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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 08.11.2009

Predigt zu Matthäus 18:23-35, verfasst von Peter Nejsum

Es ist Krieg. In einem der Konzentrationslager der Nazis. Einer der Insassen, ein junger Jude, wird an das Sterbebett eines 23jährigen SS-Offiziers gerufen. Der Jude ist Simon Wiesenthal, der die Geschichte in seinen Erinnerungen "Die Sonnemblume" erzählt. Der junge SS-Offizier leidet große Qualen, weil er an ein Massaker denken muss, an dem er in Dnjeprpretovsk beteiligt war. Er beschreibt, wie sie den Befehl erhielten, eine große Zahl von Juden in ein dreistöckiges Haus zu jagen. Eingen Juden wurde befohlen, Kanister mit Benzin in die oberste Etage zu tragen. Die Haustur wurde verrammelt. Ein Maschinengewehr wurde ihr gegenüber in Stellung gebracht. Die Juden, von denen die meisten Frauen, Alte und Kinder waren, standen eng zusammengedrängt. Sie jammerten, sie weinten, sie hatten große Angst, erzählt der Offizier. Sie wussten, was kommen sollte. Wiesenthal, der den Bericht des Offiziers anhört, fühlt sich sehr unwohl. Er weiß auch, wie die Geschichte weitergeht. Er hat selbst ähnliche Dinge durchgemacht. Er möchte weggehen, aber der Offizier bietet ihn inständig zu bleiben. Und dann fährt er mit seiner unheimlichen Geschichte fort. Er beschreibt, wie sie Handgranaten in das Haus warfen. Man hörte furchtbare Explosionen, und kurz darauf stand das Haus in Flammen. Ein erstickender Rauch steigt aus dem Haus auf, und grauenvolle Schreie von den Opfern der Flammen sind zu hören. Wer zu fliehen versucht, wird erschossen. Einige von denen, die zu fliehen versuchten, haben sich auf der Netzhaut des Offiziers festgebrannt. Es war eine kleine Familie, ein Vater, eine Mutter, ein Kind. Sie sprangen aus einem Fenster im zweiten Stock, ihre Kleidung hatte Feuer gefangen, so dass sie lebendigen Fackeln glichen. Aber die Flucht war vergeblich. Als sie auf die Erde fallen, werden sie erschossen. Dieses Bild hat den Offizier seitdem verfolgt, und jetzt bricht er völlig zusammen.

            Hier liegt ein Mann im Sterben - ein Mörder, aber auch ein Opfer einer schonungslosen Ideologie, die ihn zum Mörder gemacht hat, ohne dass er es eigentlich gewollt          ier Hier  hätte. Er vertraut sich einem Mann an, der womöglich noch tags darauf Opfer einer ähnlichen Untat sein könnte. Wiesenthal zweifelt keinen Augenblick an der Echtheit der Reue des jungen Offiziers.

            Der Offizier faltet die Hände. Wiesenthal kann merken, dass er etwas sagen will, was ihm sehr schwer fällt. Nach einigen Augenblicken sagt der Offizier dann: Ich weiß, was ich Ihnen erzählt habe, ist furchtbar. In den langen Nächten, in denen ich hier gelegen und auf den Tod gewartet habe, kam mir immer wieder der Gedanke, dass ich mit einem Juden sprechen müsste ... um zu ... Seine Stimme wird fast unhörbar. Um ... um Vergebung zu bitten. Ich weiß, ich verlange fast zuviel, aber ohne eine Antwort kann ich nicht in Frieden sterben.

             Es wird ganz still. Zwei junge Männer sind durch das Schicksal zusammengeführt worden. Der eine, der SS-Offizier, kann nicht mit Frieden in der Seele sterben, weil ein furchtbares Verbrechen ihn fortgesetzt verfolgt und ihm keine Ruhe lässt. Er bittet um Vergebung - um Vergebung durch einen KZ-Gefangenen, einen lebendigen Toten, der ohne weiteres das nächste Opfer sein könnte. Wie antwortet er auf die Bitte des Offiziers um Vergebung? Soll er diesem Menschen helfen, in Frieden zu sterben? Oder ist Vergebung für ihn unmöglich? Was ist seine Antwort? - Wiesenthal sieht lange auf seine gefalteten Hände. Dann macht er kehrt, und ohne ein einziges Wort verlässt er den Raum. Er vergibt ihm nicht.

            Wie oft muss ich meinem Nächsten vergeben? Diese Frage stellt Petrus an Jesus, wie wir vorhin gehört haben. Er schlägt selbst "siebenmal" vor, denn er möchte gern großmütig sein. Ein gesetzeskundiger Jude würde sagen dreimal. Aber Jesus sagt 77 mal, und das heißt in Wirklichkeit, unendlich oft. Es ist eine absurde Antwort, wenn es einem um einen moralischen Maßstab geht, um eine Lebensregel. Man kann sich ja nicht eine gesetzliche Bestimmung vorstellen, wonach man 77 Verwarnungen erteilen müsste, bevor man bestraft würde. Aber warum gibt Jesus dann diese Anwort? - Weil er sagen will, dass wir nicht anders können als vergeben.

            Deshalb erzählt er das Gleichnis von dem Mann mit den ungeheuer hohen Schulden, die ihm erlassen werden; derselbe Mann aber will seinem Mitknecht, der ihm eine lächerlich kleine Summe schuldet, diese Schuld nicht erlassen. Und dafür wird der Mann bestraft.

            Jesus sagt: Du kannst es dir gar nicht erlauben, nicht zu vergeben. Denn du lebst doch nur davon, dass alles, was du bist, alles, was du kannst, und dein ganzes Leben, alle Liebe, alle Vergebung, - dass du alles dies geschenkt bekommst und dass es deshalb etwas ist, was du schuldest, und deshalb unmöglich zurückzahlen kannst. Darum musst du vergeben, denn du lebst selbst in der Vergebung, in einer Vergebung, die so viel größer ist, als irgendetwas, was du selbst leisten könntest.

             Man kann leicht begreifen, dass dies an sich jede Kleinlichkeit verurteilen müsste, wie wir sie im Alltag einander zeigen. Es gibt zahllose Beispiele. Und die Konsequenzen sind oft sehr groß. Menschen, die miteinander eng verwandt sind, ein Vater und ein Sohn z.B., können jeden Kontakt miteinander afbrechen. Irgendetwas ist zwischen ihnen eingetreten, ein Versagen in einer bestimmten Situation, eine bissige Bemerkung, irgendetwas. "Ich habe nichts, was ich zu ihm sagen möchte," heißt es, "er kann mich ja anrufen, wenn er was von mir will." Ihr kennt das sicher. Die Unversöhnlichkeit ist offensichtlich. Wenn man danach sucht, was eigentlich die Ursache war, wie alles anfing, dann sind es oft Kleinigkeiten, ja etwas, worüber man eigentlich gar nicht sprechen mag, weil man sich eigentlich bewusst ist, wie lächerlich es sich ausnehmen würde. Aber die Zeit verging und ließ die Kluft unmerklich größer werden, so dass sie immer schwerer zu überspringen war.

            So etwas kann mit einem unendlich hohen Preis enden, höher als der Preis der Vergebung.

            Aber nun ist die Rede des Christentums von der Vergebung uns ins Blut übergegangen, wir sind der Meinung, alles müsse vergeben werden. Sobald ein Gewalttäter sein Opfer niedergeschlagen hat, sollen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und die Absicht ist, dass das Opfer vergeben soll. Es gibt viele Leute, die meinen, solche Begegnungen solle man sehr viel öfter veranstalten. Und wir verstehen die Unversöhnlichkeit im Mittleren Osten nicht, in Nordirland, oder sonstwo. Nun müssen sie doch einander die Sünden der Vergangenheit vergeben... Und wir sind besonders emsig, wenn es darum geht, dass andere einander vergeben. Wir mögen nämlich Unversöhnlichkeit nicht. Wir üben gern Druck aus, um Vergebung zu bewirken.

            Aber es kann unendlich schwer sein, zu vergeben. Das macht die Episode am Sterbebett des Krigsverbrechers sehr deutlich. Sicher, sie ereignet sich während des Krieges im nazistischen Deutschland, aber Ähnliches könnte genauso gut in unserer eigenen Zeit vorkommen an Orten, wo Menschen sich gegeneinander von ihrer schlimmsten Seite zeigen. Es könnte genauso gut ein Mensch gewesen sein, der als Kind im Stich gelassen wurde und nie die Liebe bekam, die er nötig hatte, sondern stattdessen immer wieder Versagen der Eltern erlebte, das ihn und seine Geschwister zu Krüppeln hat werden lassen - und den dann ein Elternteil um der Kinder willen um Vergebung bittet. Wenn Vergebung ernst sein soll und nicht nur eine bequeme Absichtserklärung, mit der wir die ganze Sache zudecken können, dann müssen wir uns dem Ernst stellen, auf den Vergebung einen Anspruch hat.

            Hätten wir dem SS-Offizier vergeben müssen, wenn wir an der Stelle von Simon Wiesenthal gewesen wären? Ist es nicht Kleinlichkeit oder Rachgier, dem gequälten Offizier die Vergebung zu versagen? Hätten wir nicht die wenigen tröstlichen Worte sagen müssen, die das Sterben eines anderen Menschen hätten erleichtern können? Oder gibt es Verbrechen, die nicht vergeben werden können? Wäre Vergebung nicht ein Hohn gegenüber den Opfern? Und was machen wir mit den Worten des Evangeliums von der 77fachen Vergebung, weil man gar nicht anders kann? Hätten wir dem SS-Offizier vergeben müssen?

            Ich meine, die Antwort muss ein Nein sein.

            Eine Vergebung würde den letzten Rest von Menschlichkeit beseitigen, das Recht, sich selbst als Opfer zu sehen. Eine Vergebung, die den Zorn, die Verzweiflung, die Unversöhnlichkeit auf Seiten dessen ignoriert, der vergibt, ist dämonisch. Eine solche Vergebung würde bedeuten, dass die Schuld nie klargestellt würde. Deshalb ist eine Vergebung im Namen anderer auch ein Hohn gegen die, die vielleicht nie Gelegenheit hatten, zu der Frage der Vergebung Stellung zu nehmen. Eine Vergebung wäre ein Hohn gegen die anderen Opfer. Vergebung kann man nur im eigenen Namen aussprechen. Eine jede Vergebung im Namen anderer ist ein Übergriff. Ja, schon die Tatsache, dass man beurteilen zu können glaubt, ob Simon Wiesenthal falsch handelte, als er dem Mann die Vergebung versagte, - in bequemer Ferne von der Situation -, macht die Vergebung zu etwas anderem, zu etwas, was nichts kostet; wir können hier leicht vergeben, weil wir ja von etwas austeilen würden, was uns gar nicht gehört.

            Vielleicht ist Vergebung möglich, wenn wir zu allem Abstand gewonnen haben, wenn Gott das Böse zum Guten gewendet hat - nicht aber in der Situation selbst.

            Aber ist das denn nicht genau das Gegenteil von dem, was das Evangelium sagt? Vielleicht. Aber eine Vergebung, die den Ernst der Vergebung verachtet, ist gar keine Vergebung. In gewisser Weise umfasst die Unveröhnlichkeit das Evangelium. Denn sie hebt die Gnade Gottes, die Vergebung Gottes, von der wir leben, ins rechte Licht. Denn die Gnade Gottes umfasst ja auch den SS-Offizier. Sie gilt auch ihm, obwohl wir sie nicht aussprechen können. Sie hat auch für ihn Platz, wie unverständlich es uns auch erscheinen mag. Es ist unverständlich - aber es bedeutet, dass auch für uns Platz daist, auch wenn wir zur Vergebung nicht imstande sind. Amen.



Pastor Peter Nejsum
Slangerup (Dänemark)
E-Mail: pene(a)km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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