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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 08.11.2009

Predigt zu Lukas 17:20-24, verfasst von Hanna Hartmann

Liebe Gemeinde!

Wie oft ist es so: man lebt sein Leben, seinen Alltag; man hat seine Gewohnheiten, liebgewordene oder auch lästige; man plant und wird verplant, gibt sich der Arbeit hin, den Unternehmungen oder auch der Langeweile. Ernst K. ging es genauso. Er hat Familie, ist Lehrer und lebt im Rhythmus der Schule mit ihren Stress- und Freienzeiten. Doch dann bemerkt er eines Tages eine Beule an seinem Rücken, was sich als Tumor an seiner Niere herausstellt. Und plötzlich ist alles anders.

Liebe Mitchristen, dies ist eine Geschichte von anderen, die auch Sie erzählen könnten, wie das Leben in seiner Selbstverständlichkeit auf einmal einen Riss bekommen kann oder bekommen hat. Und dass es diese Risse überall gibt - nicht nur am eigenen Leib - , das erkennt und spürt jede/r, der nicht gerade blind und dumpf ist. Ein Blick in die Zeitung, ein paar Minuten Nachrichten im Radio - und die Zahlen von Verletzten und Getöteten bei Anschlägen in Kabul, die Flutkatastrophe auf den Philippinen, die Christenverfolgung in Somalia, Menschrechtsverletzungen in China oder das weltweite Artensterben sind ein einziger Aufschrei: Unsere Welt ist nicht heil. Risse überall. Haben wir uns damit abgefunden (Hauptsache mir geht es gut!) oder wissen wir noch, was Sehnsucht ist? Sehnsucht nach Frieden, nach Gerechtigkeit, nach Fürsorge und einem Zuhause für alle Menschen ohne Angst und Streit? Das meint die Bibel, wenn sie vom „Reich Gottes" spricht, und worum wir auch bitten, wenn wir im Vaterunser beten „Dein Reich komme".

In unserem heutigen Bibeltext für die Predigt, kommen Menschen zu Jesus, die Sehnsucht haben nach dem Reich Gottes und wissen wollen, wann es denn endlich so weit ist. Ich lese aus dem Lukas-Evangelium, Kap. 17:

Einige Pharisäern kamen zu Jesus und fragen ihn: Wann kommt das Reich Gottes? Da antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein. Zuvor aber muss er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.          

Lk 17,20-24 (25-30.33)

Liebe Gemeinde, da sind Menschen, die sich danach sehnen das Reich Gottes zu erleben: Rabbi, wie lange dauert es denn noch? Hoffentlich sind wir dann auch am richtigen Ort, so dass wir es mitkriegen und nicht verpassen!

Jesus hört sich diese Sorgen und Fragen an. Er wehrt sie nicht ab,  wertet sie auch nicht ab, da er doch selbst am Unheil dieser Welt, an den vielen Rissen leidet. Doch er weiß auch um die Gefahr fixer Zukunftsvorstellungen und errechneter Reich-Gottes-Termine. Deshalb macht er ihnen klar, dass jeder, der dies terminlich zu errechnen oder örtlich zu bestimmen versucht, an Gottes Ort und Gottes Zeit vorbei sucht und vorbei lebt.

Wie viele haben sich daran schon versucht und sind gescheitert. Ein J.A. Bengel hatte einst das Jahr 1837 berechnet. Nicht wenige Gläubige hatten damals ihr Hab und Gut verlassen, um gen Osten, dem Herrn entgegen zu ziehen. Sicher, der war auch dort. Aber das große Ereignis zum errechneten Zeitpunkt blieb aus. Was kam, war die große Enttäuschung. Oder da war die Wachturmgesellschaft: Sie hatte einst das Jahr 1914 errechnet. Ebenso eine Fehlanzeige.

So wenig wie Gott sich fassen, fixieren und beweisen lässt, so wenig auch sein Reich und sein Wirken in dieser Welt. Das Reich Gottes ist mitten unter euch! - sagt Jesus. Ihr braucht nicht in die Zukunft zu starren oder sonst wohin zu laufen, nein: Es ist mitten unter euch! Oder wie es der Wochenspruch sagt: „Siehe, jetzt ist die zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!"

Wir wissen nicht, wie die Leute damals , die zu ihm gekommen waren, auf diese Antwort reagierten. Ob sie kopfschüttelnd weggingen oder aufhorchten. Das liegt bei jedem einzelnen. Auch heute.

Was meint denn Jesus damit, dass das Reich Gottes „mitten unter uns" sei?

Immer wieder treffe ich Menschen, die nach der perfekten Gemeinde suchen, die so etwas wie „Himmel auf Erden" sein soll. An unserer Gemeinde hier vor Ort haben sie dies zu kritisieren und jenes zu bemäkeln: zu unpersönlich, zu wenig locker, zu alt, zu sonst was. Und dann wandern sie weiter und weiter und suchen weiter und weiter und bleiben selbst unpersönlich und unverbindlich und werden selbst alt. Es stimmt: Wir sind keine perfekte Gemeinde. Aber wissen Sie was: Ich glaube ganz fest, dass wir das auch gar nicht zu sein brauchen! Doch wenn wir das Wenige, das wir sind, das wir haben und können, einbringen und einsetzen, dann geschieht genau das, was Jesus „Reich Gottes" nennt: Erfahrung von Gottes liebender und heilender Gegenwart hier und heute.

Ich denke an unseren Arbeitkreis Asyl. Es sind nur eine Handvoll Leute, die aber mit ihrem Hingehen und Zuhören und Begleiten das tun, was Flüchtlinge bei uns brauchen: dass sie als Menschen in ihrer Not und auch ihrer Freude wahrgenommen werden.

Ich denke an die vielen Treuen in unserer Gemeinde, die Besuche machen bei Kranken und Alten: eine kleine Freude vorbeibringen, ein Mittagessen kochen, etwas vorlesen oder einfach nur mal reinschauen und nachfragen. Niemand anders weiß davon und niemand sieht es. Und doch geschieht es. Reich Gottes - ganz im Verborgenen, aber ganz persönlich.

Und ich denke heute, zum Beginn der Friedendekade, auch an die im Frühjahr verstorbene Ruth Haller. Sie hat als vom Krieg gezeichnete Frau den Schalomgottesdienst in Tübingen mitbegründet, das Gebet für den Frieden. Und bei ihrer Beerdigung sangen wir „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?" Ihren studentischen Mietern war sie nie nur Vermieterin, sondern immer auch eine interessierte und anregende Gesprächspartnerin und so etwas wie eine Mutter. Bis ins hohe Alter von über 90 Jahren.

Reich Gottes in vielen Farben und Facetten!

In dem allem kommt zum Tragen, was in uns lebt, was uns beseelt und beflügelt. Wem nur das eigene Wohl, die eigene Familie, Besitz und Erfolg oder Spaß-Haben wichtig ist, dem wird das Reich Gottes verschlossen bleiben; für den gehört der Glaube zur Kategorie „wellness". Doch für den, der Christus von Herzen und mit seinem Leben nachfolgt, ist Reich Gottes immer und überall möglich und da. Nicht weit weg, sondern hier und heute. Und sei es auch nur bruchstückhaft. Bis es dann zu Gottes Zeit in ganzer Fülle kommen wird, öffentlich und für alle sichtbar, wie ein Blitz am Himmel. Und alles Fragen wird sich dann erübrigen, und alle Sehnsucht wird gestillt sein.

Doch bis dahin werden uns Leid, Not und Krankheit nicht erspart bleiben, so wenig wie sie Jesus erspart blieben. Er ahnt schon sehr deutlich, was ihm blüht, wenn er sagt: „Zuvor aber muss der Menschensohn viel leiden und verworfen werden" und spielt damit an auf sein eigenes Leiden und Sterben. Und für ihn ist es ganz klar, dass Leid und Not weder ihm noch den Seinen erspart bleiben werden.

Heute wird in vielen Gemeinden außer für den Frieden auch für unterdrückte und verfolgte Christen weltweit gebetet. Sie, die um ihres Glaubens und ihrer guten Taten willen Nachteile erleiden oder gar Vertreibung und Tod fürchten müssen, nehmen dadurch hautnah am Schicksal Jesu teil. Auch wenn ihnen die Nähe Gottes verheißen ist, so ist es doch unsere Aufgabe, unseren Mund im Gebet und in der Öffentlichkeit für sie aufzutun.

Das Leid mag bei jedem/r von uns anders aussehen. Aber die Not lässt auch uns- ohne sie verklären zu wollen - erfahren, dass Gott hier und heute darin bewahren und daraus erretten kann. Und sie halten uns sensibel für die großen Leiden dieser Welt. Sie erinnern uns spürbar und schmerzlich an die Risse unseres irdischen Lebens und halten unsere Sehnsucht wach für das kommende Gottesreich. Das kommt und doch auch schon „mitten unter uns" in wundersamer Weise gegenwärtig ist.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

 

Fürbitten

Du Gott des Friedens, immer wieder hast du Zeichen gefunden,
die uns deines Friedens mit uns Menschen versichern.
Ob der Regenbogen am Himmel oder das Kreuz auf Golgatha -
sie weisen uns auf dich und auf den Weg des Friedens.
Wir bitten dich für unsere oft so friedlose Herzen,
dass sie Ruhe finden in dir.
Wir bitten dich für unsere Familien,
für die verschiedenen Generationen,
die sich manchmal schwer tun mit dem gegenseitigen Verstehen. Wir bitten dich für die Länder,
die unter Bürgerkrieg oder Terror leiden, für Opfer und Täter.
Erbarme dich aller.

Du Gott des Friedens, wir danken dir heute für das,
was vor 20 Jahren geschah,
als die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland fiel.
Noch immer ist es für uns ein großes Geschenk und wie ein Wunder, dass der Friedenswille stärker war als alle Gewalt.
Wir bitten dich, dass wir - im Westen wie im Osten -
daran bleiben,
die Mauern der Fremdheit und der Vorurteile weiter abzubauen. Stärke unseren Willen zum Frieden.
Erbarme dich unser.

Du Gott des Friedens,
wie oft wurde deine Liebe mit Füßen getreten,
dein Wille verachtet und dein Volk erniedrigt.
Wir denken heute auch besonders an unsere
jüdischen Schwestern und Brüder, die in unserem Land
schutzlos den Mächten des Bösen ausgeliefert waren.
Wie oft wurde aus Feigheit geschwiegen
oder um eines faulen Friedens willen.
Vergib, Herr, wo uns das eigene Wohl blind macht
für das Wohl des Nächsten.
Um Frieden bitten wir dich für den Nahen Osten: für Juden und Araber, für Palästinenser und Israelis, für Christen und Muslime.
Erbarmer dich, Herr.

Du Gott des Friedens,
wir bitten dich für alle Christen auf der ganzen Welt,
die um ihres Glaubens willen verachtet, benachteiligt, schikaniert oder verfolgt werden.
Besonders denken wir an die Christen in Nordkorea und Saudi-Arabien, im Iran, in Afghanistan und Somalia.
Wehre allen Regierungen, die Menschen um ihres Glaubens willen unterdrücken und töten oder dies ungestraft zulassen.
Den Verfolgten sei besonders nahe, stärke sie
und birg sie in deinem großen Frieden.
Erbarme dich deiner weltweiten Kirche.




Hanna Hartmann

E-Mail: hartmann.tuebingen@web.de

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