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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 08.11.2009

Predigt zu Lukas 17:20-24, verfasst von Claudia Bruweleit

Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann;

21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.

22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.

23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!

24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

Liebe Gemeinde!

Manes Sperber erzählt in seinem autobiographischen Buch „Die Wasserträger Gottes", wie sich die Bewohner seines Heimatortes Zlabotow in Galizien auf das Kommen des Messias einstellten. Vor allem erinnert er sich: in ihrer Kindheit übten sie sich regelmäßig darin, so lange wie möglich auf Händen zu stehen oder gehen. „Sie hatten nämlich gelernt, dass der Messias, wenn er kommt, die Welt auf den Kopf stellt. Das würde den Ungeübten viele Schwierigkeiten bereiten. Deshalb trainierten sie sich, wie sie es nannten, in der messianischen Gymnastik." [1]

Welch wunderbare Übung! Auf den Händen stehen und die Perspektive wechseln. Die Sehnsucht nach dem Reich Gottes wach halten, und sich üben darin, seine Gestalt herauszulesen aus dem, was wir erleben, was uns nahe kommt in dieser Welt.

Ich stelle mir diese Kinder vor, wie sie mit den Füßen wackeln vor Anstrengung, sich gerade zu halten bei dieser Übung, wie ihre Füße in den Himmel ragen. Verkehrte Welt. Wer trägt hier wen? Trägt die Erde die Kinder oder tragen sie den Himmel mit ihren Füßen? Sie erwarten etwas, das fröhlich machend anders ist. Etwas, das Oben und Unten vertauscht. Etwas, das sie zu Experten macht, zu denen, die vorbereitet sind als erste erkennen werden, wie das Neue ist, das kommt.  So erwarten sie das Wiederkommen Gottes und seines Gesandten, des Messias. Er stellt die Welt auf den Kopf.

Ihre Zuversicht und ihre Sehnsucht nach dem Reich Gottes berühren mich.

Schaue ich zurück auf die Ereignisse der friedlichen Revolution im Herbst 1989, dann spüre ich auch dort die Sehnsucht nach einer Veränderung der Verhältnisse, die unbeschreibliche Sehnsucht nach Freiheit für jeden und jede, Freiheit zu gehen und zu kommen, Freiheit zur Teilhabe an der Verantwortung der Macht, Freiheit zur Meinungsäußerung.

Dieses Geschehen stellte die Verhältnisse auf den Kopf. Auf einmal sagte nicht mehr die Partei, was die Menschen zu denken hatten, sondern die Menschen sagten: Wir sind das Volk. Und mehr noch als das höre und lese ich, dass diese Sehnsucht damals in der Verkündigung der Kirchen ihre Kraft fand. Sie bekam ihre Hoffnung daraus, dass nicht die Menschen Freiheit forderten und erkämpften, sondern sich in Gebeten und mit Kerzen in den Händen zunächst an Gott wandten und ihn baten, die Verhältnisse zu ändern. Sie beteten dafür, dass ein Wandel geschehe. Eine neue Qualität von Gemeinschaft verband sich damit. Menschen, die aufeinander achteten. Der wichtigste Ruf hieß: „Keine Gewalt". Die Kerzen in Händen, die Flammen mit beiden Händen vor dem Verlöschen geschützt, wissend, dass unter den Volkspolizisten Väter, Söhne, Ehemänner der Demonstrierenden waren, zogen die Demonstranten durch Leipzig am 9.Oktober 1989. Ihre größte Hoffnung und Sorge war der friedliche Ausgang dieser Protestmärsche. An diesem Tag, der die größten Demonstrationen in jenem Herbst erlebte, wuchs diese friedliebende Sichtweise auf die Dinge zur bestimmenden Haltung in dieser zahlenmäßig und in ihrer Überzeugungskraft immer stärker werdenden Gemeinschaft.

 „Keine Gewalt" das war ein Ruf, der aus der Sehnsucht nach Freiheit und nach einer Gemeinschaft entstand, die die Freiheit auch den Andersdenkenden zugestand. Die in diese Gemeinschaft die Vertreter der Stasi und die Vopos mit einbeziehen konnte, wie Christian Führer, der Pastor der Leipziger Nikolaikirche, es in seinem Buch: „Und wir sind dabei gewesen", beschreibt.

In dieser Zeit führten die Kirchen das Wort Jesu im Mund und erinnerten an seine Verheißungen. Jesus Christus,

„Der sagte: „Selig sind die Armen" und nicht: „Wer Geld hat, ist glücklich!" Der sagte: „Liebe deine Feinde" und nicht: „Nieder mit dem Gegner!"
Der sagte: „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten!" und nicht: „Es bleibt alles beim Alten"(...) [2] Die Hoffnung auf eine Veränderung speiste sich aus der Erfahrung und dem Vertrauen, dass Gott jeden Menschen angenommen hat, so, wie er ist, mit allen Fehlern und Schwächen. Die Möglichkeit, für die anderen zu beten, erwuchs aus dem Vertrauen darauf, dass vor Gott alle gleich angesehen sind, alle gleich angenommen sind. Als die, deren Schuld vergeben ist.

Damit sind die Verhältnisse der Welt auf den Kopf gestellt. Oben und Unten gibt es nicht mehr, jedenfalls vor Gott nicht.

Die Berichte aus den Gottesdiensten zur Veränderung der Gesellschaft erzählen auch von der Sehnsucht danach, sich selbst verändern zu lassen und innerlich diese Wende zu schaffen von der Rachsucht und dem Trachten nach Vergeltung für zahlreiches erlittenes Unrecht hin zu dem Wagnis, vom anderen her zu denken und für ihn zu beten, auch und gerade dann, wenn man ihn nicht verstand.

Was ist daran, das uns lehren kann, das Reich Gottes zu entdecken in unserer heutigen Zeit? Jesus sagt: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Wer die Perspektive wechselt, findet es leichter als andere. Wichtig ist: es ist schon da, steht uns zur Verfügung, kann ergriffen werden. Das Reich Gottes ist mitten unter euch, seht zu, dass ihr es erkennt und ergreift es.

Lassen wir uns anstecken von der Sehnsucht danach, dass Gott diese Welt besser macht? Lassen wir uns hinreißen von der Idee, wir selbst könnten gebraucht, ja begabt werden mit Kraft, damit sich etwas verändert?  Rechnen wir eigentlich damit, dass Gott uns hier in Greifswald, uns dort in Kiel, brauchen könnte für eine bessere, eine gerechtere Gesellschaft, dafür, dass ein Miteinander gelingt, das nicht getragen ist von innerweltlichen Werten, nicht von Erfolg und Macht, nicht von Reichtum oder Einfluss, sondern davon, dass sich Gottes Liebe zu uns Menschen zeigt?

Gründe gäbe es doch genug. Jede und jeder hat ja vielleicht eigene Ideen, wie es gelingen könnte, dies zum Ausdruck zu bringen. Der Dichter Novalis schreibt:

Wenige wissen
Das Geheimnis der Liebe,
Fühlen Unersättlichkeit
Und ewigen Durst...
Hätten die Nüchternen
Einmal nur gekostet,
Alles verließen sie,
 Und setzen sich zu uns
 An den Tisch der Sehnsucht,
 Der nie leer wird.[3]

Wo findet diese Sehnsucht ihren Ausdruck mitten in unserem Alltag?

Für mich ist es zum Beispiel die Sehnsucht, dass meine Konfirmandinnen und Konfirmanden lernen, dass es mehr zu erstreben gibt als ein schnelles Auto oder große Leistungen im Sport. Für die Gespräche mit ihnen bereite ich mich vor, versuche zu verstehen aus ihrer Sicht. Ihre Sprache zu finden. Dankbar bin ich für die Erfahrungen mit meiner Tochter, vierzehn Jahre alt, die eine von ihnen war, die ich verstehen konnte. Sie erzählte kürzlich, dass einer meiner ehemaligen Konfirmanden im Erdkundeunterricht auf die Frage, was denn für die Tektonische Verschiebung verantwortlich sei, also die Bewegungen der Erdkruste, die zu Seebeben führten, ganz ernsthaft antwortete: Gott? Schallendes Gelächter erntete er in der Klasse - und doch - macht es nicht auch nachdenklich? Kann man nicht, mit etwas Kopfstand vielleicht, annehmen, dass auch Gottes Kraft in irdischen Phänomenen erfahrbar ist? Besteht eine Messianische Übung heutiger Zeit vielleicht darin, uns wieder über unseren Glauben zu unterhalten und zu sagen: Ja, ich rechne damit, dass viel mehr in dem, was ich erlebe, von Gott kommt, als ich es erklären kann. Ja, ich sehne mich danach, dass er es ist, der mir Menschen schickt, die mir die richtigen Fragen stellen und mich ins Nachdenken bringen. Im Bibelkreis tauschen wir uns über die Predigttexte aus und geben unserer Hoffnung einen Namen - dass Gottes Wirken in unserem Alltag erkennbar wird. Warum nicht auch in anderen Gruppen?

Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann. Man wird nicht sagen: hier ist es, oder dort - jeder wird es sich selbst erschließen können. Einen neuen Blick auf die Welt zu gewinnen - das könnte auch unser Ziel werden auf der Suche nach dem Reich Gottes.  Einen Blick, der die Möglichkeiten der Veränderung mit einbezieht. Der Gott Raum gibt, diese Welt zu verändern. Der mit der Sehnsucht lebt, dass sich die Verhältnisse ändern und dann die Chance ergreift, wenn es in meinem konkreten Leben Wirklichkeit werden kann. Das Reich Gottes ist mitten unter euch - greift zu.

Aus unserer Nordelbischen Kirche ist ein Verein hervorgegangen, der sich „Andere Zeiten e.V."[4] nennt. Jedes Jahr gibt er in einer Auflage von mehr als dreihunderttausend Exemplaren einen Adventskalender der besonderen Art heraus. Einen, der mit Texten einlädt, jeden Tag sich Zeit zu nehmen für Stille und einen Gedanken, der etwas neues erschließt. Zeit, die ganz persönliche Sehnsucht nach Gott zu erspüren. Zeit, Wege zu finden, sie sichtbar werden zu lassen. Zum Beispiel einen Adventskranz nach und nach zu schmücken mit Kleinigkeiten, die an freundliche Gesten und schöne Erlebnisse erinnern und zeigen: reich bist du, wirst du, in der Begegnung mit anderen. Auch das ist eine Art, Gott zu erkennen, sein Reich zu identifizieren mitten unter uns und sich hinein nehmen zu lassen in die Sehnsucht nach  ihm und die Freude, hinzugezählt zu werden zu denen, die das Reich Gottes erkennen, erahnen, erspüren können in der Welt. Die sich üben in Messianischer Gymnastik. Die himmelwärts sich ausrichten und doch erdennah bleiben. Die seine lebendige Kraft spüren und sie miteinander teilen und die Sehnsucht nähren nach mehr von diesem seinen kommenden Reich.

 



[1] Zitiert nach A.-K. Kruse, Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres:  Lk 17,20-24 (25-30) in: Kruse, Wolfgang (Hg.) Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext (1. Perikopenreihe), Neuhausen 2002, 366.

[2] Christian Führer: Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Berlin 2008, 217.

 

[3] Novalis, zitiert nach: Loccumer Arbeitskreis für Meditation (HG.), Verstehen durch Stille. Loccumer Brevier. Hannover, 2. Aufl. 2003, 243

[4] Andere Zeiten e.V. Initiativen zum Kirchenjahr. Fischers Allee 18, 22763 Hamburg. info@anderezeiten.de



Pastorin Claudia Bruweleit
Kirchengemeinde Heiligengeist in Kiel
E-Mail: bruweleit@heiligengeist-kiel.de

Bemerkung:
Kanzeltausch mit St. Marien Greifswald, siehe
http://www.heiligengeist-kiel.de/nachrichten/mauerfall.php


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