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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 01.11.2009

Predigt zu Matthäus 5:1-12, verfasst von Claus Oldenburg

(Anmerkung: der 21. Sonntag nach Trinitatis ist in Dänemark "Allerheiligen")

Allerheiligen ist bekanntlich in unserem Teil der Welt der Tag der Verstorbenen. Eigentlich fällt er auf den 1. November, und folglich ist der 31. Oktober der "Abend vor dem Tag der Verstorbenen" (auf Dänisch "Alle Helgens Aften"), aber da unsere protestantische Tradition immer bestrebt gewesen ist, die besonderen Tage zu umgehen, die allzu sehr nach unserer römisch-katholischen Vergangenheit rochen, markiert man das Phänomen - wenn ich es so nennen darf - am ersten Sonntag im November. Aber jahrzehntelang ist diese Markierung nicht besonders bedeutsam oder den Menschen besonders deutlich gewesen, was meiner Meinung nach zu tun hat mit einer kollektiven Verdrängung des Todes als Phänomen in moderner Zeit in unseren Bereichen.

            Aber - in diesem Zusammenhang ist es ein bisschen paradox, dass eine amerikanische Art, den Totengedenktag zu markieren, nämlich Halloween, bei den Menschen in dem Maße Anklang findet, und selbst Tivoli ist übervoll von licht-schreckeinjagenden Kürbisformationen - im übrigen durchaus gut gemacht -, aber das Paradox ist immer noch, dass man einen amerikanischen Brauch importiert, der deutliche katholische und lateinamerikanische Wurzeln hat, und dass die meisten Dänen eigentlich gar nicht richtig wissen, womit sie da zu tun haben, denn der ganze Brauch wird zu Unterhaltung und Radau, gemischt mit ein bisschen Todesgrauen und Angst im Dunkeln.

            Aber es ist fortgesetzt richtig, dass der Totengedenktag auf  Lateinamerikanisch eine tolle Mischung aus Gedenken an die Verstorbenen und Fest aus diesem Anlass ist. Aber prinzipiell nimmt man die Toten sehr ernst - und dafür hat unsere nordeuropäische Kultur vielleicht keinen Sinn mehr.

            Die Reste unserer Allerheiligen-Traditionen werden wohl nur durch den Gottesdienst an diesem Tage, vor allem durch die Wahl der Lieder hervorgehoben, und dann auf vielen Friedhöfen, wo man oft Andachten hält, wo aber auch von einer gewissen Aktivität an den Gräbern die Rede ist - eben weil man seiner Toten gedenkt und sie als einen Teil seiner selbst ernst nimmt.

            Aber wenn die katholische Tradition ein intensiveres Verhältnis zu den Toten hat als wir in unserer protestantischen, dann ist der Grund dafür eigentlich theologischer Art, und es geht hier um einen der bedeutendsten Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten als eine direkte Folge der Reformation am Anfang des 16. Jahrhunderts.

            Denn die katholische Tradition schreibt den Toten ein selbständiges Leben als Seelen zu. Der Leib ist zu Grabe getragen und ruht in der Erde und wartet auf eine Auferstehung, aber die Seele des Verstorbenen lebt weiter vor Gott, weshalb es vor allem die Aufgabe der Heiligen - und speziell der Jungfrau Maria - ist, für die Seelen der Verstorbenen gegenüber der Allmacht Fürbitte zu tun. Daher die Totenmesse, wo die Hinterbliebenen für den Toten beten, der nun vor dem Angesicht Gottes steht. Der Seele soll sozusagen durch Fürbitte zum Heil verholfen werden - und dadurch, dass man die Heiligen um Beistand bittet - wiederum vor allem Jungfrau Maria. Das bedeutet auch, dass die Welt - der Weltraum - von den Lebenden, aber also auch von den Verstorbenen in einem besonderen seelischen Zustand bevölkert ist. Es ist nicht schwer, in einer solchen visionären Perspektive sich das klassische mittelalterliche Weltbild vorzustellen mit einem Himmel oben, einer Reihe von heiligen- und engelartigen Zwischenstufen, wo die Seelen ihr eigenes Leben leben, und darunter die Erde, das Land der Lebenden. Und der Vollständigkeit halber: unter dem Land der Lebenden rumort der Untergrund, der Ort der Verdammnis und des Grauens der Hölle. Und ich möchte meinen, dieses geistige Weltbild ist in Wirklichkeit noch quicklebendig, und zwar gerade als geistiges Weltbild, denn es gibt ganz einfach der Welt und der sinnlichen Wahrnehmung eine persönliche Schwere. Der Mensch kann sich in der Sinnenwelt heimisch und zugehörig fühlen, die einen moralischen Charakter hat, gespalten wie sie ist zwischen dem Guten oben und dem Bösen unten.

            Aber! Wenn die Reformatoren gegen die Totenmesse - oder Seelenmesse - so aggressiv waren und sich von diesem hierarchischen Weltgebäude freimachen wollten, dann ist das ganz einfach aus dem Missbrauch zu erklären. Denn das Heil der Seelen wurde bekanntlich als Handelsobjekt benutzt, und es steckte ganz einfach gutes Geld im Tod - sehr viel Geld. Denn konnte man sich die Seele seines verstorbenen Vaters oder seiner verstorbenen Mutter im Blick auf die Erlösung sichern? In einer derartigen Furcht ist Geld zu holen - sehr viel Geld.

            Dieser Aspekt der Reformation ist in der Regel unterbelichtet, aber es geht hier um einen wichtigen Teil der Auseinandersetzung mit der großen, allumfassenden mittelalterlichen allgemeinen Kirche. Denn in den Augen der Reformatoren konnte die Kirche niemals eine Zwischeninstanz sein zwischen dem Menschen und seinem Gott - sie konnte höchstens der Ort der Begegnung zwischen dem Wort Gottes und der Selbstbesinnung des Menschen sein - und die Kirche durfte ganz und gar nicht die autoritative und davon abgeleitete wirtschaftliche Gewalt sein in der Frage nach der Erlösung des Menschen. Denn es war ein Mechanismus der Furcht, den die Kirche dadurch um der eigenen Bereicherung willen ausnutzte. Man kennt das Phänomen, denn in der Ausnutzung der menschlichen Furcht steckt Geld und hat immer Geld gesteckt - die Furcht ist gewiss verständlich, aber sie ist auch extrem ausnutzbar.

            Die Anhänger der Reformation dachten deshalb so: wenn der Mensch tot war, dann war er tot - und die Perspektive des Heils war nur, auf seinen Gott zu warten. Man glaubte bestimmt nicht, dass es ein besonderes Seelenleben gab, stattdessen meinte man aber, dass der Mensch am Tag des Gerichts seinem Gott gegenüberstand - und die Entscheidung über Erlösung und Verdammnis musste bei dieser Gelegenheit getroffen werden. Hier halfen sozusagen keine Gebete, geschweige denn bezahlte Fürbitten im Rahmen der Messe, sondern einzig der Selbstwert des Menschen vor Gottes Richterstuhl. Und da der Richterstuhl nicht der Allmacht gehörte, sondern Seinem obendrein sehr menschlichen Sohn Jesus von Nazareth beigelegt war, war die Perspektive der Gnade und Vergebung der Trost des Glaubens. Hier handeln wir also nicht - und wir bezahlen hier nicht - sondern wir hoffen und glauben und können nicht anders.

            Es geht um eine mentale Verschiebung zwischen einer Gesellschaft - oder richtiger einem Zustand -, in dem man mit einer geistlichen Instanz, der Kirche, operierte, die sich des Menschen im Leben und im Tod annehmen konnte und wollte, und auf der anderen Seite der modernen Gesellschaft - oder richtiger: dem modernen Zustand -, wo der Mensch darauf verwiesen war, sich seiner selbst anzunehmen im Leben und im Tod, - das, was man gewiss sehr treffend die "unentrinnbare Einsamkeit des modernen Menschen" genannt hat.

            Und wenn man sich die Kritiker der Reformation genauer anschaut, dann ist es diese Perspektive, die ihre eigentliche Furcht ausmacht - und die Furcht um des Geborgenheitsgefühls des Menschen willen, um des Geborgenheitsgefühls in der Welt willen - nämlich ein kaltes Gefühl, sich selbst überlassen zu sein. Ganz sich selbst überlassen zu sein, wenn man jede geistliche Autorität abschaffen würde. Genau dies ist die Pointe bei einer internationalen Berühmtheit wie Erasmus von Rotterdam und auch bei dem Dänen Poul Helgesen, der unser bedeutendster Theologe und ein Zeitgenosse der Reformation war.

            Aber die Reformation war notwendig, sozusagen unbedingt notwendig. Denn die Modernität sollte geboren werden, und die Modernität besteht darin, dass der Mensch er selbst ist, künstlerisch, religiös und politisch; aber der Preis liegt auch auf der Hand: diese merkwürdige Einsamkeit, wo man sich selbst in die Gemeinschaft hinein- und aus ihr hinauswählen kann, in die und aus der Gemeinschaft, die nun einmal existierte. Denn auch diese Gemeinschaften definieren sich selbst. Und wollte jemand es wagen, mit Hilfe von geistiger oder eiserner Macht - oder einer Kombination beider - eine neue Autorität zu begründen - beispielsweise durch die großen Ideologien oder den Vormarsch des Islam -, dann wird diese Autorität auf Widerstand stoßen. Dies ist der Gewinn der Modernität, Widerspruch und Einspruch ist die historische Konsequenz der Modernität, aber der Preis dafür ist fortgesetzt zu bezahlen - nämlich die fehlende Sicherheit des Einzelnen in Zeit und Raum, im Leben und im Tod.

            Auf diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund bin ich eigentlich der Meinung, dass die Modernität zwei parallelen Spuren zu folgen versucht und sie nicht zu kombinieren vermag, was sie doch eigentlich tun sollte. Denn ein Ergebnis dieses skizzierten Prozesses war eine Bevorzugung der Rationalität, die sozusagen die Welt in einem logischen und - wohl an sich - gefühlsleeren Universum anordnen wollte, in dem höchstens der Moral ein Platz als Regulator angewiesen werden konnte. Aber mit ihr kam auch eine Bevorzugung der Irrationalität, also des Gefühls, das die eigentliche Einsicht in die Bewegung der Welt ermöglichte. Genau an dieser Stelle konnte dann der Glaube seinen Beitrag leisten, denn er konnte sich zu allem Möglichen hin bewegen, ohne sich von der Rationalität leiten zu lassen, denn der Glaube ist ganz persönlich das Recht und das Eigentum des Individuums. Auf diese Weise füllt der Mensch selbst die Welt und möbliert sie, so wie ihm der Kopf steht.

            Aber da die Rationalität nicht imstande ist, irgendetwas über das Reich der Toten zu sagen, und die Irrationalität, das Gefühl, sich im Grunde sein eigenes Wunschdenken bewusst machen muss, müssen wir - so möchte ich meinen - Gott erkennen als den Grenzbegriff sowohl der Rationalität als auch der Irrationalität, kurz gesagt als die äußerste Objektivität, die menschliches Bewusstsein nicht begreifen kann. Und dann mag es einigermaßen gleichgültig sein, ob man die Vernunft oder das Gefühl als Argument gebraucht - wir vermögen Ihn sowieso nicht zu erreichen, denn wir erreichen nicht die Wirklichkeit und ihren Herrn.

            Aber die rationale Einsicht des Glaubens und des Gefühls wird ja gerade dies sein, weshalb wir den Reformatoren darin Recht geben müssen, dass man sich nicht über etwas äußern kann, worüber man nichts weiß - mit einem berühmten Wittgensteinzitat.

            So. Diese Einsicht, die Kombination von Rationalität und Irrationalität, kann nur  den Drang der Sehnsucht erkennen, auch nach dem Tode wiedererkannt zu werden. Das Wiedererkennen besteht darin, dass du und ich - dass wir - geliebt sind sowohl im Leben wie im Tod.

            Wenn also unsere Kultur in ihrer modernen Version sehr wenig Lust hat, mit seinen Toten umzugehen, dann muss es sich um eine Berührungsangst handeln, um einen Mechanismus der Verdrängung, der ja gerade in einer Unsicherheit bezüglich unserer Stellung in der Welt seine Ursache hat - im Leben wie im Tod - und der diese unangenehmen Gefühle nicht aushalten kann, die in aller Kürze "Trauer, Verlust"  heißen - oder noch schlimmer: die "Nichts" heißen.

            Denn was soll man mit dem Nichts machen? Der Intellekt mag es wohl einsehen, aber das Fühlen weint.

            Es gibt nur eines: dem "im Sinne von" zu verfallen.

            Denn es gibt einen Sinn und eine Notwendigkeit darin, dass wir heute einen kleinen Jungen getauft haben und er damit in unsere Welt eintritt - und das Gefühl ist ganz in Ordnung - und es gibt einen Sinn und eine Notwendigkeit darin, dass Ihr, ich und er wieder von hier weggehen müssen - und das Gefühl braucht aus diesem Anlass auch überhaupt nicht verkehrt zu sein. Denn gerade das Gefühl lässt sich nicht einordnen je nach Behagen und Unbehagen, je nachdem, was ich meine oder nicht meine.

            Wenn das Gefühl echt ist, ist alles darin enthalten, sieht es den Sinn ein und erkennt die Notwendigkeit - und beugt sich letzten Endes vor seinem Gott, der die Majestät des Unbegreiflichen ist. Selig sind wir also - daran kann man glauben und darauf kann man hoffen im Leben wie im Tod. Darauf hat uns Christus sein Wort gegeben. Amen

 



Pastor Claus Oldenburg
København (Dänemark)
E-Mail: col(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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