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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, 15.11.2009

Predigt zu Matthäus 25:31-46, verfasst von Reiner Kalmbach

Liebe Gemeinde:

Wir stehen wieder am Ende eines Kirchenjahres. Die meisten Predigttexte die man uns für diese letzten Sonntage vorschlägt, laden uns zum nachdenken ein, zum „kritischen" nachdenken über unser Leben, über den Sinn den wir unserem Leben geben. Es stimmt schon, jede Predigt, jeder Gottesdienstbesuch, ja jegliches Wort Gottes das wir hören oder selbst lesen, ist eine Gelegenheit die wir nicht verstreichen lassen sollten. Aber an keinem Sonntag sprechen die biblischen Texte so klar und deutlich, wie heute. Und ob es uns Predigern passt oder nicht, und vielleicht gerade, weil unsere Ohren und Herzen es schon lange nicht mehr vernommen haben: heute müssen wir über das Gericht sprechen, das Weltgericht, das „letzte" Gericht.

Textlesung

Ja, wir haben uns auf das Weltgericht einzustellen. Jetzt müssen wir ernst nehmen, was wir im Glaubensbekentnis beten, nämlich dass wir vor Christus stehen werden, wenn er „kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten".

Die wenigsten von uns betreten im Laufe ihres Lebens einen Gerichtssaal. Was wir von einem Prozess mitbekommen, Anklage und Urteil, das erfahren wir aus der Presse. Und irgendwie gehen wir davon aus, dass es uns nie treffen wird. In unserem Wort wird diese Möglichkeit erst gar nicht angezeigt: so oder so werden wir vor dem Richterstuhl Christi stehen. Und was wird da zur „Verhandlung" stehen?, ob wir unser Erdendasein verantwortlich vor Gott und den Menschen leben. Darum wird es gehen, darum geht es jetzt schon!

Wie oft habe ich das schon hören müssen: „...Hauptsache, dass man irgendwie über die Runden kommt.", oder: „...jeder ist sich selbst der Nächste...". Damit verweigern wir uns selbst und den Mitmenschen, was Gott in uns hineingelegt hat: die Gemeinschaftsbezogenheit. Der Mensch kann alleine nicht existieren, er ist auf ein Gegenüber fixiert, er ist auf eine „Antwort" auf sein Dasein angewiesen. D.h. ich stehe in der Verantwortung, denn Leben ist nur in der Gemeinschaft möglich. Und was für den Menschen gilt, das gilt auch für Gott. Der Glaube weiss, dass wir jenem Gott verantwortlich sind, der uns zu seinem freien Gegenüber gemacht und einem jeden von uns seine eigene Bestimmung gegeben hat. Der Aufbruch des Sohnes, der ihn zum „verlorenen" machte, ändert nichts an seinem Sohnsein: er lebt von des Vaters Vermögen, und er stellt sehr bald fest, dass er auf die väterliche Liebe und Vergebung angewiesen ist. Wir können uns diesem Gott nicht entziehen, indem wir ihn ignorieren. Es bleibt ein Geheimnis des Glaubens, warum uns unsere Situation vor Gott und den Menschen oft so lange verborgen bleibt und mancher ein Leben lang nicht über sich selbst erschrickt. Aber früher oder später tritt Gott uns in den Weg. Wir können versuchen, vor Gott „unterzutauchen" und uns so durchzumogeln. Aber eines Tages stehen wir vor dem Menschensohn.

Genaugenommen stehen wir heute schon vor ihm. Das Ja Gottes und auch sein Nein, sein Wohlgefallen und sein Missfallen, gehen ständig mit uns mit. Und das Gericht vollzieht sich schon an jedem unserer irdischen Tage, allein schon deshalb, weil Sünde Urteil und Strafe selbst schon in sich trägt. Mit einem schlechten Gewissen kann ich nicht frei sein, dass ich versagt habe, lähmt mich, dass ich den anderen enttäuscht, verletzt, hintergangen habe, zerstört Vertrauen und damit Gemeinschaft. Geiz macht einsam, die Feigheit bringt mich um die Achtung der anderen und der meinen. Und was für das persönliche gilt, kann man ruhig auch auf das Grosse übertragen: die Hybris aller absoluten Herrscher führte zu ihrem Sturz und ganze Völker ins Elend. Um es mal ganz „hart" auszudrücken: Gott straft Sünde mit Sünde. Er braucht dabei keinen Finger zu rühren: wir gehen, indem wir uns am Gericht vorbeimzuogeln suchen, mit uns selbst ins Gericht.

Bis jetzt haben wir immer von „uns", vom Menschen im allgemeinen gesprochen. Wie sieht das denn bei mir persönlich aus? Wir sagten ja am Anfang, diese letzten Sonntage des Kirchenjahres wollen uns zum nachdenken und wohl auch zur Umkehr aufrufen, einladen, ermutigen, besser gesagt: Jesus ringt um uns, er ringt um mich!, er will mich auf der rechten Seite sehen. Und da kann es sein, dass mich sein Wort trifft: „Du bist der Mann, Du bist die Frau!", und dann geschieht das, was im Ausblick auf die Völker gemeint ist, ganz tief in meinem Innern, das Gericht, im Entdecken der eigenen Verkehrtheit, im Erschrecken unter der mich treffenden Anrede Gottes und der Traurigkeit meines Daseins. Und dann geschieht dieses Wunder: wo einer in der Begegnung mit Christus seine Sünde erkennt und im Glauben an ihn die Vergebung empfangen hat, da liegt das Gericht bereits hinter ihm. Also: die Erwartung des Endgerichts soll uns nicht von der Welt entzweien, sondern den Entscheidungscharakter einer jeden Stunde, die wir leben, sichtbar machen. Es geht  um das jetzt und um die Zukunft, die jeden Moment eintreten kann.

Auf das letzte Gericht haben wir uns jetzt einzustellen, weil wir, so oder so, einst vor Christus stehen werden. Was jetzt für mich eine Gelegenheit, eine Möglichkeit zur Umkehr ist, wird dann aber eindeutig, endgültig, dann wird die Akte geschlossen.

So klar Jesus zu uns spricht, so unmissverständlich zeigt er uns, um was es geht: „ich bin im andern!"

Aber zunächst einmal müssen wir ein „theologisches" Problem lösen: da steht ganz deutlich, dass wir nach unseren Werken gerichtet werden. Vor wenigen Tagen feierten wir das Reformationsfest, die „Rechtfertigung allein aus Gnaden", also, der Glaube rettet uns und eben nicht unsere guten Werke. Wie bringen wir das zusammen? Ob es mir „Hartholzlutheraner" passt, oder nicht, im Neuen Testament ist das Gericht nach den Werken eindeutig bezeugt. Und das heutige Predigtwort lässt daran wohl kaum einen Zweifel.

Da fällt mir die Geschichte des Zachäus ein: ein korrupter Beamter, wie er im Buche steht. Durch und durch verkommen..., von dem ist eigentlich nichts mehr positives zu erwarten. Doch da begegnet ihm dieses Wort, Jesus begegnet ihm und alles ändert sich, er, Zachäus ändert sich! Das heisst doch: Jesus liebt den Sünder, aber die Sünde lässt er nicht gelten. Der von Jesus geliebte Zachäus wird, gerade weil er sich von ihm angenommen und vergeben weiss, sich in seinen Dienst stellen. Er wird also seine Verantwortung wahrnehmen und dabei seine Schuld, sein Versagen nicht abstreiten, nicht auf „mildernde Umstände" hoffen. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben beruht nicht auf der „Einstellung des Verfahrens", oder „Mangels an Beweisen", sondern auf der Vergebung der Sünden.

Die Menschen aller Völker sind auch gar nicht überrascht, dass sie auf ihre Werke angesprochen werden: „...ihr habt mich gespeist, beherbergt, besucht, bekleidet..."; „...ihr habt mich nicht gespeist, beherbergt, besucht, bekleidet...". Diesen Tatbestand bestreiten weder die von rechts, noch die von links. Die jeweilige Überraschung liegt darin, dass Jesus in jedem Falle sich selbst betroffen sieht: „ich bin im andern!"

Um es ganz deutlich zu machen: wir können nicht Jesus dienen wollen, und seine Schwestern und Brüder vergessen. Mehr noch: der Glaube an ihn muss sich an der Beziehung zu unserem Mitmenschen erweisen. Dabei erwartet er gar nichts aussergewöhnliches: einfach für den Mitmenschen da sein, und ganz besonders für den der es besonders nötig hat. Da gibt es viel zu tun! Wollten wir nur einmal schauen und wirklich sehen, so entdeckten wir die kleinen und grossen Nöte um uns herum, in unserer Gemeinde, bei den Nachbarn, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis: Jesus will nichts für sich selbst: alles was er will, will er für seine armen, zu kurz gekommenen, nicht für voll genommenen unter den Menschen. Wir können nicht Jesus dienen wollen und sie übersehen und übergehen.

Und Barmherzigkeit denkt auch in grossen Masstäben: ich lebe in einem Land, in dem die Gewalt in allen seinen Auswüchsen zum täglichen Leben gehört. Von 40 Millionen Einwohnern Argentiniens leben eine Million Jugendliche buchstäblich im Nichts, sie gehen nicht zur Schule und sie haben auch keine Arbeit. Sie versinken im Drogensumpf und besorgen sich das nötige Geld durch Einbrüche, Überfälle (oft genug mit Verletzten und Toten). Sie erwarten nichts mehr vom Leben, sie werden selten älter als 20 Jahre...In diesem Land, das Lebensmittel im Überfluss für die ganze Welt produziert, sterben täglich 20 Kinder an Hunger; alte Menschen verbringen ihre letzten Tage in „Altendepots", den Krankenäusern fehlt es an allem: Verbandmaterial, Medikamenten, Personal..., die Korruption hat sich in allen Ebenen und Institutionen festgesetzt, ganze Bevölkerungsgruppen leben in ständiger Abhängigkeit von Partei und Regierungsapparaten.

Manchmal tröste ich die Menschen (und mich selbst) mir der Aussicht auf das Endgericht: „...nichts bleibt ungesühnt!"

Wer verstanden hat, was das heisst: „...das habt ihr mir getan!", der wird auch antworten müssen: Gott ist ein Kind im Nordwesten Argentiniens, das seinen ersten Geburtstag nicht erleben wird, weil es vorher an Hunger, oder an einer vermeidbaren Krankheit sterben wird. Gott ist ein alter Mann in einem „Altenheim", der dahinvegetiert und von niemandem besucht wird. Gott ist ein Jugendlicher dessen Gehirn vom „paco" (Droge der Armen) bereits zersetzt ist. Gott ist eine Mutter deren Sohn von einem paco-abhängingen Jugendlichen erschossen wurde, wegen ein paar lumpiger pesos..."Gott ist der arme Lazarus der Dritten Welt neben den Tischen von uns reichen Christen...Gott in seinen geringsten Brüdern...", schrieb der Theologe Helmuth Gollwitzer schon 1973.

Jesús verbirgt sich im anderen Menschen, das sagt er uns und er sagt es uns jetzt, damit wir die Überraschung der Menschen vor Jesu Richterstuhl nicht erst am jüngsten Tag erleben.

Der Mensch hat seinen Wert, seine Würde nicht in dem, was er selber ist und darstellt, nicht einmal in dem, was er entbehrt oder worunter er leidet. Der Mensch, wer er auch sei, hat seine tiefste Würde in dem Geheimnis, dass Jesus sich für ihn einsetzt, sich mit ihm solidarisiert, ja sich in ihm verbirgt. Darum: mit allem was ich einem Menschen tue, damit treffe, erfreue, beleidige, verletze, beschenke, verachte ich Christus. Deshalb ergreift Jesus, im Gericht, die Stimme sowohl der einen, als auch der anderen: Jesus ist jedesmal der Betroffene. Er wird auch zur Sprache bringen, was Gutes auf dieser Erde geschieht: es gibt sie ja, die ihm zu essen geben, die ihm zu trinken geben, ihn bekleiden, ihn im Altenheim, im Kinderheim, im Gefängnis besuchen, es gibt sie ja, die in seinem Namen die Stimme erheben für jene die keine Stimme (mehr) haben, es gibt sie ja, die das alles aus Liebe zum Nächsten tun, einfach so, einfach, weil sie das Elend nicht länger mitansehen wollen.

Und dann ist da der Schluss: die einen gehen da hin, die andern dorthin...

Der doppelte Ausgang des Gerichts macht mir und muss uns allen zu schaffen machen: „...geht weg von mir...!", Jesus wird wissen, warum er diese harte, entsetzliche Möglichkeit aufzeigt. Aber gerade darin offenbart sich doch das Verhältnis Gottes zu uns Menschen: er nimmt unsere Entscheidungsfähigkeit ernst. Wie wir uns zu Gott und den Menschen jetzt stellen und verhalten, dies entscheidet über unsere ewige Zukunft. Aufgepasst!: wehe dem, der sich sicher wähnt! Ein religiöser Aktivismus allein ist noch keine Garantie, der „private" Glaube bringt mich eher von Gott weg, als näher zu ihm hin. Die Möglichkeit des Scheiterns bleibt bis zuletzt. Wer sich selbstkritisch prüft (wie es uns diese „letzten" Sonntage vorschlagen), wird sich nicht damit beruhigen, er stehe zweifelsfrei auf der rechten Seite. Über alle dem steht die Frage (die ich an mich selbst richte): „...was bin ich meinem Mitmenschen, und damit Jesus, schuldig geblieben?"

Nun zum Gericht: der uns richten wird, ist derselbe, der sich für uns Sünder umbringen lässt! Dass dies beides zusammen gehört, daraus ergibt sich seine Vollmacht, Sünden zu vergeben. Der über uns, über mich das letzte Wort spricht, wird kein anderer sein,  als der, der sich unmittelbar nach dem Ende diseser Rede zum  Leiden und Sterben für uns auf den Weg machen wird. Der Evangelist Johannes ist sich der Tragweite der Situation bewusst: „Der Vater richtet niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn übergeben." So ernst Jesus hier mit uns redet, er hört nicht auf, der Heiland seiner „geringsten Brüder" zu sein, solidarisiert er sich, indem er sie uns aufs Gewissen bindet, mit ihnen, und darum zugleich mit uns! Wohl denen, die diesen Herrn zum Richter haben!

Schon wahr, der Prozess findet statt. Wir können uns nicht daran vorbeimogeln. Das Urteil ergeht nach den Werken. Aber es wird im doppelten Sinne des Wortes aufgehoben im Spruch der Gnade. Wir wissen es: wo Menschen begnadigt werden und ihnen vergeben wird, da werden sie vor dem ewigen Nichts errettet.

Wollte man die Szene malen - und das ist ja oft geschehen -, dann müsste man sie in zwei grossen Bildhälften darstellen. Der zweite Teil handelt von den Verdammten. Die Parallele ist genau durchgehalten. Nur ganz am Schluss wechselt die Erzählung noch einmal hinüber zu den „Gesegneten": „...aber die Gerechten in das ewige Leben." Jesu letzte Predigt macht ganz am Ende diese scharfe Wendung. Daran erkennen wir, worauf sie abzielt. Ich denke, wir haben Jesus richtig verstanden.

Amen.



Pfarrer Reiner Kalmbach
Allen - Patagonien, Argentina
E-Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

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