Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 08.11.2009

Predigt zu Lukas 17:20-24, verfasst von Anke Fasse

Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde: „Wann kommt das Reich Gottes?", antwortete er ihnen und sprach: „Das Reich kommt nicht so, dass man's beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn, siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch."

Er sprach aber zu den Jüngern: „Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin, und lauft ihnen nicht nach! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein."

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

Novembertage. Zeit vieler Gedanken und Rückblicke. Schrecken und Wandel in der Geschichte kommen wieder besonders in den Blick. Persönliche Abschiede und Vergänglichkeit gilt es auszuhalten. In vielen Kirchen und Gemeinden beginnt die Friedensdekade. Novembertage - eine Zeit geprägt vom Erinnern; eine Zeit geprägt vom Gefühl der Vergänglichkeit; eine Zeit geprägt von einer großen Sehnsucht nach einer friedvollen Gegenwart und Zukunft. Wann und wie wird diese Sehnsucht erfüllt?

Leipzig und Berlin im Herbst 1989.

Es liegt eine besondere Atmosphäre in der Luft. Vieles ist passiert. Zunächst ganz allmählich. Menschen, die nicht einverstanden waren mit dem Regime in der DDR haben sich zusammengefunden - vor allem auch unter dem Dach vieler Kirchen. Immer mehr wurden es. Ihr Anliegen und ihre Gebete strahlten aus. Immer mehr Menschen brachen aus den festen Mauern aus und machten sich über Ungarn und die Tschechoslowakei auf in den Westen. Friedensgebete und Friedensdemonstrationen im warmen Licht unzähliger Kerzen sind zu einer großen Bewegung geworden. Eine Zeit, geprägt von einer großen Sehnsucht nach einer gerechten, freien, friedvollen Zukunft. Am 9. November geschieht das Unglaubliche: Die Berliner Mauer fällt. Menschen, die jahrzehntelang durch unüberwindbare Zäune und Mauern getrennt waren, liegen sich in den Armen. Der Weg zu Freiheit und Demokratie ist nicht mehr umkehrbar und aufzuhalten. Eine Sehnsucht hat sich erfüllt, ist Wirklichkeit geworden.

Jesus wurde gefragt: „Wann kommt das Reich Gottes?" Und er sagte: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch." 

Irgendwo zwischen Jerusalem und Galiläa um das Jahr 30 herum.

Viele Menschen leiden unter der Herrschaft der Römer. Überhaupt sind die Lebensbedingungen sehr hart. Unzufriedenheit macht sich mehr und mehr breit. Daneben die Hoffnung, dass endlich der schon lang verheißene Messias kommt und sich das Reich Gottes erfüllt. Eine Zeit, geprägt von einer großen Sehnsucht nach einer gerechten, freien, friedvollen Zukunft. Eine Zeit, in der Jesus durch das Land zieht und viele unterschiedliche Menschen um sich versammelt. Er predigt von der Liebe Gottes und dem Anbruch des Reiches Gottes. Er sucht Tischgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern. Er macht Kranke gesund und weckt Tote auf. Unglaubliches geschieht, wird weitererzählt, wird erfahren, ist nicht zu bremsen, ist Wirklichkeit geworden.

Jesus wurde gefragt: „Wann kommt das Reich Gottes?" Und er sagte: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch."

Lima und viele andere Orte im November 2009.

Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Weltanschauung kommen zusammen und erinnern sich an die Schrecken und Grausamkeiten, die sich am 9. November 1938 in der sogenannten Reichskristallnacht ereigneten und immer mehr um sich griffen. Wie konnte es zu solchen Ungeheuerlichkeiten kommen? Zu solch umfassenden Wahn? Zu solcher Verachtung von Menschenrechten und von Nächstenliebe? 61 Jahre später kommen Menschen hier in Lima und an vielen anderen Orten zusammen. Juden und Deutsche. Nachkommen, von Menschen, die damals in Deutschland lebten als Juden und Christen. Nachkommen von Menschen, die zu unvorstellbarem fähig waren. Nachkommen von Menschen, die unvorstellbares erlitten haben. Sie kommen zusammen um miteinander zu beten. Sie laden zum Gespräch ein, zum miteinander Essen. Eine Zeit, der vielen kleinen Schritte gab es, damit sich in diesen Tagen solche Treffen, solche gemeinsamen Gebete ereignen. Jüdisch-christliches Versöhnungsgebet am 10. November 2009 in der Synagoge in Lima - eine Zeit der Sehnsucht, dass Klagen erhört werden, dass Vergebung geschehe, wo nach menschlichem Ermessen keine Vergebung möglich ist, dass Verständigung und Frieden wachse, dass Gottes Reich mitten unter uns endlich anbreche. Und ich sehe mich dem Rabbiner in der Synagoge gegenüber, sehe dort all die verschiedenen Menschen vereint, jüdische Männer und Frauen, katholische und evangelische Christen, sowie viele andere und erfahre: Unglaubliches ist Wirklichkeit geworden und ich erlebe so das Reich Gottes mitten unter uns. Wann? Jetzt!

Liebe Gemeinde, nicht nur im November sind Menschen oftmals erfüllt von einer großen Sehnsucht. Es mögen je nach eigener Situation ganz unterschiedliche Sehnsüchte sein: die Sehnsucht nach Sinn für das eigene Leben und Handeln, die Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit in unserer einen Welt, nach Frieden - Schaf und Wolf mögen endlich friedlich nebeneinander ruhen - nirgendwo auf der Welt sollen Soldaten gegeneinander Krieg führen, oder sei es auch „nur" die Sehnsucht nach Hoffnung für den nächsten Tag, oder die Sehnsucht und Hoffnung, dass der Tod nicht das Letzte ist, dass es nach dem Horizont weitergeht.

Diese Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen gehören zu uns Menschen wohl seit jeher dazu. Schon das Alte Testament ist voll davon. Auch Jesus führt darüber Gespräche, nicht nur mit Pharisäern und Schriftgelehrten. Und heute, wohl auch mir und dir, ist Sehnsucht nicht fremd. Zum Glück! Denn wo es ein Gespür dafür gibt: So kann es nicht bleiben. So ist es nicht gut. Wo eine Sehnsucht nach mehr ist, da sind Menschen offen, offen für neue Wege, für Licht aus einer anderen Welt, für Gott. Sie, - ja wir, lassen uns ansprechen und in Bewegung versetzen, Sehnsüchte zu erfüllen, an Gottes Reich mitzubauen. - Das ist das Eine.

Aber das Andere ist, gerade mit Blick auf die Antwort, die Jesus den Pharisäern gibt: „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch," dieses Reich Gottes auch in der Gegenwart  wahrzunehmen. Das Reich Gottes ist immer auch schon Gegenwart. Drei Beispiele habe ich im Verlauf der Predigt angerissen. Jeder und jede kann mehr, kann andere, kann eigene finden. Wichtig ist: Neben aller Sehnsucht nach mehr, nehmt wahr, wo das Reich Gottes in der Gegenwart spürbar wird, wo es sich fühlbar ereignet. Atmet etwas davon ein, lasst euch davon erfüllen. Nein, es ist noch nicht vollendet, aber es ist  im Werden.

Das Reich Gottes ist wahrlich noch nicht vollendet. Unzählige Beispiele und Erfahrungen könnten wir jetzt nennen. Ein Blick in die Zeitung oder den Fernseher genügen. Mein Blick wendet sich wieder zu Jesus, zu seiner Leidensgeschichte, zu seinem Tod und natürlich zu seiner Auferstehung. Und ich meine, dies ist ein Fingerzeig, dass sich wider allen Augenschein das Reich Gottes nicht aufhalten lässt.

Liebe Gemeinde, das Reich Gottes ist mitten unter uns. Es wirkt hier und da in unseren Alltag hinein. Gott schenkt uns dabei etwas von seinem Licht und seiner Liebe, die er für uns bestimmt hat. Und doch kommt das alles nicht von selbst, sondern es ereignet sich durch Menschen, die sich von einer Sehnsucht leiten lassen, die sich von einem Traum leiten lassen, die sich von Gott leiten lassen. Gehören wir dazu, damit immer mehr Menschen in allem Erinnern, in aller Erfahrung der Vergänglichkeit erfahren und sagen können: Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter uns.

Amen.



Pfarrerin Anke Fasse
Lima (Peru)
E-Mail: pastora@ev-kirche-peru.org

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