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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiligabend, 24.12.2009

Predigt zu Titus 2:11-14, verfasst von Wolfgang Vögele

„Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, daß wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken."

             I. Heilsame Gnade

Liebe Gemeinde,

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes.

Weihnachten ist wie der Flug in einer Zeitmaschine. Und die Zeitmaschine fliegt mit ihrem Kameraauge von außen irgendwo aus den Tiefen des Weltraumes auf die Erde zu. Sie dringt in die Atmosphäre ein und läßt die Wolken links und rechts neben sich liegen. Sie beschleunigt nochmals das Tempo. Man sieht zuerst die arabische Halbinsel, dann Zypern, den Sinai und das Gebiet von Palästina, dann Jerusalem und Hebron, dann die Stadt Bethlehem mit ihren verwinkelten Straßen, schließlich den Platz der Krippe und die Geburtskirche. Die Zeitmaschine führt uns in ihrer rasanten Kamerafahrt nicht nur an den richtigen Ort. Sie fliegt mit uns auch in der Zeit zurück, über die Wiedervereinigung und über den Zweiten und den Ersten Weltkrieg, über das Zeitalter der Industrialisierung und der Aufklärung, schließlich über das Mittelalter und die Ära der Völkerwanderung in die Zeit des römischen Mittelmeer-Imperiums, damals, als der Friedenskaiser Augustus regierte.

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes.

Weihnachten ist eine Zeitmaschine, die unsere Aufmerksamkeit von aller verworrenen Gegenwart ablenkt und sie zurückführt in die verlassene Gegend, zu diesem elenden Holzverschlag, den man mit etwas Phantasie einen Stall nennen kann. Dort und damals ist das geschehen, was die gleichgültige Welt und die störrischen Herzen der Menschen im Kern verändert hat.

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes.

Lassen wir alles beiseite, was uns helfen soll, Aufmerksamkeit und Konzentration auf Weihnachten zu richten: duftende Kerzen an den Tannenbäumen, mit roten Schleifen eingepackte Geschenke, nach Zimt und Vanille schmeckende Plätzchen, auch die schönen Lieder, die die Knaben-, Mädchen- und Oratorienchöre seit vier Wochen bei den Adventsmusiken singen.

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes.

Weihnachten führt uns zusammen mit den schwebenden Engeln, den frierenden Hirten und den neugierigen Weisen aus dem Morgenland zurück an den ersten Ursprung des Glaubens, an den Anfang aller unserer Hoffnung, an den Beginn der Gnade. Weihnachten ist der Rückweg einer Erinnerung: Jeder kann die Gegenwart stehen lassen, die Masken abnehmen und die Mäntel der Lasten und Sorgen abstreifen. Wir gehen in aller Schlichtheit zurück zum Stall und beten vor der Krippe. Von hier aus gewinnen wir einen anderen, überraschend neuen Blick auf die Gebrechen und Oberflächen unserer Zeit, auf die Gegenwart der laut und heiß beredeten Krisen und auf die Zukunft.

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes.

             II. Die Gnade ist ein Mensch

Die Gnade ist klein. Sie wiegt zwischen 3500 und 4500 Gramm, und sie atmet und schreit. Die Gnade strampelt mit den Füßchen und erfreut sich der zärtlichen Fürsorge der jungen Mutter Maria. Die Gnade verschläft den größeren Teil des heiligen Abends, die Gnade wird viermal in der Nacht gestillt, und sie macht pflichtgemäß ein Bäuerchen. Die Gnade ist nach der Geburt gewaschen worden, und nun liegt sie in Stroh gebettet. Sie hat noch gar nicht gemerkt, wie hell im dunklen Himmel über dem Stall die Sterne strahlen. Maria läßt die schlafende Gnade nicht aus den Augen, und auch Josef kann den Blick kaum von ihr wenden. Es sind auch Tiere im Stall: Sie wundern sich, was mit der Gnade geschieht.

Alle, die sich im Stall vor Kälte aneinander kauern, wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß die Gnade bald schon mit ihren Eltern fliehen muß. Die Gnade entkommt dem grausamen und machtgierigen Kindermörderkönig Herodes. Dann kehrt sie aus Ägypten zurück und wird älter und älter: Sie wird predigen und Aussätzige heilen, sie wird Jünger sammeln und zu Verkündigern ausbilden. Sie wird einen gewaltigen Aufruhr verursachen und sie wird von ihren Gegnern mißverstanden werden. Die Römer werden die Gnade gefangen nehmen, sie foltern und später zum Tode verurteilen. Die Gnade wird gekreuzigt, und Gott wird sie auferwecken.

Die Gnade ist kein Prinzip und keine Eigenschaft, sie ist keine Tugend und kein Kennzeichen, keine Einstellung und keine Haltung. Die Gnade Gottes ist ein Mensch.

Das ist das Besondere, das Wunderbare und Großartige von Weihnachten: Die Gnade ist ein Mensch. Die Gnade ist ein Mensch mit einer Lebensgeschichte vom schreienden Baby bis zum qualvollen Tod - und darüber hinaus. Die Gnade ist sichtbar, und wer sie sehen will, der muß nur die Augen öffnen.

Die Gnade erscheint allen Menschen, nicht allein den Glaubenden. Allen Menschen ist die barmherzige Gnade erschienen. Wirklich allen Menschen.

             III. Besonnen, gerecht und fromm

Wem diese Gnade erscheint, der will selbst sehen und hören. Er kann die manchmal schützenden, oft aber auch unbequemen Kleider der Gegenwart abstreifen und an den Ausgangs- und Ursprungspunkt dieses Gnadenwunders zurückkehren, zum Stall, zur Krippe, zum kleinen Kind, das einmal der große Heiland werden soll. Wer so die Gnade Gottes, Mensch geworden, bestaunt, der verwandelt sich im Herzen, in der Seele und im Leben. Diese göttliche Gnade ist wie ein Geschenk, über das sich der Beschenkte freut, wie eine Christbaumkerze, die leuchtet und wärmt, wie eine Überraschung, mit der niemand gerechnet hat.

Wer diese Gnade bestaunt, der gewinnt Besonnenheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit, aber eben nicht von selbst, sondern so, daß jeder daran mitarbeitet, Geduld zu üben, gerecht zu entscheiden und Gott im Leben, in Gebet und Andacht Raum zu geben. Wie Gott die Gnade vermenschlicht hat, so vermenschlichen auch die andächtigen Betrachter der Gnade ihr Handeln gegenüber den Nächsten, gegenüber der Familie und gegenüber den Mitmenschen.

Wer das kleine gnädige Kind sieht, der muß sich nicht durchsetzen. Denn auch ein neugeborenes kleines Kind schwingt sich nicht sofort zum Herrscher über die Familie auf. Es ist angewiesen auf den Schutz und die Hilfe seiner Eltern. An die Stelle des Kampfes und des Geschreis tritt Geduld. Wer geduldig ist, kann Dinge geschehen lassen, ohne gleich Recht haben zu müssen. Der Geduldige läßt anderen Menschen ihren eigenen Raum und ihre Zeit. Eigentlich erstaunlich, daß im Titusbrief die Geduld und nicht die Frömmigkeit an erster Stelle genannt wird.

Wer das kleine gnädige Kind ansieht, der muß nicht immer Recht haben. Denn er kann überzeugt sein: Gottes Gerechtigkeit wird sich einmal durchsetzen. Genauso wie das Kind älter und größer wird, zum erwachsenen Prediger und Heiler, zum Propheten der Menschen in Israel heranreift, genauso wächst die Gerechtigkeit Gottes, die über unserer, manchmal so kleinlichen, eng gedachten Eigengerechtigkeit steht. Und auf diese Gerechtigkeit Gottes kann der Betrachter der Gnade vertrauen.

Und wer schließlich über das kleine, gnädige Kind staunt, der kann Gott im Leben Raum geben. Die Gewißheit seines kleinen und gelegentlich vom Zweifel befallenen Glaubens richtet sich darauf aus, dem Gott Platz zu machen, bei dem nichts unmöglich ist. Wenn Gott in einem kleinen Kind im Stall eines römisch-jüdischen Provinznestes vor mehr als 2000 Jahren Gestalt gewinnen kann, dann kann ich ihm vieles zutrauen, auch in meinem kleinen Leben, auch in meiner unübersichtlichen Gegenwart. Gott ist dann etwas anderes als ein unnahbares Schicksal über dem Sternenzelt, das grausam und herzlos die Fäden menschlicher Lebensgeschichten knüpft und wieder durchtrennt.

             IV. Warten

Liebe Schwestern und Brüder, Weihnachten befreit uns für einen kleinen Moment aus dem  mühsamen Gewebe der Gegenwart. Wer die Krippe ernst nimmt, streift Sorgen und Nöte ab, um - vielleicht nur für ein paar Minuten - die Welt aus dem Blickwinkel dieses gnädigen göttlichen Babys wahrzunehmen. Das Kind in der Krippe, es spielt uns die Grundlage für Gelassenheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit zu, Eigenschaften, mit denen wir aufmerksam weiterleben und in die unwirtliche Gegenwart zurückkehren können. Der faszinierte Blick auf das sanft schlummernde Kind verändert die Menschen. In die Gegenwart kehren wir gestärkt und getröstet zurück - wie die Hirten auf das Feld, wo die Schafe warten.

Der bleibende Trost liegt in einer neuen Orientierung. Wer auf das Kleine blickt, der fürchtet sich nicht mehr so sehr vor allem Großen und scheinbar Übermächtigen. Die Proportionen, die Verhältnisse ordnen sich neu. Was übermächtig erscheint, enthält vielleicht doch nur heiße Luft, und was klein und unscheinbar ist, kann uns tiefer und gründlicher in der Seele berühren als all das Grelle, Schrille, Laute und Lärmende. Was uns im Alltag täglich wichtig ist, was uns Streß und Ärger verursacht, rückt nach hinten, weil plötzlich das Hohle und Oberflächliche daran ins Auge fällt. So rückt der Blick auf das Kind manches gerade, was einem in der Unübersichtlichkeit des Alltags beängstigend und bedrängend erscheint.

Und dann, so der Titusbrief, kommt es auf das Warten an: Wer das Kind der Gnade gesehen hat, der kann warten, im Menschlichen, im Politischen wie im Göttlichen. Geduld führt dazu, dem anderen, dem Bruder, der Ehefrau, der Großmutter, dem Freund und der Partnerin ihren eigenen Raum zu lassen. Im Politischen ist das Warten das Gegenteil von allem vorschnellen und unüberlegten Aktivismus. Das Übertriebene, das Spontane und das Hektische ist der Feind alles gut Überlegten und Klugen. Und was die Gewißheit des Glaubens angeht: Wer das Kind in der Krippe gesehen hat, der hat den Anfang göttlicher Gnade gesehen. Ihre Vollendung steht noch aus. Menschen müssen nicht selbst vollenden, was Gott angefangen hat.

Warten heißt: Menschen gestalten Gottes Herrlichkeit nicht selbst, sie warten nur darauf, bis daß sie (wieder-)kommt. Darum gewinnt, wer nicht selbst Gott spielen will, sondern auf ihn warten kann, einen großen Raum der Freiheit. Und diesen Raum der Freiheit kann er in aller Menschlichkeit und Geduld nutzen. Wer das Kind in der Krippe sieht, der merkt das von selbst, der braucht dafür keine Erläuterungen.

Das ist das Wunder der Geburt.

Das ist das Wunder von Weihnachten.

Amen.



Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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