und Atomwaffen. Gegengewalt alleine kann den Frieden nicht garantieren. Es muss befürchtet werden, dass sie den Hass weiter anheizt und die Gewalt außer Kontrolle bringt. 

Jesus will unser Feindbild ändern. Auch der Feind ist unser Nächster und soll in den Kreis der zu liebenden Menschen aufgenommern werden. Das wird mit dem Vorbild Gottes begründet. Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Gott liebt nicht nur, aber eben auch seine Feinde. Das wird unmissverständlich durch den Kreuzestod Jesu Christi. Jesus zieht es vor, selber zu sterben als sich an seinen Feinden zu rächen. Statt zu verfluchen betet er für die, die ihn verfolgen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Durch Christus handelt der liebende Gott, der keine Freude hat am Tode des Sünders. Der Apostel Paulus versteht das im weitesten Sinn. Jesus Christus ist für uns gestorben, als wir noch Feinde Gottes waren. Mit anderen Worten: Der Gekreuzigte gibt nicht nur den Mantel,  er gibt sein Leben hin, um uns mit Gott zu versöhnen (Rö 5.10).

Feindesliebe ist menschlich betrachtet Torheit. Trotzdem ist sie die wahre Weisheit. Denn nur sie hat die Verheißung der Versöhnung. Natürlich ist mir mein Feind „unsympathisch". Liebe bedeutet nicht, dass ich ihn vorbehaltlos in die Arme schließen und das Böse, das er mir antun will, ignorieren soll. Nächstenliebe kann sehr unsentimental sein. Sie ist, im biblischen Verständnis, eher eine Sache des Willens als des Gefühls. Feindesliebe kann nur heißen, dass ich auch für den Gegner das Beste will und bereit bin, ihm die Hand zu reichen, selbst wenn es mich Überwindung kostet. Die Liebe schließt die Verteufelung des Feindes aus und will auch für ihn das Leben. Sie will Vertrauen aufbauen und Gemeinschaft ermöglichen. So wird sie Ausdruck jener Vollkommenheit, von der Jesus am Schluss dieses Textes spricht. Er sagt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." Liebe ist das Band der Vollkommenheit, heißt es an anderer Stelle (Kol 3.14). Also, wer vollkommen sein will, muss lieben lernen und damit zu einer Revision der üblichen Feindbilder beitragen. So weltfremd wie auf den ersten Blick dürften die beiden Gebote Jesu gar nicht sein.   

Amen.



Dr. Gottfried Brakemeier
Nova Petrópolis, RS, Brasilien
E-Mail: gbrakemeier@gmx.net

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