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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, 15.11.2009

Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Sven Keppler

I. Wenn Gladys die Arztpraxis betritt, denkt sie sich jedes Mal einen Namen aus. Mal ist sie Gladys, mal Francis oder auch Martha. Zum Glück erinnern sich die Mitarbeiterinnen an die große schwarze Frau und müssen nicht jedes Mal eine neue Karteikarte anlegen.
Gladys war nach der Fußball-WM in Deutschland geblieben und lebt hier bis heute - illegal. Sie ist im achten Monat schwanger. Ist nicht krankenversichert und hat kein Geld. Von der Malteser Migranten Medizin wird sie anonym und unentgeltlich behandelt. Im Magazin „Chrismon" wurde ihre Geschichte erzählt.
Gladys hat keinen festen Wohnsitz. Sie reist umher, von einem Freund oder flüchtigen Bekannten zum nächsten. Sie findet nur selten Arbeit und ist oft auf Hilfe angewiesen. „Ich spreche meist Afrikaner an", sagt sie. Fragt nach einem Platz für die Nacht. Bittet um Essen oder um Geld für eine Fahrkarte.
Einige Zeit wohnte Gladys bei einer alleinerziehenden Frau. Aus Furcht, ihre Gastfreundschaft zu sehr zu strapazieren, aß sie nur einmal am Tag von dem angebotenen Essen. „Die Frau hatte auch kein Geld", sagt sie.
Gladys ist groß, hat breite Schultern, trägt bunte Kleider. Ihre Stimme ist tief. „Seit ich schwanger bin, ist alles noch schwieriger geworden", sagt sie. Vorher war es einfach, ein Nachtlager zu bekommen. Vor Schwangeren haben aber anscheinend viele Angst. Angst, ihr helfen zu müssen, wenn die Wehen einsetzen. Oder verantwortlich zu sein, wenn es zu Komplikationen kommt.
Wer Gladys sieht, hat Gott vor sich. Mit ihrer dunklen Haut und dem kräftigen Körper. Mit ihrem hochschwangeren Bauch. Gott selbst blickt aus ihren dunklen Augen und spricht aus ihrem geschwungenen Mund.

II. Im Altertum gab es immer wieder Geschichten von Göttern in Menschengestalt. Berühmt ist die Erzählung vom König Amphitryon. Als er im Krieg war, nahm Zeus sein Aussehen an. Der Gott besuchte Amphitryons schöne Frau Alkmene und zeugte mit der Ahnungslosen ein Kind - den Wunderknaben Herakles.
Der römische Kaiser Augustus wurde als Gottessohn in Menschengestalt bezeichnet. Schließlich war sein Adoptivvater Julius Caesar. Und der war nach seinem Tod zum Gott erklärt worden.
Auch das Neue Testament berichtet davon, dass Gott Mensch geworden ist. Dass ein ganz bestimmter, sterblicher Mensch zugleich der unsterbliche Gottessohn ist. Jedoch nicht, um wie der allzumenschliche Zeus seine göttliche Potenz auszuleben. Und auch nicht als politischer Machthaber, dessen gewalttätige Herrschaft durch den göttlichen Nimbus geadelt werden sollte.
Der Mensch, in dem Gott zur Welt kam, war mittellos. Oft obdachlos. Ein Wanderer in der Fremde, von der Obrigkeit verfolgt. Dieser Jesus machte kurz vor seinem Tod eine Prophezeiung. Sie handelt davon, wie Menschen ihm - und dadurch Gott - in Zukunft begegnen werden. Ich lese aus dem Evangelium nach Matthäus [Mt 25,31-46].

III. Liebe Gemeinde, Sie können in diesen Worten vor allem die Aufforderung hören, Gutes zu tun. Hungrige und Durstige zu speisen. Kranke und Gefangene zu besuchen. Migranten zu unterstützen und Arme zu kleiden.
Es ist gut, wenn diese Aufforderung Sie berührt. Und noch besser, wenn Sie im Alltag etwas davon verwirklichen. Wenn Gladys nicht immer wieder unterstützt worden wäre, dann wäre ihre Tochter wahrscheinlich nie zur Welt gekommen. Und wäre nicht auf den wunderbaren Namen Hope getauft worden - „Hoffnung".
Das Christentum hat die Fürsorge immer wieder ins Zentrum gestellt. In den letzten Tagen sind unzählige Kinder „Laterne gegangen". Haben auch hier in dieser Stadt an Martinszügen teilgenommen. Vielleicht haben ihre Eltern oder die Erzieherinnen ihnen ja erzählt, was es damit auf sich hat.
Haben erzählt vom Heiligen Martin von Tours. Von dem Soldaten zu Pferd und mit dem roten Mantel. Von dem unbekleideten Bettler, dem Martin begegnete. Haben erzählt, wie Martin seinen Umhang nahm und ihn mit dem Schwert in zwei Hälften teilte, um den Bettler zu kleiden. Martin war eben erst Christ geworden. Bestimmt hatten ihn Jesu Worte vom Weltgericht tief berührt.

Aber wir haben von diesem großartigen Text nur einen Mantelzipfel ergriffen, wenn wir ausschließlich die Aufforderung zur Fürsorge darin hören. Diese Aufforderung begegnet uns auch an vielen anderen Orten. Hier spricht Jesus jedoch von etwas Unerhörtem. Es ist so steil, so unglaublich, dass man fast darüber hinweghört.
Man kann den Text mit Kinderohren hören. Jesus sagt dann: „Ich freue mich, wenn Ihr für Menschen in Not sorgt. Ich freue mich darüber, als ob Ihr mir selbst geholfen hättet." Aber, liebe Gemeinde: Hier steht kein „als ob". Sondern der richtende König, also Jesus, sagt: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Jesus sagt dadurch: Der Hungrige, der auf ein Stück Brot angewiesen ist, das bin ich selbst. Die Fremde, die ein Dach über dem Kopf sucht, das bin ich selbst. Die Kranke, die medizinische Versorgung braucht - ich selbst bin das. Ich bin das Opfer von Krieg und Unrechtsherrschaft, an das Ihr heute beim Volkstrauertag denkt.
Ich bin Gladys, sagt er. Ich habe ihre schwarze Haut und ihren schwangeren Bauch. Ich lebe in der Illegalität und habe täglich Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden. Wer ihr hilft, der hilft mir. Wer sie ignoriert, der meidet mich. Und wer mir die Hilfe verweigert, der vergeht sich an Gott.

IV. Gott ist nicht nur einmal Mensch geworden - das ist die geheimnisvolle Botschaft unseres Textes. Eigentlich ist es schon unglaublich genug, dass er überhaupt einmal Mensch geworden ist. Als Jesus sich dazu bekannt hat, der Sohn Gottes zu sein, hat es ihn das Leben gekostet.
Aber müssen wir aus den Worten Jesu nicht den Schluss ziehen, dass Gott immer wieder Mensch wird? Viele Millionen Mal, in jedem Notleidenden, dem es an Nahrung und Kleidung fehlt?
Wenn ich diese Fragen stelle, wird mir selbst unheimlich. Ist das nicht irgendwie gotteslästerlich? Vergehe ich mich nicht an Jesus und seiner Einzigartigkeit, wenn ich jeden Bettler mit ihm gleichsetze? Gladys hat immerhin das Recht gebrochen, als sie einfach in Deutschland geblieben ist. Und es klingt nicht so, als ob sie auf moralisch völlig unbedenkliche Art schwanger geworden sei.
Vielleicht verstehen wir dann die Worte Jesu richtig, wenn wir sagen: Jesus identifiziert sich mit jedem Menschen in Not. Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen Jesus und den vielen Not leidenden Menschen. Und es ist gut, dass es diesen Unterschied gibt. Denn Jesus hatte eine Aufgabe, die normale Menschen grenzenlos überfordert.
Wir sind nicht zum Erlöser gemacht. Wir sind aus anderem Holz geschnitzt. An uns kann man nicht die vorbehaltlose Liebe Gottes ablesen, so wie sie an Jesus erfahrbar wurde. Jesus identifiziert sich mit einem jeden Menschen in Not. Auch das würde uns überfordern.
Insofern hat die kindliche Vorstellung doch ihr Recht, die ich eben erwähnte. Wenn jemand einem Menschen in Not hilft, dann ist es tatsächlich, als ob er oder sie Jesus selbst geholfen hätte. Jesus identifiziert sich mit dem hilfsbedürftigen Menschen. Wörtlich heißt das: Er macht sich mit diesem Menschen gleich.
Aber es ist eben ein ganz starkes „als ob". Eines, das eine echte, tiefe Verbindung ausdrückt. Eine Verbindung, die bis in die Mitte der Person reicht. Und die nicht wieder aufgehoben werden kann.

V. Ich darf sogar noch einen Schritt weiter gehen. Jesus identifiziert sich nicht nur mit den Gefangenen und Kranken. Er identifiziert sich mit jedem Menschen, der an ihn glaubt. Das entwertet nicht die besondere Fürsorge für die Bedürftigen. Sondern darin zeigt sich die tiefe Bedürftigkeit, die jeder Mensch hat.
Auch von Ihnen, liebe Gemeinde, sagt Jesus das: Was man Ihnen Gutes tut, das ist Jesus selbst getan. Und was man Ihnen verweigert, das hat man Jesus verweigert. Sie sind nicht nur als diejenigen im Blick, die helfen sollen. Sondern auch als diejenigen, die ein Recht auf Beistand und Zuwendung haben.
Die Erinnerung an dieses Unglaubliche ist die Taufe. Die Taufe ist das sakramentale Zeichen dafür, dass Gott sich mit Ihnen identifiziert hat. So wie Jesus im Jordan getauft wurde, so sind auch Sie getauft worden. So wie der Heilige Geist bei der Taufe zu Jesus kam, so auch zu Ihnen. So wie Jesus zu Ostern auferstanden ist, so sind auch Sie aus dem Wasser der Taufe lebendig aufgetaucht und müssen den Tod letztlich nicht mehr fürchten.
Die Taufe ist das Wahrzeichen dafür, dass Gott sich mit Ihnen identifiziert hat. Dass Sie und ich mit Gott verbunden sind, für immer. Und dadurch verbindet die Taufe uns auch untereinander. Zur Kirche, zur Gemeinschaft der Glaubenden.
Das bedeutet, dass auch wir uns miteinander identifizieren sollen. Wenn es einem von uns gut geht, dürfen wir uns mit ihm freuen. Wenn eine von uns Hilfe braucht, sind wir gefordert. Wir sollen, wir dürfen füreinander einstehen. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass Jesus einst sagen wird: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Amen.


Die Geschichte von Gladys ist dem Artikel „Jahre im Verborgenen" von Markus Götte entnommen, in: Chrismon plus. Das evangelische Magazin, 10.2009, S. 68-72.



Pfarrer Dr. Sven Keppler
Lünen
E-Mail: sven.keppler@kirchengemeinde-luenen.de

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