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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag im Kirchenjahr - Ewigkeitssonntag / Gedenktag der Entschlafenen, 22.11.2009

Predigt zu Johannes 5:24-29, verfasst von Petra Dais

„Vom Tod zum Leben hinüber schreiten"

Liebe Gemeinde,

heute, am „Gedenktag der Entschlafenen", am Ewigkeitssonntag, denken wir besonders an die Menschen, die wir im vergangenen Jahr zu Grabe getragen haben, die von uns gegangen sind und nun tot sind. Wir denken an die Zeit des Abschieds, an die Beerdigung, daran, was sie uns bedeutet haben - im Leben.

Die Zeit der Trauer, des Abschied Nehmens ist auch von der Frage geprägt, wo sind sie jetzt, die Toten? Was verbindet uns jetzt mit den Toten?

Es sind vor allem die Erinnerungen, das gemeinsam Erlebte, das uns mit ihnen verbindet. Das gemeinsam Erlebte, das nicht vergangen ist, sondern in unserer Erinnerung präsent ist und damit sind auch die Verstorbenen präsent.

Indem wir diesen Weg vom Leben zum Tod mit den Verstorbenen gegangen sind, wurden wir auch mit unserer eigenen Endlichkeit, mit unserem eigenen Tod konfrontiert. Das ist eine sehr wertvolle, fast heilige Erfahrung, die schon der Psalmist in seiner Bitte zum Ausdruck bringt:

„Gott, lehre und bedenken dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden" Psalm 90,12

Was kommt nach dem Tod?

Diese Frage beschäftigte Menschen schon immer. Und über die vielen Jahrtausende hinweg haben Menschen sich dazu geäußert, man könnte sagen, die vielen Äußerungen der Menschen aus verschiedenen Zeiten, verschiedenen Kulturen, verschiedenen Religionen lesen sich wie eine nie endende Diskussion über die Frage, was erwartet uns im Tod?

Als ein solcher Diskussionsbeitrag ist auch der heutige Predigttext aus dem Johannesevangelium zu verstehen.

Johannes 5, 24-29

Amen, amen, ich sage euch: wer mein Wort hört und dem vertraut, der mich geschickt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod zum Leben hinübergeschritten.

Amen, amen, ich sage euch: Die Zeit kommt und ist jetzt, da die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und die sie gehört haben, werden leben.

Denn wie der Vater Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben in sich zu haben.

Und er hat ihm Macht gegeben, Gericht zu halten, da er der Menschensohn ist.

Verwundert euch nicht darüber, dass die Zeit kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden;

und die das Gute gemacht haben, werden herauskommen zur Auferstehung des Lebens, und die das Schlechte getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.

Beim Hören auf diesen Text wird deutlich, dass es gut ist, die Frage von Leben und Tod nicht nur auf das Ende des leiblichen Lebens zu beschränken.

Der johanneische Evangelist geht davon aus, dass es Tod im Leben gibt und er verbindet die Kraft, dass Menschen vom Tod zum Leben hinüber schreiten können, mit dem Sohn Gottes.

Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, in der zwei Mädchen gemeinsam diese Kraft erlebt haben „ Vom Tod zum Leben hinüberzuschreiten" :

Jule ist eine Studentin, sie lebt in Freiburg. Als Jugendliche hatte sie immer wieder Suizidgedanken, sie wollte nicht mehr leben, hat sich regelmäßig geritzt und einige Selbstmordversuche hinter sich. Wenn man sich klarmacht, dass bei Jugendlichen die zweithäufigste Todesursache der Suizid ist, dann könnte man fast sagen: Jule hat eine typische Jugendphase durchlebt. Sie hat überlebt, weil sie rechtzeitig in einer guten Klinik wieder den Mut zum Leben gefunden hat. Mit dieser Erfahrung lebt sie nun und ist ehrenamtlich engagiert bei dem Jugendprojekt U25. U25 ist ein Internetberatungsprojekt, Jugendliche beraten Jugendliche. Junge Menschen können anonym per email an U25 schreiben, wenn sie Probleme haben, ihre emails werden von geschulten jungen Menschen beantwortet. Jule arbeitet bei diesem Projekt mit. Seit einiger Zeit bekommt sie emails von Anna. Anna schreibt „ ich halte das alles nicht mehr aus, ich beende jetzt mein Leben. ...

Jule schreibt zurück, erzählt von sich, gibt ihr Informationen, wohin sie sich wenden kann. Anna antwortet ihr, dass sie mit niemand anderem über ihre Probleme reden möchte, dass sie nur diesen anonymen Mailkontakt möchte, niemand soll von ihren Gedanken wissen.

Der Mailkontakt geht über mehrere Monate. Anna schreibt viel, insgesamt sind es schon über 100 emails, die sie anonym an Jule geschickt hat. Regelmäßig antwortet ihr Jule. Immer wieder äußert Anna ihre Todessehnsucht, dass es besser sei, wenn sie nicht mehr leben würde. Sie äußert auch ihren konkreten Plan, wie sie sich - am Todestag ihrer Mutter - umbringen möchte. Jule weiß oft nicht, ob Anna noch lebt, wenn sie mehrere Tage nichts von ihr hört. Sie kann nichts machen, da sie ja nicht weiß, wo Anna lebt, ob sie überhaupt Anna heißt... . Das einzige, was sie machen kann ist, ihre emails zu lesen, sich einzufühlen in Annas Situation, ihr zu schreiben und ihr Mut zu machen.

Es ist ein langer Weg, den die beiden Mädchen gehen, Anna erzählt in ihren emails von ihrer Familie, dass sie sich wertlos fühlt und dass es bestimmt niemanden gibt, der um sie trauert, sie schreibt „ der Gedanke über den Suizid hat sich in meinem Gehirn eingegraben - ich frage mich, warum ich überhaupt lebe?" Jule weiß um ihre Grenzen, sie weiß, dass sie nicht mehr machen kann, als Anna Mut zu geben.

sie sagt: „Wenn Anna sich jetzt das Leben nimmt, dann hab ich zumindest alles versucht. Diese wahre Geschichte ist dokumentiert in dem Film von Heidi und Bernd Umbreit  „Hallo Jule, ich lebe noch".

Das Wunder geschieht, Anna fasst wirklich Mut zum Leben.

Ich möchte Ihnen eine email vorlesen- Anna hat sie kurz nach dem angekündigten Selbstmorddatum geschrieben, weil sie ein schönes Beispiel dafür ist, wie ein Mensch vom Tod zum Leben hinübergeschritten ist:

Hallo liebe Jule,

Irgendwie ist das merkwürdig, ich könnte jetzt schon tot sein. Ob ich froh bin - ich weiß nicht. Zumindest hab ich noch ne Chance bekommen, mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Mal sehen was wird. ...

Jule, ich möchte mich bei dir für deine Hilfe bedanken, dass du mich immer wieder aus dem Tal der Hoffnungslosigkeit herausgezogen hast. Du hast an mich geglaubt. Und jedes Mal, wenn ich kurz vor dem Aufgeben war, hast du mich geschubst. Jule, von dir habe ich gelernt, dass man über das reden soll, was einen bedrückt, auch wenn es einem schwer fällt. Und zum anderen, dass es immer Menschen gibt, die einen mögen können, auch wenn man es nicht glauben kann, und dass man ruhig Vertrauen aufbauen kann, auch wenn einem das echt total schwer fällt.

Jule, ich weiß eigentlich nicht wirklich, wie ich dir dafür jemals danken kann - obwohl - eine Idee hätte ich, darüber würdest du dich garantiert mit mir freuen, nämlich dass ich mich für das Leben entscheide und gegen den Tod - das ist zwar ein ziemlich großer Schritt für mich aber - hey, ich hab schon mehr geschafft als das - wäre zumindest super, wenn ich es wirklich schaffe, oder?

liebe Grüße

Anna

Jule wurde für Anna zu einer Botin Gottes, zu einer, die ihr die Worte - die Hoffnungen - vom Leben vermittelt hat, in ihr hat Anna den Geist des Lebens, den Heiligen Geist erlebt.

In Deutschland versucht alle 4 Minuten jemand sich das Leben zu nehmen. Wir sind umgeben von Menschen, die ihr Leben als aussichtslos erleben, die eine Todessehnsucht in sich spüren und nicht mehr an das Leben glauben. Es betrifft junge und ältere Menschen aus allen Schichten. Aktuell ist dieses Thema in diesen Tagen durch den Selbstmord von Robert Enke. Sein Tod macht deutlich, wie unbarmherzig unsere Gesellschaft ist, dass sie Depressionen tabuisiert und dass jegliche Schwäche in unserer Leistungsgesellschaft versteckt werden muss.

Vom Tod zum Leben hinüber schreiten, das ist das Hauptthema des Christentums!

Es ist die immer wieder neue Frage nach Ostern, wie Ostern sich in unserem Alltag verwirklicht. Und diese Osterbotschaft feiern wir an jedem Sonntag, so auch heute! In so manchen Osterbekenntnissen ist die Rede vom Aufbrechen der Gräber, auch unser Predigttext nimmt dieses Bild auf. Aber was heißt das - mitten in unserer Welt - dass sich ein enges Grab öffnet und Menschen heraustreten können, aufstehen und aus der Enge in die Weite gehen können?

Die Theologin und Dichterin Luzia Sutter Rehmann hat dieses Bild eindrücklich in ihrem Gedicht aufgenommen:

Aufstehen und mich dem Leben in die Arme werfen
Wir sind auf der Suche
nach der Kraft,

die uns aus den Häusern,

aus den zu engen Schuhen

und aus den Gräbern treibt.
 
Aufstehen und
mich dem Leben in die Arme werfen -
nicht erst am jüngsten Tag,
nicht erst, wenn es nichts mehr kostet
und niemandem mehr wehtut.
 
Sich ausstrecken nach allem,
was noch aussteht,
und nicht nur nach dem Zugebilligten.
Uns erwartet das Leben.
Wann, wenn nicht jetzt?

Dieses Ereignis vom Öffnen der Gräber ist nicht ein Ereignis, das in der Zukunft geschieht, sondern jetzt! Auch die Unterscheidung - im Text „Gericht" genannt - dessen, was dem Leben dient von dem, was dem Tod dient, ist jetzt dran! Christus ist von Gott ermächtigt, diese Unterscheidung zu benennen. Die Botschaft Jesu Christi ist deutlich und muss immer wieder neu in die Gegenwart hineingesprochen werden.

Totensonntag, das heißt für uns Christ/innen auch: wir gedenken aller in dieser Welt um ihr Recht gebrachten, entwürdigten, abgeschobenen, ihrer Freiheit beraubten Menschen. Es sind die, an die sonst niemand denkt, die einsam tausend Tode sterben jeden Tag, ihr Leid steht uns vor Augen im Kreuz Jesu Christi.

Totensonntag heißt auch, wir benennen das Unrecht, wir beklagen die Todesstrukturen in unserer Welt und setzen uns ein für das Leben.

Auf dass die Worte des Lebens in unserer Welt Wirklichkeit werden und den Menschen Brücken bauen, auf denen sie vom Tod zum Leben hinüberschreiten können.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
Bewahre unsere Herzen und Sinne
in Jesus Christus

Amen

Hinweise zu Beratungsprojekten für Jugendliche im Internet:

Nethelp4u www.nethelp4u.de

(Projekt des Evangelischen Kirchenkreises Stuttgart)

U25  www.u25-freiburg.de

(Projekt des AK Leben in Freiburg)

Film „Hallo Jule ich lebe noch" http://www.umbreit-film.de/



Jugendpfarrerin Petra Dais
Kirchenkreis Stuttgart
E-Mail: petra.dais@ejus-online.de

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