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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Buß- und Bettag, 18.11.2009

Predigt zu Lukas 13:1-9, verfasst von Bernd Giehl

Vor der Wand stehen - oder: Was heute Buße heißen könnte

Vorbemerkung: In den meisten Predigten, die ich zu diesem Text gelesen habe, geht es hauptsächlich um den zweiten Teil, das Gleichnis vom Feigenbaum. Ich kann das gut verstehen. Der erste Teil ist von einer Härte, die man fast nicht aushält. Aber womöglich ist die Verweigerung, sich mit dieser Härte auseinanderzusetzen hin und wieder auch Flucht vor etwas, was man nicht ertragen zu können, meint. Es ist eben leichter, sich gleich auf den zweiten Teil des Textes zu beziehen.  Wie auch immer: Ich habe einen anderen Weg gewählt. Es hat lang gedauert, bis ich diesen Weg gefunden hatte, aber mittlerweile bin ich froh darüber, dass ich mich so entschieden habe.

Es war am frühen Nachmittag, als ich schließlich vor der Wand stand. Den ganzen Morgen über hatte ich versucht, ein bestimmtes Problem mit meinem PC zu lösen. Ich hatte einige Male mit Microsoft telefoniert, war in die Warteschleife geraten, hatte versucht, eine bestimmte Website aufzurufen, auf der ich angeblich Hinweise finden würde, wie ich das Problem lösen kann, das ich mir nicht einmal selbst verursacht hatte, war nicht weitergekommen, hatte wieder angerufen, hatte in der Warteschleife gehangen, war weiterverbunden und schließlich abgehängt worden. Irgendwann hatte ich beschlossen, dass es genug wäre mit dem Frust. Also hatte ich mich dem Text zugewandt, den ich für die „Göttinger Predigten im Internet" bearbeiten sollte, war auf die Idee gekommen, dass ich womöglich in Drewermanns Auslegung des Lukas Evangeliums etwas finden könnte, was mich weiterbringe würde. Denn der Text - seien wir ehrlich - ist nicht gerade einfach. Also fuhr ich die 50 Kilometer von meinem Wohnort bis zu der Bibliothek, wo ich, wie ich meinte, den Band, den ich suchte,  schon einmal gesehen hatte. An einem Autobahnkreuz war die Richtung, die ich gebraucht hätte, gesperrt. Der Grund war nicht zu erkennen. Erst einmal musste ich in die Gegenrichtung. Dann fand ich eine neue Möglichkeit, wieder nach Norden zu kommen. Nach einer guten Stunde Fahrt stand ich vor dem Regal, in dem die Monographien zum Neuen Testament stehen. Die Bände zu Markus und Matthäus waren zu finden, auch die beiden Bände zu Johannes, aber der Band zum Lukasevangelium, den ich suchte, war nicht da.

„Voll gegen die Wand gelaufen", hätten meine Konfirmanden dazu gesagt.

*

Manchmal befindet sich vor uns nur noch die Wand. Ich kann nicht behaupten, das sei eine angenehme Erfahrung. Wahrhaftig nicht. Und doch hat genau diese Erfahrung mir geholfen, mit meinem Text weiterzukommen.

Da kommen also Menschen, die nicht weiter beschrieben werden, zu Jesus und erzählen ihm von dem Blutbad, das Pilatus unter Pilgern angerichtet hat, die zu einem hohen Fest nach Jerusalem gekommen sind. Die römischen Soldaten sind in den heiligen Tempelbezirk eingebrochen - ein Frevel, der nicht wiedergutzumachen ist - und haben wahllos Pilger umgebracht. Noch in der Formulierung Pilatus habe das Blut der Pilger mit dem  Blut der Tiere vermischt, die sie im Tempel opfern wollten,  ist die Empörung zu hören. Nein, sie stellen keine Frage. Es ist klar, dass sie von Jesus wissen wollen, was er zu diesem ungeheuerlichen Verbrechen sagt. Ob da Sensationslust mitschwingt? Es ist möglich. Oder die Frage, was diese Menschen Böses getan haben, dass sie so umkommen? Auch das ist möglich. Oder ob sie froh sind, dass sie nicht dabei waren und also selbst noch einmal davongekommen sind? All diese Motive mögen mitschwingen. Und dennoch meine ich, ihre Frage sei berechtigt. Selbst wenn sie die Frage, wo Gott denn in diesem ganzen blutigen Geschehen war, mit einschließt. Wenn nicht einmal das Heiligste vor der Gewalt sicher ist, dann ist die Welt in Gefahr, in Stücke zu fallen.

Oder denke ich an dieser Stelle zu modern? Schon möglich. Aber es hilft ja nichts. Wir hören die Frage dieser Menschen nun einmal mit anderen Ohren. Wir fragen, ob Gott es gewollt hat, dass am 11. September 2001 die beiden Flugzeuge die Türme des World Trade Centers zum Einsturz brachten, dabei Tausende von Menschen töteten und ein politisches Beben auslösten, das bis heute anhält. Wir fragen bei den Katastrophen und Verbrechen unserer Zeit, wo Gott war, als sie geschahen. Als die Juden ins Gas getrieben wurden. Oder als der Tsunami über die Küsten Südasiens kam und Tausende umkamen. Wir können gar nicht anders. Würden wir aufhören, dann würden wir auch aufhören, an irgendeinen Sinn der Welt oder unseres Lebens zu glauben.

Und dann stelle ich mir vor, ich würde einem, der fragt, wo Gott war, als das alles am 11. September 2001 passierte,  ebenso antworten wie Jesus. „Meinen Sie, mein lieber Herr X. dass die Menschen, die damals im World Trade Center umkamen, schuldiger waren als andere New Yorker oder als Sie selbst? Nein, sondern wenn Sie nicht Buße tun, werden Sie genauso umkommen." Wenn ich es wirklich täte, dann würde wohl eine Sondersitzung des Kirchenvorstands über mich einberufen. Und zwei Wochen später wäre ich vom Dienst suspendiert.

Aber nun habe ich mir diese Antwort ja nicht selbst ausgedacht, sondern es ist Jesus, der sie gibt. Sie ist schockierend. Wenn wir uns - unvorsichtig wie wir ja manchmal sind - mit den Fragestellern identifizieren, laufen wir vor die Wand.   Aber so hart man auch gegen sie anrennt; die Wand ist stärker.

*

An dieser Stelle möchte ich von mir selbst erzählen. Ich habe mir an dieser Frage - der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes - oft genug den Kopf blutig gestoßen. Es war die Frage, , was Gott mit dem Bösen zu tun habe, die mir in der Oberstufe des Gymnasiums gestellt wurde, an der mein Kinderglaube zerbrach und die mich drei Jahre später zum Theologiestudium brachte. Ein paar vorläufige Antworten habe ich gefunden; aber keine, die mich wirklich befriedigt. Und manchmal, zum Beispiel, wenn ich Texte wie diesen bearbeite, stehe ich wieder vor der Wand.

Nur dass die Erfahrung diesmal fruchtbarer war, als zu anderen Zeiten. Manchmal, so denke ich, muss man vor der Wand stehen, um zu lernen, dass es so nicht weitergeht. Insofern kann ich Jesus Antwort verstehen. Wenn ich es ein wenig einfühlsamer formuliere, dann sagt er damit: Du hast die Wahl, ob du dir den Kopf an dieser Wand einrennen willst oder ob du es nicht lieber einmal mit der Anerkennung der Tatsache versuchst, dass Gott heilig ist. Dass Menschen seine Wege oft nicht verstehen. Und sie sich trotzdem nicht blind unterwerfen müssen, sondern ihm vertrauen können. Selbst dann, wenn sie diese Wege nicht verstehen.

*

Doch, ja, jetzt habe ich es schon ein bisschen einfühlsamer formuliert. Ob es hilft? Vielleicht. Kommt darauf an, ob man bereit ist, die Antwort Jesu nicht als Provokation zu hören. Und das geht nur dann, wenn man ihr die Spitze nimmt. Sein „Wenn ihr nicht umkehrt ..." ist ja tatsächlich von einer Härte, die schon empörend ist. Wahrscheinlich braucht es einige Erfahrung mit dem Scheitern an dieser Frage, bis man den heilsamen Kern wirklich hören kann. Dieser Kern heißt: Ihr müsst die Richtung zu wechseln.  An der Stelle kommt ihr nicht mehr weiter.

Und hier kommt nun tatsächlich dieses alte und so furchtbar abgegriffene Wort Buße ins Spiel. Es wäre gut, wenn wir an dieser Stelle erst einmal alles vergessen könnten, was wir mit dem Wort „Buße" verbinden. Vor allem diesen freudlosen Beiklang von „in Sack und Asche gehen", den wir fast automatisch damit verbinden. Das Wort, das Luther mit „Buße" übersetzt hat, heißt im Neuen Testament „Umkehr". Und es passt wunderbar zu dem Bild, das ich in dieser Predigt immer wieder gebraucht habe. Wenn ich vor der Wand stehe, kann ich nur noch eins tun: Mich umdrehen und in eine andere Richtung laufen.

Nun mag die Wand für jeden Menschen woanders stehen. Für mich befindet sie sich tatsächlich an dieser Stelle. Da also, wo es um der Verantwortung Gottes für den Schrecken in dieser Welt geht. Hier komme ich nicht mehr weiter. Und insofern muss ich tatsächlich umkehren.

Wenn ich mich also auf den Hinweis einlasse, den Jesus in diesem Text gibt, dann geht es darum, nach der eigenen Verantwortung zu fragen.

*

Aber auch das ist kein einfacher Weg. Wenn man versucht, ihn zu gehen, regt sich erst einmal Widerstand. Sind wir vielleicht schuld am Zustand der Welt? Was kann der Einzelne dafür, dass es ist, wie es ist?

Da ist sicher etwas dran. Andererseits haben wir aber auch unsere Erfahrungen mit den Strategien sich selbst für unschuldig zu erklären. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, da waren erst einmal die Anderen die Bösen. Die Rote Armee hatte schrecklich gewütet. Die Engländer und Amerikaner hatten Bomben auf deutsche Städte geworfen und viele unschuldige Menschen umgebracht. Hitler war es gewesen, der den Krieg angefangen hatte. Die normalen Menschen hatten damit nichts zu tun.  Hitler und seine Leute hatten die KZs gebaut und die Juden ermordet. Alle anderen waren unschuldig, waren womöglich selbst zum Opfer geworden. Vielleicht ging es nicht anders. Wie sollte man einem Menschen aus Schlesien oder Ostpreußen, der alles verloren hatte, der womöglich Entsetzliches auf der monatelangen Flucht erlebt hatte, von Schuld reden? Gar noch von eigener Schuld? Das Umdenken setzte erst nach Jahren ein. Waren die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen des Dritten Reichs noch oft genug als Willkür der Sieger empfunden worden, setzte das Umdenken 20 Jahre nach dem Ende des Krieges ein. Es waren die Auschwitz-Prozesse der Sechzigerjahre, die es beförderten. Durch die Berichterstattung über das, was damals geschehen war, dämmerte es dem einen oder anderen, dass da noch mehr Leute beteiligt gewesen waren als nur Hitler und ein paar Kumpane. Aber dann dauerte es noch einmal zehn oder vielleicht auch zwanzig Jahre, bis die Einsicht sich durchsetzte, dass auch die einfachen Leute weggesehen hatten, als die Juden erst diskriminiert und dann in die Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Hätte man etwas tun können? Nein, sagten die Meisten. Vielleicht haben sie recht, wenn sie an die Jahre des Krieges denken. Obwohl es auch da Menschen gab, die sich dem Wahnsinn verweigerten. Die nicht Soldat wurden, obwohl sie damit das KZ und den Tod riskierten. Aber was wäre denn gewesen, wenn sich viele Leute schon in den ersten Jahren widersetzt hätten? Wenn sie 1933 gegen den Boykott jüdischer Geschäfte protestiert hätten? Wenn sie sich Hitler in den Weg gestellt hätten, als der 1933 oder 34 jüdische Beamte aus dem Dienst entfernen ließ? Womöglich hätte man in den ersten Jahren noch etwas ändern können. Damals, als die Nazis noch nicht so fest im Sattel saßen. Womöglich wäre alles anders gekommen, wenn, ja wenn ...

Aber dann frage ich mich, ob ich als Nachgeborener überhaupt etwas zu diesem Thema sagen kann. Wäre ich selbst denn mutig genug gewesen? Hätte ich protestiert? Womöglich selbst einen Juden versteckt? Im Grunde ist es leicht zu sagen: Es hätte alles ganz anders kommen können. Zumindest ich selbst bin ja nicht dabei gewesen.

*

Alles in allem also ein schwieriger Text. Ich gebe ihm insofern Recht, als wir nur allzu schnell nach der Verantwortung Gottes fragen und uns damit selbst entschuldigen wollen. Und dennoch wäre dieser Text nur schwer auszuhalten, wenn es da nicht auch noch das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum gäbe.

„Herr, lass ihm noch dieses Jahr", sagt der Gärtner zum Besitzer des Weinbergs, in dem der Feigenbaum steht. Er will den Boden umgraben und düngen, dann wird er womöglich Frucht bringen. Was das heißen könnte, ist mir vor einigen Wochen eindrücklich demonstriert worden. Am 9. Oktober bekam der amerikanische Präsident vom schwedischen Nobelkomitee den Friedensnobelpreis zugesprochen. Und das Interessante war: Auf einmal wurden alle möglichen kritischen Stimmen laut. Der Tenor war, Obama habe mehr versprochen, als er gehalten habe. Das Lager in Guantanamo habe er immer noch nicht aufgelöst, obwohl er es versprochen habe. Im Konflikt zwischen Israel und Palästina sei er auch nicht weitergekommen. Aus dem Irak sei er auch noch nicht abgezogen. Und das Versprechen, zu einer atomwaffenfreien Welt beizutragen, das sei ja wohl erst recht Illusion.

Nun kann man natürlich sagen, dass all diese Bedenkenträger Recht haben. Man kann ihnen zustimmen, dass der Friedensnobelpreis vor allem Vorschusslorbeeren enthalte. Und dass die  Hoffnungen auf den „Messias Obama" überhaupt Illusion gewesen seien. Und doch meine ich, dass sich hier eine Haltung ausdrückt, die ich nur allzu gut kenne. „Es ändert sich ja doch nichts", heißt die. „Wir können ja doch nichts machen." Und weil wir selbst so pessimistisch sind, sind wir es auch anderen gegenüber. Das entlastet uns von der eigenen Verantwortung. Was wäre denn, wenn einer es wirklich schaffen würde an dem einen oder anderen Punkt etwas zu ändern? Wenn er uns womöglich doch Hoffnung brächte? Dann könnten wir uns plötzlich nicht mehr entschuldigen für die eigene Bequemlichkeit. - Besser also, nicht daran zu glauben, dass einer es schaffen könnte. Besser sich einrichten in dem Gefühl, es werde sich durch das Engagement eines Einzelnen oder eine kleinen Zahl nichts am Zustand der Welt ändern.

Resignation ist eben auch ein Schutz. Nicht nur vor Enttäuschungen, sondern auch vor der Aufforderung, selbst aktiv zu werden.

*

Aber nun ist dies alles ja nur ein Beispiel. Allerdings eins, das uns weiterhelfen kann. Vielleicht liegt es ja an der Zeit, dass wir die Früchte unserer Hoffnung sogleich erwarten. Und sofort ungeduldig werden, wenn sie sich nicht sofort einstellen. „Lass ihm noch dies Jahr", sagt der Gärtner. Womöglich ist das ja der abschließende Satz zu diesem Text. Es gibt so vieles, was falschläuft. Im eigenen Leben, wie auch in der Welt. Und dennoch: Wer aufgibt, hat schon verloren. Wer aufgibt, wird zynisch. Oder bitter. Aber verbitterte Menschen machen nur sich selbst und andere unglücklich. Verbitterte Menschen klagen Gott an oder ihre Umwelt, aber sie ändern nichts. Doch genau darauf kommt es an.  Das zu ändern, was zu ändern ist. Für andere oder für sich selbst ein paar Dinge zu verbessern. Nicht darauf zu blicken, was sich in der Welt alles ändern müsste. Nicht den Mut zu verlieren, weil die Probleme so groß und die eigenen Kräfte so klein sind. Dort etwas tun, wo man selbst es kann.

Die Welt können wir wahrscheinlich nicht ändern. Aber uns selbst schon. Also lasst uns bei uns selbst anfangen.

 



Pfarrer Bernd Giehl
Wiesbaden
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

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