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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiligabend, 24.12.2009

Predigt zu Lukas 2:1-10, verfasst von Margrethe Dahlerup Koch

Vielleicht haben viele von uns heute Vormittag oder am frühen Nachmittag das Phänomen erlebt: man entdeckt auf einmal, dass man mit einem Kartoffelschälmesser in der einen Hand und dem Autoschlüssel in der anderen mitten im Badezimmer steht, und man ist völlig leer im Kopf: Was war es nochmal, was ich vorhatte?

            Wenn einen Vergesslichkeit und Verwirrung so überfallen, dann empfehlen manche Experten in Sachen Stress und Gedächtsnisschäden, dass man zurückgeht. Zurück zu dem, wovon man ausgegangen war, denn in der Regel wird man die Antwort dort finden: Wenn man z.B. die Schublade in der Küche wieder aufzieht, erinnert man sich vielleicht, warum man kurz davor das Kartoffelschälmesser rausgenommen hatte.    In die Kirche gehen heißt, die Bewegung an den Ausgangspunkt vornehmen. Die Kirche steht hier, damit wir, vergesslich und verwirrt, immer einen Ort haben, an den wir zurückkehren können, wenn wir vergessen, weswegen wir hier sind.

            Hin und wieder klagen die Konfirmanden darüber, dass hier alles so langsam vor sich geht. Das Glaubensbekenntnis z.B. könnte man in der Hälfte der Zeit hersagen, ganz zu schweigen von den endlos langen Liedern. Aber gerade Langsamkeit hat damit zu tun, dass wir hier sind, um nicht zu vergessen. Wenn wir zu Fuß unterwegs sind und versuchen, uns etwas sehr wichtiges ins Gedächtnis zu rufen, dann verlangsamen wir unwillkürlich unsere Schritte. Vielleicht bleiben wir sogar für einen Augenblick ganz stehen, um besser nachdenken zu können. Wenn Gespräch Verständnis fördert, dann hemmt Langsamkeit andererseits die Vergesslichkeit.

            Langsam zum Ausgangspunkt zurückgehen - zum Anfang. Diese Bewegung lässt Lukas uns vollziehen, wenn wir sein Weihnachtsevangelium hören. Im Eselstempo wandern wir mit Joseph und Maria von Nazareth zurück zur Stadt Bethlehem, die der Ausgangspunkt Josefs und seines Geschlechts ist. Einerseits ist das ja das Ergebnis einer völlig lächerlichen bürokratischen Volkszählung - die Leute in die Geburtstädte ihrer Ahnen zurückzujagen, anstatt sie dort zu registrieren, wo sie jetzt leben (die Unsinnigkeiten einer jeden heutigen Kommunalreform sind geradezu ein Labsal verglichen mit dem Systemdenken des Augustus und Quirinius). Auf der anderen Seite hat die Wanderung zum Ausgangspunkt - nach Bethlehem - auch eine symbolische Bedeutung, eine Pointe, die entscheidend ist. Das Weihnachtsevangelium will uns mit an den Ausgangspunkt nehmen. Zu dem, was wir vergessen haben. Zu dem, womit alles anfängt. Und in der Weihnacht zeigt sich, dass es ein neugeborenes Kind ist, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Das Kind, das Gott ist, Schöpfer des Himmels und der Erde und der Anfang aller Dinge.

            "Was war es nochmal, was ich vorhatte?" lautete unsere vergessliche, verwirrte Frage. In der Weihnacht werden wir mit den Hirten zu dem Kind in der Krippe geführt, um die Antwort auf diese Frage zu sehen. Und es geht nicht darum, uns noch mehr für die Anbetung von Kindern zu motivieren, die die armen Kinder fast erstickt, wenn sie nicht am Ende hier zu Weihnachten im Mittelpunkt stehen und die Erfüllung aller Träume und Erwartungen von uns Erwachsenen sein sollen.

            Nein, es geht um die ganz fundamentale Erfahrung, die wir machen, wenn wir mit einem Säugling zu tun haben: nämlich dass es uns hier, mit einem Kind auf dem Arm, nicht erlaubt ist, nur an uns selbst zu denken. Hier entdecken wir, dass es einen gibt, der wichtiger ist als wir selbst. Mit oder ohne Worte, mit oder ohne einen Laut ruft das Kind nach uns und unseren Kräften, unserer Liebe und Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen.

            Selma Lagerlöff erzählt von dieser Erfahrung in ihrer Geschichte von Jan in Skrolykke, dem schon etwas älteren Junggesellen, der nun endlich geheiratet hat - man muss doch jemanden haben, der einem das Essen macht und für saubere Wäsche sorgt - und dann sieht es auch danach aus, dass dabei ein Kind herauskommen wird. Ja, das war nun nicht ganz der Sinn der Sache, meint Jan. Das Kind ist das Projekt seiner Frau. Ein Mund mehr, der satt werden wollte. Und viel Geschrei und Lärm. Jan weiß, dass Kinder hungrig sind und Lärm machen. Und jetzt sitzt er draußen im Holzschuppen, während im Hause die Geburt stattfindet. Mürrisch und verdrießlich sitzt er da draußen, von der Hebamme und den anderen Frauen fortgeschickt, in der Dunkelheit des Schuppens und wartet. Schließlich kommen sie aus dem Haus und holen ihn. "Es ist ein Mädchen." Na. Ein hässliches, gerötetes, runzeliges Gesicht kann er sehen. Da legt die Hebamme das kleine Bündel in seine Arme. Und Jan trifft der Schlag. Das Herz in seiner Brust beginnt zu hämmern, wie es nie zuvor gehämmert hat. Erschrocken bittet er die Hebamme nachzufühlen. Glaubt sie, dass er krank ist? Die Hebamme schlägt besorgt vor, dass sie das Kinder wieder nimmt, aber es kann keine Rede davon sein, dass Jan das Mädchen wieder weggibt. Und da begreift die Hebamme, wie es um Jan steht. "Hast du niemals jemanden so lieb gehabt, dass du um ihretwillen Herzklopfen gehabt hast?" fragt sie. "Nee", antwortet Jan. Und auf einmal begreift auch er sowohl, was eben jetzt geschieht, als auch, was bisher mit ihm los war. "Denn wer niemals in seinem Herzen etwas von Trauer oder Freude gemerkt hat, der kann wohl nicht als ein richtiger Mensch gelten."

            Es beginnt nicht bei mir selbst. Daran denken wir, wenn wir ein Neugeborenes im Arm haben. Es beginnt mit dem anderen, mit Gott, der seit dieser Weihnacht die Gewohnheit gehabt hat, uns vor allem in anderen Menschen zu begegnen. Im Kind, im Fremden, in den Gebrechlichen und Hilflosen, die nach unserer Fürsorge rufen. Oder Gott begegnet uns in dem, der das erlösende Wort sprach, in dem, der tröstete, in dem, der bei uns blieb und uns anhörte, oder in dem, der uns den Stoß gab, der uns in Bewegung versetzte und uns dazu vermochte, das hoffnungslos Verwickelte und Zerstörte mit neuen Augen zu sehen.

            In diesen Tagen und Stunden bis zu diesem Augenblick ist möglicherweise so mancher von uns hin und wieder von Vergessen und Verwirrung heimgesucht worden. Aber jetzt sitzen wir hier. Jetzt geben wir uns der Ruhe hin. Jetzt ist Festtag - und jetzt haben wir viel Zeit. Und deshalb ist Heiligabend der Abend, an dem wir uns vielleicht am allerbesten und deutlichsten erinnern. Sie melden sich immer wieder zu Weihnachten, die Erinnerungen. Sie kriechen aus der Schublade mit dem Weihnachtschmuck ans Licht. Sie hängen im Duft von Rotkohl, und sie werden wachgerufen, wenn man ein bestimmtes Lied singt. "Erinnerst du dich", "das war doch an dem Weihnachtsfest, als". Alle die guten, lustigen Erinnerungen, die das Gefühl der Geborgenheit in uns wachrufen. Und alle die Erinnerungen, die weh tun, weil man jemanden vermisst, der dazugehörte. Denn jetzt sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Dort, wo wir sehen, dass alles nicht mit mir selbst beginnt, sondern mit dem anderen, mit Gott. Und derjenige, der es wagt, andere den Anfang sein zu lassen, ist verwundbar und wird immer etwas in seinem Herzen spüren, in Trauer und in Freude. Deshalb ergreift uns beides zu Weihnachten.

            Und deshalb ist das Weihnachtsevangelium auch ein Engelswort vom "Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens". Friede mit dem, was war, und Friede mit dem, was kommen wird. Wie es nicht mit mir beginnt, sondern mit Gott, so endet es auch nicht mit mir, sondern mit Gott. Und Gott, so werden wir gleich singen, "wird alle Sorgen wenden / zu Freuden ohne Ende".

            In der Weihnacht stehen wir still und werden daran erinnert, dass wir daran glauben und darauf hoffen und davon leben.

Amen



Pastorin Margrethe Dahlerup Koch
Tim (Dänemark)
E-Mail: mdk@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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