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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 01.11.2009

Predigt zu Matthäus 5:38-48, verfasst von Christiane Borchers

Liebe Gemeinde!

„Sei immer schön lieb" rät die Mutter ihrer kleinen Tochter, „streite dich nicht, gib nach, halte Frieden." Dieses sind wertvolle und kluge Ratschläge, wogegen im Prinzip nichts einzuwenden ist, wenn es nicht welche gäbe, die das schamlos ausnutzen und diese Haltung für ihren eigenen Vorteil ausschlachten. „Ich hätte meiner Tochter andere Ratschläge geben sollen" hinterfragt sich kritisch ihre Mutter, deren Tochter längst erwachsen ist. „Ich hätte ihr sagen müssen: „Wehr dich, lass dir das nicht gefallen!" Wie oft war ihre Tochter weinend von der Schule nach Hause gekommen, hatte den Rat der Mutter befolgt, hatte sich nicht gewehrt, wenn angrifflustige Raufbolde sie ärgerten und schubsten. Es war ein mühevoller Prozess gewesen, bis die Tochter gelernt hatte, dass sie ein Anrecht auf Respekt hatte.

Eine Pflegerin ist mit ihrer Kraft am Ende, nicht weil ihr der Umgang mit alten Menschen keinen Spaß macht, sondern weil eine Kollegin sie mobbt. Hinter ihren Rücken verbreitet sie Unwahrheiten über sie. Mittlerweile hegt sie tiefe Hassgefühle gegenüber der Kollegin: „Ich könnte sie umbringen" fährt es aus der Pflegerin heraus. Das, was im Verborgenen gegen sie läuft, ist nicht dingfest zu machen. Und so geht sie mit Magenschmerzen zur Arbeit, kann nachts nicht schlafen.

Seitdem sie den vorherigen Chef abgesägt und ihr einen neuen vorgesetzt haben, ist jegliches Vertrauen zu dem Arbeitgeber verschwunden. Der neue Vorgesetzte kontrolliert sie auf Schritt und Tritt. Seine Tür ist stets geöffnet. Ein Telefonat zu führen ohne ihn als Mithörer zu haben, ist unmöglich. Neulich hatte sie festgestellt, dass er an ihrem PC gewesen war. Er machte auch sonst ständig Grenzüberschreitungen.

Was tun bei Demütigungen, Verletzungen, Grenzüberschreitungen, Übergriffen? Empfiehlt uns Jesus tatsächlich, sie widerspruchslos hinzunehmen: Verlangt er von uns, dass wir uns nicht wehren sollen?  „Ihr habt gehört, das gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schläft, dem biete die andere auch dar." 

Dem Übel nicht widerstehen ist nicht gleichbedeutend mit alles hinnehmen. Jesus führt einige Beispiele vom Vergelten und von der Feindesliebe an. Die sagen nichts davon, dass denen, denen Unrecht zugefügt wurde, in der Defensive bleiben sollen. Nicht widerstehen heißt: Vergeltet nicht Gleiches mit Gleichem. Leistet dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln Widerstand. Sondern mit anderen Mitteln, hören wir im Geiste mit. Wer geschlagen wird, muss nicht zurückschlagen. Es gibt immer mehr Möglichkeiten als nur eine. Jesus bietet eine Alternative zum Zurückschlagen. Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Diese Verhaltensweise zähle ich zu der Form des passiven Widerstandes. Die andere Backe auch noch hinhalten hat nicht zum Ziel, dass der Schläger seine Aggressionen ungehindert austoben darf, sondern das Ziel ist, ihm klar zu machen: „Was du mit mir machst ist nicht in Ordnung, darum hör auf damit!"

Jesus hat eine neue Ethik gefordert. Er hat rabbinische Werte aufgenommen, sie neu gefüllt und weiter entwickelt. Auge um Auge, Zahn um Zahn ist ein jüdischer Rechtssatz, der in unseren Ohren sich so anhört, dass jemand Rache fordert. Dabei soll er aber gerade die Blutrache eindämmen. Die Vergeltung soll durch andere Entschädigungen gutgemacht werden. Dieses Rechtsverständnis soll akzeptiert und kein Widerstand geleistet werden. Jesus hebt den jüdischen Rechtsgrundsatz nicht auf, sondern verstärkt ihn und fordert eine humane Ethik.

Die andere Backe auch hinhalten. Im rabbinischen Recht wird der Schlag ins Gesicht als besonders entehrend empfunden und daher mit doppelter Buße belegt. Der Schlag ins Gesicht trifft in der Regel die rechte Wange. Der Evangelist Matthäus, der Jesus diese Worte in den Mund legt, lebt in der verfolgten Gemeinde. Bei diesem Beispiel, auch die rechte Wange hinzuhalten, könnte er an die Jünger gedacht haben, die als Ketzer geschlagen wurden.

Jesus gibt ein zweites Beispiel, wie sich ein frommer Mensch verhalten soll, der ihm nachfolgen will: Wenn jemand mit dir rechten und dir den Rock nehmen will, dem lass auch deinen Mantel. Das Untergewand, der Rock, ist nicht so wertvoll wie das Obergewand, der Mantel. Nach jüdischem Recht war der Mantel unpfändbar. Er diente nicht nur als Kleidungsstück, sondern auch als Decke für die Nacht. Wenn einer doch in einem Gerichtsprozess sich dem Mantel erstritten hatte, so musste er ihn abends zurückgeben. Es ist eine Provokation, wenn Jesus sinngemäß sagt: „Du willst meinen Rock haben, komm, nimm auch noch meinen Mantel." Sollte der Prozessführer den Mantel tatsächlich an sich nehmen, so stünde der Angeklagte nackt vor ihm. Auch hier geht es nicht darum, dem anderen den Mantel zu überlassen, sondern der Kläger soll merken, dass er eine Grenze überschritten hat. Es ist nicht recht, einem Menschen alles zu nehmen bis er schließlich gar nichts mehr hat. Gott setzt sich für die Notleidenden ein. Wem Unrecht widerfährt, der darf sich in seiner Not an ihn wenden. Die Psalmen sind voll von Klagenden, die ihre Not vor Gott ausbreiten. Sie dürfen auf Hilfe hoffen.

Matthäus will uns sagen: Ein Mensch muss nicht alles klaglos erdulden. Er braucht sich nicht bis zum äußersten ausliefern und ausnutzen lassen, ihm soll Gerechtigkeit widerfahren.

Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. In diesem Beispiel rät Jesus, wie sie mit den Soldaten der römischen Besatzung umgehen sollen. Die römischen Soldaten hatten das Recht, einen Juden als Wegweiser oder Träger zum Mitgehen zu zwingen. So wird z.B. Simon von Kyrene gezwungen, Jesu Kreuz bis zur Hinrichtungstätte zu tragen. Die Soldaten konnten von jeden Juden solche Dienste fordern. Jesus sagt: Geht lieber freiwillig mit, am besten noch mehr als sie fordern. So vermiedet ihr womöglich Schlimmeres.   

Gib dem, der dich bittet und wende dich nicht von dem, der etwas von dir borgen will. Dies ist kein Beispiel von Gewalt, hier geht es um Großzügigkeit: Ein frommer Mensch soll abgeben und die Bereitschaft haben, etwas auszuleihen. Die kleine matthäische Gemeinde muss sich gegenseitig unterstützen, wenn sie in einem Umfeld bestehen bleiben will, das ihr feindlich gesonnen ist. Sie müssen sich in ihrem Umfeld freundlich zeigen, keine Angriffpunkte liefern. Sie dürfen sich nicht untereinander zerstreiten.

 

Bei allen Beispielen, die Jesus gibt, geht es ihm um den Schutz der zerbrechlichen Gemeinschaft. Wenn jemand Gewalt ausübt, seine Macht ausspielt und sie andere fühlen lässt ist jede Gemeinschaft zerstört. Eine gelungene Kommunikation findet nicht statt. Zu einer intakten Gemeinschaft gehöt ebenfalls Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft.

Um in Frieden miteinander zu leben, darf man sich nicht so verhalten, wie der Gegner es tut. Gewalt führt zu Gegengewalt. Die Situation kann leicht eskalieren.

Jesus fordert zu Feindesliebe auf. Der Grundsatz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist auch im Ersten Testament zu finden und gehört mit zu den Grundpfeilern des Judentums. In Israel ist ausdrücklich die Liebe gegenüber dem ansässigen Fremdling geboten. Jesus überwindet alle Grenzen. Er schließt ausdrücklich die ein, die gegen uns kämpfen. Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Die Gemeinde des Matthäus wurde verfolgt. Die Gemeindeglieder wissen, was es bedeutet Gewalt ausgeliefert zu sein. Wer ohnmächtig körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt ist, beginnt seinen Gegner zu hassen. Der Hass bohrt sich tief ins Herz, als hätte jemand einen vergifteten Pfeil mitten ins Herz geschossen. Hass macht blind und krank. Liebe deine Feinde fordert Jesus. Das ist wohl das aller schwerste Gebot. Wir würden hoffnungslos scheitern, wenn wir uns am Feind orientierten.

Warum sollen wir nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, wenn der Feind uns quält und in die Enge treibt, sodass sich das auf geistigen und körperlichen Ebene auswirkt. Weil Gott es auch nicht macht. Gott lässt die Sonne scheine über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Gottes Handeln wird nicht von menschlichen Qualitäten bestimmt. Er lässt sich nicht von bösen Menschen bestimmen. Bosheit und Ungerechtigkeit sind nicht Maßstab seines Handelns. Er handelt so wie er will. Das ist seine Freiheit, die er walten lässt. Auch der Feind ist ein von Gott geliebter Mensch, genauso wie ich es bin. Die Liebe, die Gott zu mir hat, wird zum Maßstab meines Handelns, davon ist der Feind eingeschlossen. Kein: „Wie du mir, so ich dir", „Wie Gott mir so ich dir."

Gott ist barmherzig. Er lässt die Sonne scheinen über alle Menschen. Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten heißt auch, dem Feind nicht mit seinen bösen Taten gleich werden zu wollen. Unser Streben soll nicht sein, wie der Feind zu werden, sondern wie Gott. Nicht eigenes Interesse mit Gewalt durchsetzen wollen wie der Feind, sondern Gott gleich werden in seiner Barmherzigkeit, das ist das Ziel, das wird Befreiung bringen. Gott nachahmen stärkt die Gemeinschaft und überwindet den Hass. Darum sollt ihr vollkommen sein, wie Gott im Himmel vollkommen ist. Wir dürfen von Gott lernen gütig und barmherzig zu sein wie er. Wir gelangen nicht zu unserer Menschlichkeit, wenn wir nicht von Gott lernen und seine Kinder werden.

Vollkommen werden wie Gott, das ist ein hoher Anspruch. Können wir das jemals erreichen? Wenn Matthäus von Vollkommenheit spricht, so ist damit nicht eine absolute Fehlerlosigkeit und totale Perfektion gemeint. Matthäus verwendet das Wort vollkommen im Sinne von ganzheitlich, unversehrt. So kann ein Gläubiger in seinem Herzen vollkommen mit Gott leben. D.h. er ist von ganzem Herzen auf Gott ausgerichtet. Der Mensch ist nicht vollkommen, er kann es nur werden. Seine Ausrichtung geht nach oben, zum Vater im Himmel. Das hat Auswirkung für das Verhalten gegenüber den Menschen. Gott wiederum ist ausgerichtet auf den Menschen. Er gibt ihm sein Gepräge. Der christliche Lebensweg ist ein Weg, der Vollkommenheit zum Ziel hat. Feindesliebe überwindet Hass und Gewalt. Amen.



Pfarrerin Christiane Borchers
Emden
E-Mail: christiane.borchers@web.de

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