Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag im Kirchenjahr - Ewigkeitssonntag / Gedenktag der Entschlafenen, 22.11.2009

Predigt zu Johannes 5:24-29, verfasst von Dörte Gebhard

Liebe Gemeinde,

am Ewigkeitssonntag gedenken wir aller, die in Frieden bei Gott aufgehoben sind. Aber wir hören vom Jüngsten Gericht:

wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.

Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber,

und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden,

und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Liebe Gemeinde,

wir hören vom Gericht. Es geht um Leben und Tod, um Gut und Böse, um Gott und die Welt, aber wir achten auf das Gericht.

Wie hören Ohren, Hirn und Herz? Hören einige mit unerschütterlicher Gewissheit: ‚Wir hier‘ stehen auf zum Leben, ‚die da‘ stehen auf zum Gericht!? Oder vielleicht sogar wie manche in der johannäischen Gemeinde: ‚Wir hier‘ sind schon aufgestanden zum Leben, ‚die da‘ kommen erst noch ins Gericht?! Auf jeden Fall: ‚Wir hier‘ - und ‚die da‘ ...

Dann wären diese Worte fast zu gefährlich, um sie noch in den Mund zu nehmen. Die Rede vom Gericht hat man aber oft genug als Gewissheitsverstärker missbraucht, um die Überzeugten noch ‚eingefleischter‘ zu machen. Dieses einseitige Hören, mit nur einem Ohr, haben Menschen immer wieder trainiert, in mancherlei Sekten bis zur vollkommenen Taubheit des anderen Ohres und damit bis zum Tod.

Aber wie hören Ohren, Hirn und Herz dann? Hören manche noch wie Martin Luther mit scharfem Verstand und resigniertem Herzen: Ich habe hier nichts als Verurteilung und Strafe verdient? Ich habe versagt, ich kann vor Gott nicht bestehen? Zuletzt dann für mich und für alle: Keiner kommt durch, keiner kann aufstehen zum Leben.

Aber dann bräuchte man diese Worte gar nicht zu lesen, geschweige denn laut zu sagen. Um sich Angst und Sorgen zu machen, sind biblische Texte nie vonnöten, dazu braucht man nur einen oberflächlichen und flüchtigen Blick in die Weltgeschichte oder, genauer, nur einen Tag, nur eine Stunde, nur die Menschheit in diesem Moment anzuschauen mit ihren Verfehlungen, Bösartigkeiten, ihrem Versagen und ihrer Schuld. Aber auch dieses einseitige Hören, wieder mit nur einem Ohr, haben Menschen immer wieder trainiert, bis zur vollkommenen Taubheit des anderen Ohres und damit bis zum Tod.

Aber wie können Ohren, Hirn und Herz dann noch hören? Die Biologen, die Anatomen zumal, wollen den Theologen eigentlich immer schon zum Verstehen helfen, auch wenn Letztere es lange nicht bemerkt haben. Um vom Gericht Aufrichtendes zu hören, braucht man zwei Ohren, ein Hirn mit zwei Hälften und ein Herz gar mit vier Kammern, dass nur schlägt, wenn in allen vieren das Blut auf richtige Weise zirkuliert. Dieses beidseitige Hören will gelernt sein, vielleicht mehr als alles andere im Leben. Aber wir setzen es oft voraus, denken, unsere Kinder könnten es immer schon. Wir ermahnen einander ständig, aber üben kaum. Hören, so der falsche Verdacht, sei doch wirklich ganz ‚einfach‘. Hören, gar auf das Gericht, aber ist immer komplex, mindestens zweifach. Paulus hat es wohlmöglich nur so vor sich hingesagt, als er den Brief an die Römer diktierte, aber es gilt wohl für den Rest der Welt: Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. (Röm 7, 18bf.)

Die heutige Predigt ist eine Hörübung für zwei Ohren, Hirn und Herz.

Liebe Gemeinde,

die Gerichtspredigt ist für zwei Ohren, Hirn und Herz, nicht aber für die Augen. Mit den Augen haben wir Menschen Gottes Gericht dramatisiert, uns alles schrecklich ausgemalt. Und wir haben Übung darin, seit dem frühen Mittelalter. Qualen, Fegefeuer und Höllenschlünde waren seit jeher etwas für's Auge. Die Fantasie der Menschheit hat sich immer an den vielen möglichen Untergängen erquickt und erneuert, die Kreativität, tausend Tode zu sterben, haben überhaupt nur die Menschen. Teufel, die auf Chimären reiten, halb Bock, halb Mensch, diese peitschen in Richtung auf spitze Zähne und feurige Zungen ... So zu sehen z. B. in dänischen Dorfkirchen. Luziferische Eichhörnchen an den Säulenfüßen großer Kathedralen und Fratzenzieher a la Notre Dame in Paris haben Menschenaugen immer schon kräftig angezogen und das Fürchten mit den Augen gelehrt.

Der Glaube aber ist ein festes Vertrauen auf das, was man nicht sieht. (Hebr 11, 1), der Glaube kommt aus dem Hören. Die fürchterlichsten Ungeheuer sind aus Stein und darum stumm und taub. Darum sollen die Augen von diesem Moment an geschont werden, damit wir unsere Ohren konzentrieren können. Denn wir können sehr wohl unsere Ohren zum Hören bewegen. Vieles ist den Biologen und Medizinern in den menschlichen Ohren noch rätselhaft und unverstanden - warum sich Hörsinneszellen so schnell bewegen, wie sie es nachweislich tun, aber eines haben sie in den Laboren erkannt: Wir können unser Gehör aktivieren, unsere Hörfäden aufrichten.

Dann fällt auf, dass von Gericht die Rede ist, aber nicht von Verdammnis, auch nicht von Verurteilungen, schon gar nicht endgültigen; überhaupt nicht von irgendwelchen Höllenschrecken. Vom Gericht, das ist das Bemerkenswerte, wird zunächst nichts Nachteiliges gesagt. Das Gericht besteht nur aus den Fürchterlichkeiten und Schrecken, die Menschen aus ihm gemacht haben. Wundert euch darüber nicht! heißt es bei Johannes. Traut euren Ohren etwas zu!

Hört man genau hin, werden die Gegensätze um so lauter und auch unerträglicher. Das Weltgericht hat sich festgesetzt in Hirn und Herz als große Sortiermaschine, die auch auf Erden immer schon rundläuft, auch wenn sich mit den Zeiten die Einstellungen auch mal geändert haben: immer gab es genau zwei Sorten am Ende:

die Guten und die Bösen,
die Sünder und die Frommen,
die Oben und die Unten,
die Armen und die Reichen,
die Täter und die Opfer,
die Schwarzen und die Weißen - ein Unterschied übrigens, der nicht zu hören ist,
die Freien und die Sklaven,
die Juden und die Griechen,
die Amerikaner und die Sowjets; das habe ich bis vor 20 Jahren selbst durchlebt und durchfürchtet,
die Ausländer und die Einheimischen, heute immer noch oder wieder mehr,
die Fleißigen und die Faulen,
... [ad libitum]
die einen und die ganz anderen.

Aber alle haben zwei Ohren, zwei Hirnhälften und ein vierteiliges Herz, das doch nur als ein ganzes schlägt. Alle diese und tausend andere Einteilungen gehen mitten durch jeden Menschen hindurch. Alexander Solschenizyn blieb diese Einsicht noch in den Abgründen des Bösen gegenwärtig, gegen die die martialischen Weltgerichtswandmalereien in alten Dorfkirchen harmlos wirken. Er hat selbst in solchen Lagern gelebt und gelitten, die er im „Archipel Gulag" von 1974 beschreibt. Es gehört zu den einflussreichsten und grausamsten Büchern des 20. Jahrhunderts und ist „all jenen gewidmet, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen. Sie mögen mir verzeihen, dass ich nicht alles gesehen, nicht an alles mich erinnert, nicht alles erraten habe." Keiner weiß, wie viele Menschen wirklich in den Lagern Stalins umkamen. Solschenizyn schreibt in seinem Kapitel „Seele und Stacheldraht" - soweit es in eines Menschen Macht steht - über das Seelenleben und Seelensterben der Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern, in denen das Leben so eingerichtet war, dass auf einen Überlebenden ein oder zwei Tote kommen." Essensrationen wurden absichtlich sehr ungerecht verteilt, dass es immer einen Kampf um das Wenige geben musste. Die Foltermethoden waren unendlich vielseitig. Auch das Leben aller, die noch in Freiheit lebten, aber mit der Furcht vor der Verschleppung in diese Lager, wurde geprägt von Misstrauen, Tücke, Angst und Aggressionen. Die Abgründe des Menschseins sind so eindrücklich beschrieben, dass man die geschilderten Szenen sein Lebtag nicht mehr vergessen wird.

Aber etwas anderes ist noch viel entscheidender: Solschenizyn, der die unmenschlichsten Gerichte und ihre Strafen am eigenen Leibe und an der eigenen Seele kennengelernt hatte, schreibt doch nicht einfach einseitig, sondern erkennt die tödlichen Differenzen in jedem einzelnen Menschen:  

„Wenn es nur so einfach wäre! - daß irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten? Während der Lebensdauer eines Herzens bleibt dieser Strich nicht unbeweglich, bedrängt einmal vom frohlockenden Bösen, gibt er dann wieder dem aufkeimenden Guten freien Raum. Ein neues Lebensalter, eine neue Lebenslage - und ein und derselbe Mensch wird ein sehr anderer. Einmal dem Teufel näher und dann auch wieder einem Heiligen. Der Name, ja, der bleibt, und ihm wird alles zugeschrieben." [Archipel Gulag, 1974, S. 167]

Und es gehört zur Aufrichtigkeit in dieser Predigt, auch zu erwähnen, dass Solschenizyn nicht das reine Gewissen war, sondern auch diese schmerzende ‚Durchkreuzung‘ des Herzens hatte wie alle anderen Menschen auch. Als alter Mann - er starb 89jährig im vorletzten Sommer - konnte er seinen Hass auf die Juden und einen Teil der westlichen Welt nicht mehr selbst überwinden. Er starb als Mensch genau so ‚durchkreuzt‘, wie er es selbst treffend beschrieben hatte.

Auch die Weltgeschichte ist genau und schon unendlich oft ‚durchkreuzt‘. Es gibt nicht Gottes gute Großtaten und weit davon entfernt unsere menschlichen Versuche zum Besseren oder zum Schlechteren, beides ist unauflöslich miteinander vermengt und wirkt unauflöslich miteinander. Diese Welt, Gottes Schöpfung, wird durchwaltet und gestaltet von Gott und den Menschen. Es geht gewiss manchmal um die eine große Heldentat, aber meist geht es wohl zu wie beim Mauerfall vor 20 Jahren: aus vielen kleinen Zetteln und Zufällen, aus unwichtigen Nebenbemerkungen und nur halb mutig gestellten Fragen, aus Ängsten, Feigheit und Trotz, aus Mut, der die Habenden selbst überraschte, aus Weisheit, die man sich selbst und gegenseitig gar nicht zugetraut hätte, wurde die eine große Geschichte, wurde eine Nacht, in der eine (nur eine!) der vielen brutalen Einteilungen fiel.

Angsichts dieser Geschichte werden die Fragen noch dringlicher, wie Gottes Gericht einst sein wird.

Liebe Gemeinde,

was hören wir mit Ohren, Hirn und Herz von unseren, weltlichen Gerichten? Viel über Rede und Gegenrede, herauszögernde Anträge, Befangenheit, Streit, Schweigen und Aussageverweigerungen, über schwache Gedächtnisse und verdächtige Zeugen, über unklare Motive und mehr oder weniger Reue, Vorstrafen, Spitzfindigkeiten, Formfehler und Willkür, Irrtümer auf Leben und Tod, unverständliche Juristensprache, viel zu lange Verhandlungen, schlechte und bessere Sozialprognosen und verzweifelte Opfer, Richter, die keine Gerechtigkeit schaffen, anfechtbare Urteile, Strafen und Schuld. Leo Tolstoi fasste all‘ das zusammen und schrieb in „Krieg und Frieden" kurz und bündig: „Wo Gericht, da ist auch Ungerechtigkeit." Vorläufig scheint es immer noch leicht, Menschen mit dem Gericht zu drohen. Ganz am Ende ist es schwer, Menschen aufzurichten mit der Verheißung eines guten Gerichts, selbst wenn Gott selbst der Richter ist.

Denn das Jüngste und alle anderen Gerichte vorher haben einen weitaus anderen Zweck, dem sehr selten Gehör verschafft wird: Es geht letzen Endes nicht um Rache oder ihre Begrenzung durch Urteile und Strafen, sondern um Gerechtigkeit und vor allem anderen um Frieden. Gerichte sollen helfen, Frieden wiederherzustellen zwischen den Menschen. Die letzte Zeile des Predigttextes lautete: die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts. Das höre ich nicht mehr als Drohung, sondern als Hoffnung: Auch für das Böse wird es zuletzt Frieden geben, es wird aufgeklärt werden, d. h. es wird - schmerzlich genug - erhellt werden, die Wahrheit wird ans Licht kommen und das Richten wird endgültig aufhören können. Dieser Friede ist nicht zu sehen, auch nicht ansatzweise. Aber man kann schon von ihm hören:

„Dein Friede, sagt mir der Engel, ist

Wo du ein gutes Wort übrig hast obwohl du doch eigentlich vorhattest verärgert zu schweigen

Wo du dankbar für dein eigenes Dasein andere sein lassen kannst wie sie sind

Wo du dich selbst nicht zu wichtig nimmst und nicht stumpf wirst gegenüber dem Schmerz anderer

Wo du der Botschaft vertraust die sagt: FÜRCHTE DICH NICHT bis deine Ängste dir ein wenig unbedeutender erscheinen."[Ingo Barz, Du sprachst vom Feigenbaum und seinen Früchten, S. 10]

Dieser Friede ist höher als all‘ unsere Vernunft. Die Hoffnung auf diesen Frieden durch Gottes gutes Gericht stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.                                                                            Amen.



Pfarrerin Dr. Dörte Gebhard
Kölliken (Schweiz)
E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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