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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Advent, 29.11.2009

Predigt zu Römer 13:8-14, verfasst von Ralf Hoburg

Erinnerung an die Tugend

Unscheinbar. Ganz unscheinbar. Fast verstohlen bescheiden beginnt die Passage, die als Predigttext in diesem Jahr am Beginn des Advent steht. Dieser Text aus dem Römerbrief ist bekannt; vor allem die markanten Passagen klingen fast so eingängig im Ohr wie der kräftige Auftakt des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach. Beide - das Oratorium und der Bibeltext - scheinen zueinander zu passen: Das Weihnachtsoratorium präludiert: „Jauchzet, frohlocket... auf preiset die Tage". Und der Apostel Paulus liefert dazu die theologische Begründung für solch euphorischen Optimismus, wenn er vollmundig schreibt: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts." (V. 12) In dieser Spur lässt sich dann wie jedes Jahr die ganze Weihnachtstheologie entfalten. Und greife ich dann noch auf das zweite feste Ritual dieser Zeitspanne zwischen Advent und Neujahr zurück, könnte ich durchaus mit den Worten von Freddy Frinton aus dem Theaterstück „Diner for one" sagen: „The same procedure as every year, James".

So - mit konventioneller Adventsstimmung zwischen Gebäck und Apfelblütentee - kann ich aber über den Text, der am Beginn der 2. Predigtreihe steht, nicht predigen und so will ich in diesem Jahr nicht über den Text predigen „als wäre nichts geschehen". Nehme ich auch im Advent den evangelischen Theologen Karl Barth ernst, der wie kaum ein anderer Pfarrergenerationen geprägt und theologisch beeinflusst hat, geht es in der Predigt als dem verkündigten Wort Gottes entscheidend darum, die Bibel mit der Zeitung und d.h. dem Tagesgeschehen in Verbindung zu bringen. Und wenn ich das tue, dann fallen mir plötzlich die leisen Töne dieses Textes mit neuer Intensität ins Auge, die eben ganz unscheinbar sind und mit denen der Text auch beginnt. Ihr leiser Ton passt vielleicht viel besser in die diesjährige Adventszeit, die ja Besinnung, Buße und Umkehr sein soll und Einstimmung auf das Weihnachtsgeschehen. Und dieses Jahr hat uns in Atem gehalten einerseits mit Nachrichten aus der Finanzwelt und mit erschütternden Einblicken in den moralischen Zustand der Gesellschaft und andererseits zum Ende des Kirchenjahres mit dem selbst gewählten Tod eines Menschen, der an den Leistungserwartungen des Profisports zu Tode verzweifelt ist.

 

1) Ehrbarkeit tut Not

Der Satz am Anfang dieser Perikope ist so schnell überlesen. Er wirkt auch in der Tat ein bisschen altbacken in unseren Ohren: „Seid niemand etwas schuldig..." Das entspricht der Lebensphilosophie meiner Großmutter, die schon vor langer Zeit hochbetagt über 100jährig verstorben ist. Sei niemand etwas schuldig - das ist ein Lebensprinzip! Es ist aber auch gleichzeitig ein Erziehungsprinzip. Im Kern besagt dieses Lebensprinzip, dass ich mich in meinem Handeln darum bemühen sollte, den Menschen meiner Mitwelt gerecht zu werden. Aber jeder, der handelt ahnt und weiß es auch zugleich: eine Garantie auf richtiges Handeln gibt es im wirklichen Leben nicht. Ich kann schuldig werden am Anderen. Insofern weiß ich von Anfang an: wenn ich den ersten Satz dieser Perikope als einen ethischen Imperativ verstehe, kann ich als Mensch mit meinem eigenen Handeln nur an dem Anspruch des Perfekten scheitern. Ich laufe stets und ständig Gefahr dem Anderen etwas schuldig zu bleiben: Eine Geste, ein Wort, eine unterlassene Handlung. Weil wir Menschen sind, bleiben wir dem Anderen etwas schuldig. Wie kann also ein „ehrbares" Leben funktionieren, das der Apostel in V. 13 nochmals anmahnt?

Das Führen eines ehrbaren Lebens im Angesicht des möglichen Scheiterns - vielleicht ist es ein Seitenpfad des Textes, aber für mich erhalten diese eher verstaubt anmutenden Töne des Textes mehr und mehr Brisanz und Aktualität. Es führt mich zu der Frage, die für mich zunehmend eine Grundsatzfrage wird: wie leben wir und nach welchen Prinzipien wollen wir leben? Es existiert keine einheitliche oder gesellschaftlich verordnete Lebensform mehr. Wir selbst haben die Autoritäten in der modernen Gesellschaft abgeschafft. Gleichzeitig beklagen wir uns in den Feuilletons der Zeitungen, dem Bildungsgipfel und in vielen Veranstaltungen evangelischer und katholischer Akademien über die Sinn- und Orientierungskrise. Ich wage die kühne These, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft den Wert verlernt haben, dem ein Leben nach den Prinzipien des Ehrbaren überhaupt zukommt. In der Mediengesellschaft scheint vieles nach dem Gesetz zu funktionieren: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? In der Gesellschaft haben wir das Ehrbare verlernt. Wer kennt denn noch das Bild vom „ehrbaren Kaufmann", wie es Thomas Mann fragmentarisch in seinem Roman „Die Buddenbrocks" zeichnet? Wir scheuen uns nicht, die vielgescholtene Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe „Hartz IV" statt korrekter Weise „ALG II" zu nennen... und haben vergessen, dass wir so ein Gesetz nach einem Manager benennen, der in Sexaffären und Korruption bei VW verstrickt war. Und die Wirtschaftselite hamstert trotz Börsencrash und Bankenpleiten weiter, ohne dass der Blitz Gottes vom Himmel herabgefahren wäre.

Wenn ich die beiden so harmlos klingenden Stellen des Predigttextes, nämlich niemandem etwas schuldig zu sein (V. 8) und ehrbar zu leben (V. 13) vor dem Hintergrund dessen lese, was die Gesellschaften weltweit seit einem Jahr umtreibt, nämlich die sich verstärkenden Risse von arm und reich durch eine zügellos gewordene Weltwirtschaft, bekommt eine aktuelle Predigt zum Advent in diesem Jahr beinahe automatisch politische Züge. Da ist das Euphorische des Textes, das den Advent geradezu abgehoben jenseitig erscheinen und damit ein bisschen niedlich sein lässt, eigentlich voll und ganz verschwunden und macht einer Anklage Platz. Die Adventszeit könnte dann - statt im Kaufrausch und Konsum der sich in diesem Jahr geradezu überschlagenden Preissenkungen à la „Winterschlussverkauf schon vor Weihnachten" zu einem Nachdenken über Tugenden werden. Denn seien wir mal ehrlich: das was wir zu Weihnachten alles kaufen, rettet keinen Arbeitsplatz! Aber: Was heißt es „ehrbar zu leben" in einer Zeit, in der immer mehr Menschen ausgeschlossen werden von den Gütern der Gesellschaft. Was bleibe ich den Menschen, die nicht teilhaben können, schuldig? Wo ist mein Handeln ganz konkret gefragt? In Deutschland haben sich in Trägerschaft von Vereinen und Wohlfahrtsverbänden in den letzten Jahren zunehmend sog. „Sozialkaufhäuser" etabliert. Wer hier kauft oder Waren zum Verkauf verschenkt, handelt „fair" und „ehrbar", denn er trägt dazu bei, dass die Menschen, die sozial am Rande der Gesellschaft stehen, teilhaben können. Für mich ist die Adventszeit eine Zeit, in der ich wieder anfangen möchte, ganz nach dem Anliegen des Textes, ehrbarer zu leben.

 

2) Die Liebe als Gesetz des Christentums

Geht man dem Kontext des Textes aus Röm 13,8-14 nach, so stößt man auf einen größeren Zusammenhang. Für den Apostel Paulus gehört das ehrbare Leben mit seinem Grundprinzip: „Seid niemand etwas schuldig..." zu den Bedingungen einer christlichen Existenz. Im Kap. 13 des Römerbriefes entfaltet er die Lehre von den unterschiedlichen Reichen, in die das Verhältnis der christlichen Kirche zur sog. Obrigkeit eingeschlossen ist. Er klärt damit für die Gemeinde in Rom die Bedingung, unter der ein Christ in der Welt lebt. Diese Bedingung hat ein konkretes Vorzeichen: Jesus Christus. Von ihm geht nach Paulus die „Zeitansage" des Lebens aus. Denn mit ihm ist das Reich Gottes nicht nur nahe herbei gekommen, wie es Johannes der Täufer predigte, sondern das Reich Gottes hat schon begonnen. Die neue Zeit ist da! Der Text aus dem Römerbrief führt deshalb mitten in diese Zeitansage hinein. In der abendländischen Geschichte ist dieses Verhältnis, das der Apostel in Röm 13 entfaltet, oft als Begründung eines obrigkeitlichen Denkens verstanden worden. In der Tat schreibt der Apostel in Röm 13,1, dass jedermann der Obrigkeit Untertan sein soll. Konnten darauf nicht alle Herrscher der Weltgeschichte in dem Willen zur Unterdrückung des Volkes setzen? Lässt sich auf diese Weise nicht eine Verbindung vom „Untertan" (Heinrich Mann) zu jener Tugend der Ehrbarkeit ziehen, die dann im Preußentum zu Stechschritt und Untertanengeist geführt hat und uns heute - inmitten einer spätmodernen Gesellschaft - geradezu antiquiert vorkommt? Aber die Obrigkeit, so argumentiert Paulus, ist selbst ein Geschöpf Gottes. Der Theologe Karl Barth schreib dazu in seinem Römerbriefkommentar aus dem Jahr 1922: „Die Größe ‚Obrigkeit' ist, wie alle menschlichen, zeitlichen, dinglichen Größen gemessen an Gott. Gott ist ihr Anfang und ihr Ende, ihre Rechtfertigung und ihr Gericht, ihr Ja und ihr Nein". Und im Lichte dieser unumkehrbaren Priorität - erst Gottes Schöpfung und davon abgeleitet die weltliche Obrigkeit - hat sich der Christ in der Welt zu verhalten.

Vor allem soll der Christ in seinem Leben aber nicht Gott die Ehre schuldig bleiben. Denn - und hier wird das gesamte Kapitel 13 im Horizont des Reiches Gottes gesehen - „die Nacht ist vorgerückt und der Tag aber nahe herbeigekommen" (V. 12). Der Apostel Paulus stellt die ganze christliche Existenz in die Nähe des anbrechenden Reiches Gottes. Weil der Herr Jesus Christus nahe ist (Advent), darum vollzieht sich das christliche Leben unter ganz anderen Bedingungen. In den Augen des christlichen Glaubens hat Jesus von Nazareth das Gesetz (und damit ist das jüdische Gesetz der Tora gemeint) erfüllt. Sein Leben und noch viel mehr sein Tod am Kreuz hat den Bund zwischen Gott und Mensch ein für allemal erneuert. Sein Tod am Kreuz bedeutet für die Menschheit Errettung. Hier hat sich, wie Martin Luther es unnachahmlich in seinen Weihnachtsliedern ausdrückt, der „fröhliche Wechsel" vollzogen.

 

3) Die Ehrbarkeit der Liebe

Aus der völlig neuartigen Perspektive des Reiches Gottes heraus verbindet Paulus die doppelte Botschaft einer Ehrbarkeit des Lebens und dem Grundsatz, niemandem etwas schuldig zu sein mit den zwei Grundprinzipien christlicher Existenz, nämlich den Herrn Jesus Christus „anzuziehen" V. 14), wie er sagt und in der liebenden Fürsorge und Existenz für den Anderen den eigenen Glauben zu leben und genau auf diese Weise das, was das jüdische Gesetz dem jüdischen Gläubigen abverlangt, in der christlichen Existenz zu erfüllen. So versteht sich der Satz aus V. 8: „wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt". Was aber kann ich mir darunter genau vorstellen? Welche Liebe ist hier gemeint?

Stelle ich die Liebe in den Zusammenhang mit dem Glauben, so heißt das zunächst, dass im liebenden Handeln der Andere, seine Nöte, Probleme und Ansprüche im Vordergrund stehen. Der Andere wird mir zur Aufgabe. In gewisser Weise wird mir der Andere zur Ehre, indem ich ihm die Ehre erweise. Aus diesem Verständnis lebt nicht nur die christliche Diakonie, sondern auch die jüdische Ethik. Und auch der Islam stellt die Haltung der Nächstenliebe als eine religiöse Tugend als besonders wichtig heraus. Formulierte der Theologe Dietrich Bonhoeffer den Satz, dass Christsein „Dasein für Andere" bedeutet, konnte er sich hierbei auf die von dem jüdischen Philosoph Martin Buber beschriebene Erkenntnis stützen, wonach das Ich erst am Du zu seiner wahren Identität gelange. Im Tun des Guten kommt demnach die interreligiös zu verstehende Fürsorge am Nächsten zum Tragen. Nun stellt der Apostel Paulus in Röm 13,8-14 heraus, dass wer den Anderen liebt, das Gesetz erfüllt hat. An dieser Stelle unterscheiden sich nun aber wieder christliche und jüdische Auslegung. Für das Judentum kann die gute Tat des Menschen am Anderen nicht vollständig die Tora-Observanz, die zur Grundlage des jüdischen Glaubens gehört, ersetzen. Im christlichen Verständnis vollzieht sich durch die liebende Tat eines Menschen am anderen die Versöhnung, die von Gottes Seite aus in Jesus Christus geschehen ist. Man kann sagen: in der liebenden Tat am Nächsten ist das Reich Gottes für einen Moment da. Vielleicht ist es gewagt zu sagen, dass Diakonie die adventliche Existenz des Christlichen darstellt. Es ist die Ehrbarkeit der Liebe, die Gott in der Not des Anderen erkennt und im Handeln am Anderen zur Erfüllung kommt.

Wenn der Apostel Paulus also ganz still und in gewisser Weise unaufgeregt davon spricht und uns auffordert, niemandem etwas schuldig zu sein, dann stellt er dies in den theologischen Dreiklang von Hoffnung - Glaube - Liebe so wie er es an anderer Stelle im 1. Korintherbrief entfaltet hat. Im Angesicht des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes, geht es darum Gott im Anderen des Ehre zu erweisen. Dies heißt im paulinischen Sinne „ehrbar leben".

Wir können das als Christinnen und Christen in der Welt von heute tun, indem wir uns von der Not des Anderen berühren lassen. Und wir werden dann dem Anderen in Liebe gerecht, wenn unser Handeln nicht auf der Grundlage einer mildtätigen Gabe bleibt, sondern so geschieht, dass dem Anderen die Würde belassen wird. Wenn man das ernst nimmt, dann wird der Glaube im Advent zu einer eminent politischen Angelegenheit, weil er sich nicht mehr von den schnulzigen Weihnachtsliedern und dem ewigen Gedröhne von „Jingle bells, jingle bells" von Aldi bis Plus vom eigentlichen abhalten lässt. Dann verhallt endlich jener dümmste Satz in der Werbegeschichte vom Geiz und anderen Sachen und steht in großen Lettern am Eingang von Lidl und Karstadt, an den Buden jedes Adventsmarktes und vor allem über den Schalterhallen in den Banken: „Last uns ehrbar leben". Wir teilen und geben damit Gott die Ehre - wir erweisen dem Anderen die Liebe und geben damit Gott die Ehre. Wir haben nicht mehr nur die eigenen Interessen im Kopf und erweisen damit dem Anderen eine Ehre.

Advent heißt: lasst uns damit anfangen!



Prof. Dr. Ralf Hoburg
Diakoniewissenschaft und Wohlfahrtsökonomie
Fachhochschule Hannover
Fakultät V Diakonie, Gesundheit, Soziales
Blumhardtstr. 2
30625 Hannover
E-Mail: Ralf.Hoburg@t-online.de

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