Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Weihnachtstag, 26.12.2009

Predigt zu Hebräer 1:1-4, verfasst von Werner Grimm

Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn.
Den er eingesetzt hat zum Erben über alles,
durch den er auch die Welt gemacht hat.
Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens
und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort
und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden
und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe
und ist so viel höher als die Engel,
wie der Name, den er ererbt hat,
höher ist als ihr Name.

Liebe Gemeinde!

Als ich vor vielen Jahren bei einem Leichenschmaus von einem kleinen mir unbekannten Jungen mit „Boris Becker" verwechselt wurde, als seine Augen dabei leuchteten, als ich richtigstellte: „Ich bin nicht Boris Becker", als er dann, nur für einen Augenblick enttäuscht, erneut mich taxierte und triumphierte: „Dann bist du aber der Vater von Boris Becker!", da lag dieser Schlussfolgerung des Buben natürlich das Allerweltswissen zugrunde: Es kommt oft vor, dass ein Mensch „ganz der Vater" ist[1]. Man meint dann, im Sohn die Stimme, die Gestalt, die Verhaltensweisen und die Eigenarten des Vaters wiederzuerkennen. Unter uns, im Zwischenmenschlichen haben wir das nicht besonders gern, wenn jemand zu uns sagt: Ganz der Vater! Denn wir wollen ja als eigenständige Person mit einer individuellen Persönlichkeit wahr- und ernstgenommen werden. Gene hin und Erziehung her, wir halten uns doch zugut, dass wir uns ständig weiterentwickeln - durch die Freiheit unserer Entscheidungen und in der Kraft unseres Willens!

Das Mysterium der Weihnacht besteht nun freilich genau in diesem Rückschluss-Angebot; die Apostel verkünden: In Jesus seht ihr den, der „ganz der Vater" ist, und Jesus hat nichts dagegen, dass ihr ihn so seht. Im Gegenteil! Der den Brief an die Hebräer schrieb, formulierte geradezu hymnisch, überschwänglich: Gott hat in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens. Mehr als durch das Schauen und Hören auf Jesus kann man nicht vom „Vater im Himmel" in Erfahrung bringen. Er ist ganz der Vater, wenn er sagt: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen; selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen; selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen." Er ist ganz der Vater, wenn er dem mit dem brüchigen Leben sagt: „Deine Sünden sind dir vergeben, steh auf, nimm dein Bett und gehe!" Er ist ganz der Vater, wenn er die Kinder umarmt und die profitgeilen Händler vom Kirchplatz jagt. Jesus ist so „ganz der Vater", dass die Weihnachtsgeschichte erzählt: Gottes Sohn ist in der Geburt des Kindes von Maria und Josef zur Welt gekommen. Denn es gab nie vorher und nie nachher einen Menschen, der Gott soo ähnlich war! Und so wie Jesus in seiner kurzen irdischen Lebenszeit einem anderen Menschen begegnet, so wie er sich ihm zu-neigt, genauso geht der himmlische Vater auf Sie und auf mich zu!

 

Der Apostel lässt ein zweites Bild einfließen: Jesus ist der, der sozusagen „ganz auf der Höhe ist", nämlich auf der Höhe Gottes und viel höher als die Engel. Dreimal im Text hier das Wort „hoch"!

Lassen Sie uns diese Symbolik aus dem Zusammenhang des Lebens verstehen: Gerade jetzt um die Weihnacht intensiviert sich unsere Gefühlswelt. Verdrängte Sehnsüchte erwachen aufs neue[2]. Wir spüren es schmerzlich, wenn wir im Chaos leben, im Sumpf von Verwicklungen stecken oder in einem Loch der Trauer - dann möchten wir gerade jetzt heraus, nach oben, möchten gleichsam von Engeln berührt werden, möchten über den Dingen stehen, einen höheren Standpunkt gewinnen, von dem aus wir einen Sinn unseres Lebens begreifen könnten, auch in rätselhaften Schicksalswenden und in verdorbenen Verhältnissen noch irgend etwas Gutes entdecken. Einmal wenigstens Abstand vom „irdischen Getümmel", um wieder Überblick zu bekommen und alles in die rechten Relationen zu setzen. Einmal alles - aus dem Blickwinkel Gottes sehen, vielleicht nähme uns das manche Last von der Seele.

Dasjenige irdische Unternehmen, das dem Ideal Abstand vom Irdischen am nächsten kommt, dürfte seit einigen Jahrzehnten der Astronautenflug sein. Steigen wir in Gedanken doch einmal ein ins Raumschiff! Was erleben Astronauten bei solchem Abstandnehmen? Zuerst, erzählen sie, gewahrt man mit großem Staunen sein Land. Nicht Nationalstolz sei es, was einen da erfüllt, wohl aber Dank dafür, dass man in

dieser Welt eine Heimat hat, eine Lebenslandschaft, wo man zugehört und die man mit anderen Menschen teilt. Je größer dann der Abstand von der Erde wird, desto mehr verflüchtigt sich dieser Heimatstolz, und alle im Raumschiff sehen nun die ganze Erde als ihre Heimat. James Irvin: „Die Erde erinnerte uns an eine in der Schwärze des Weltraums aufgehängte Christbaumkugel. Mit größerer Entfernung wurde sie immer kleiner. Schließlich schrumpfte sie auf die Größe einer Murmel - die schönste Murmel, die du dir vorstellen kannst. Dieses schöne, warme, lebende Objekt sah so zerbrechlich, so zart aus, als ob es zerkrümeln würde, wenn man es mit dem Finger anstieße. Ein solcher Anblick muß einen Menschen einfach verändern, muß bewirken, daß er die göttliche Schöpfung und die Liebe Gottes dankbar anerkennt." Bei manchen Astronauten ist daraus eine tiefe Ehrfurcht vor dem Schöpfer des Kosmos geworden. Sie haben die Erde, die Trägerin unseres irdischen Lebens, „von oben her" gesehen. Sie wurden dabei durch und durch von der Gewissheit erfüllt, dass diese Erde die Erfindung eines guten Gottes sein muss, ein unendlich kostbarer und wunderbarer Wohnraum, den wir verteidigen, pflegen, ja schmücken sollen, nicht mit dem Kopenhagener Krämergeist, sondern mit heißer Liebe.

Aber nun denken Sie sich selbst als ein winziges, mit dem Auge gar nicht mehr zu sehendes Staubkörnchen auf dieser Erde. Empfinden Sie den unendlichen Abstand Gottes zu den Menschen mit - wie Er hoch oben über all den Turbulenzen thront, die sich zwischen den einzelnen Winzlingen auf dem Erdkügelchen abspielen mögen. Wenn wir uns so in Gott hineinversetzen, könnte uns das Grausen packen: Was werden diesen Gott in der unendlichen Höhe meine Ängste kümmern, was werden ihn meine betriebsbedingte Entlassung und deine Verstörung nach der Scheidung scheren?!

Aber genau mit dieser Furcht einer kosmischen Verlassenheit haben wir am Wunder der Weihnacht angedockt: Nicht wir müssen während unserer irdischen Lebenszeit auf irgend eine anstrengende Weise zum Himmel aufsteigen, um von höherer Warte unser kleines, unverstandenes Leben ein bisschen besser „einordnen" zu können. Sondern Weihnachten ist die genaue Gegenbewegung: Er, der den Überblick hat, kommt in die Tiefe, in die hintersten Winkel irdischer Plagen. Denn alles, was das Menschlein tut und erleidet, berührt ihn eben sehr, geht ihn unbedingt an, mehr noch: Er will diesem Winzling mit dem so begrenzten Leben zur Seite gehen. Seine heilende Nähe ihn spüren lassen. Sein Gesicht ihm zeigen. Das Erschrecken des Menschen vor dem Tod und dem Selbstverlust - es soll nicht dabei bleiben. Da ist etwas Umfassenderes; da kommt noch etwas ganz Anderes; eine Höhe jenseits aller unserer Vorstellungen, jenseits unserer kleinen irdischen Lebenszeit. Unsere Augen, unseren Sinn dahin zu lenken, unsere Sehnsucht wachzuhalten - in dieser Mission betrat Jesus die Bühne der Welt. Und in dem, was er sprach und was er tat, tut uns Gott etwas vom Sinn des Ganzen kund. Gibt uns vom absoluten Überblick her Maßstäbe an die Hand, die wir nicht selber erfinden können. Maßstäbe, die helfen, ein Leben zu führen, das vor der Ewigkeit Bestand hat. Und flößt uns ein Ur-Vertrauen ein, dass wir inmitten dieser so brüchigen Welt doch von der Hand einer liebenden Macht umgriffen und in ihr geborgen sind.

Ist das glaubhaft? Ist eine so besetzte höhere Ebene des Lebens, ist die noch ganz andere Dimension vorstellbar? Nun, die andere Dimension gibt es schon im Aufbau des irdischen Lebens immer wieder. Denken Sie nur an Ihr Haustier, sagen wir eine Katze. Sie bildet mit Ihnen eine mehr oder weniger enge Lebensgemeinschaft. Sie kuschelt sich, wenn es ihr gefällt, wohlig in Ihren Schoß. Sie weiß, wo das Milchschälchen steht und dass sie ihre Notdurft nicht eben im Wohnzimmer zu verrichten hat. Sie erkennt wohl, ob Sie gerade zornig oder zärtlich gestimmt sind, und sie selbst hat in Bezug auf Sie ähnliche Gefühle. Aber sie begreift vom höheren Sinn vieler Verrichtungen ihrer Herrin absolut nichts: warum Sie morgens aus dem Haus verschwinden und erst abends wieder zurückkehren und warum Sie zwei Stunden vor einem Kasten hocken und mit den Fingern auf einer Tastatur herumfummeln und unansprechbar sind. Und den präzisen Sinngehalt Ihrer Worte kann sie erst recht nicht erfassen. Und trotzdem ist eine geradezu innige Kommunikation zwischen Ihnen beiden möglich, obwohl Sie doch auf verschiedenen Ebenen der Welt leben. Und vor allem gibt es bei der Katze ein berechtigtes Vertrauen, dass Sie es gut mit ihr meinen. Ein Vertrauen auch, dass die Signale, die Sie ihr geben, ihrem Leben dienen, wenn sie sie befolgt.

Mysterium der Weihnacht, symbolisch, nicht naturwissenchaftlich gesprochen: Aus unvorstellbarer „Höhe" begibt sich der Höchste hinab, um die im Irdischen Befangenen und auf sich selbst Starrenden an die Ewigkeit zu erinnern.

 

Im Briefeingang des Hebräerbriefes wird ein dritter Schatz des christlichen Glaubens gestreift, der dann an Karfreitag und Ostern in den Mittelpunkt des Bewusstseins rückt: Jesus hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät. Da versperren sich die Leute heute freilich; sie wollen selbst ihrer Sünde Herr sein bzw. Herr werden. Für mich hätte er nicht sterben müssen, schallt es uns entgegen. Ich kann die aus diesen Rufen sprechende Philosophie der Unvertretbarkeit des menschlichen Individuums nicht mit leichter Hand wegwischen. Aber lassen Sie uns doch hier einmal einige Minuten auf das letzte Bild schauen: „Er sitzt zur Rechten der Majestät". Das ist, nach weiteren Stimmen des Neuen Testaments, Jesu ewige Fürsprecherrolle. Vielleicht wehren wir uns ja gegen diese „Vorstellung" nicht. Wieder will ich von einer Frage, wie sie das Leben stellt, behutsam an das Geheimnis herantreten - mit einer literarischen Reminiszenz[3].

Barbara Beuys erzählt in ihrer Biographie von Annette von Droste-Hülshoff auch ein Erlebnis der 23-Jährigen, das diese nie verwunden hat: Vier nahe Verwandte der jungen Frau intrigieren gegen sie und ihre große Liebe Heinrich Straube. Ein bisschen erinnert der fiese Test an Mozarts „Cosi fan tutte": Ein  Freund des geliebten Heinrich Straube wird quasi auf Annette „angesetzt". Kann sie seinen Annäherungsversuchen widerstehen? Man bedenke die Zeit: Es war frühes 19.Jh., und das, was sich schickte, war einem adligen Fräulein streng vorgeschrieben. Wir würden, was dann geschah, als verhältnismäßig harmlos bezeichnen. Der Tester bringt sie durcheinander, und sie spielt, halb fasziniert, halb abgestoßen, das erotische Spiel ein kleines Stückchen weit mit. Rückblickend schreibt sie, nach einem halben Jahr größter Seelenpein, ihrer Tante: Er hat mich behandelt wie eine Hülse, die man  auf alle Art drücken und brechen darf, um zum Kern zu gelangen.... ich sollte mit Gewalt recht schuldig werden... ich denke Tag und Nacht an Straube; ich hab ihn so lieb.... und nun meint er wohl, ich hätte ihn nie lieb gehabt. Die Tante und

andere verweigern ihre Bitte um vermittelndes Eingreifen und Erklärung der Situation. Keine Fürsprache kommt zu Hilfe. Es hätte nur eines kleinen Winks bedurft, um Gewissensqualen in erneutes Liebesglück zu verwandeln. Keine große Anstrengung hätte es gekostet, aber es gab da keinen Anwalt, der die „Schuld" der „schuldig Gewordenen" mit den Augen der Barmherzigkeit angesehen und ins menschliche Maß gesetzt und der den Moralisten zugerufen hätte: Schluss jetzt mit eurem Hochmut! Die Geliebten sehen und sprechen sich nie wieder; statt dessen leidet die Droste noch viele Jahre später unter Selbstvorwürfen - bis hinein in ihre Gedichte: „Ach, ich musste wohl die Kraft verspielen in dem Spiel um Sünd und Leidenschaft". Sünde - war das Wort für das, was geschehen war, nicht viel zu groß? Jedenfalls: In einem Gebet aus dieser Zeit, da wirft sie sich in ihrer inneren Not  auf Gott und hat für ihn Namen, die sie noch nie für ihn hatte: „Mein fest Asyl, mein milder Anwalt, zu dem die starre Hoffnung flieht, wenn Angst und Grübeln wie Gespenster irren".

Liebe Gemeinde: Im Leben, wenn es oft weit entfernt ist von der viel beschworenen „Leichtigkeit des Seins" - da brauchen wir in vielen Situationen so etwas wie einen „Frei-Spruch" - ob wir das nun „Vergebung der Sünden" nennen oder „Verzeihung" oder sonst wie. Genauer: Ich bräuchte einen Anwalt, der für mich eintritt und für die Verhältnismäßigkeit des Urteils über mich, eine Anwältin, die auch das Gute, was über mich zu sagen ist, in die Waagschale legt. 

Von Jesus, dem erwachsenen, wird manch eine Szene erzählt, in der wir ihn in solcher Anwaltsrolle sehen. Zum Beispiel im Hause des Pharisäers Simon (Lk 7,36-50). Jesus sitzt unter den zum Mahl Geladenen. Plötzlich stürmt eine stadtbekannte Prostituierte herein und auf Jesus zu und veranstaltet dann wellness pur mit ihm, würden wir heute sagen. Totale Verurteilung schlägt der Frau entgegen. Der Gastgeber zu Jesus: Ja, siehst du denn nicht, was das für eine Frau ist, von der du dich da berühren und küssen, streicheln und massieren lässt - eine Sünderin durch und durch! Jesus sieht das nicht so. Nicht dass er das Ungute in ihrem Lebensentwurf bestreitet. Aber hier ist doch noch etwas anderes: ein wirklich liebevolles Wesen, der heftige Wunsch, anderen Menschen - aus Dankbarkeit, aus Liebe wohlzutun, dass es bis unter die Haut geht - eine Liebesfähigkeit, die Jesus beim Pharisäer Simon gerade nicht angetroffen hat. Das ist doch, weiß Gott, nicht nichts! Das tilgt geradezu eine Menge Schuld. Und so hat diese Frau endlich einen Anwalt gefunden, der sie verteidigt, der ihr wahres Herz erkennt, und ich glaube schon, dass sie in dieser Minute befreit und glücklich das Haus wieder verlassen hat.

Und nun geben es uns die Apostel mit Brief und Siegel: Der zwischen Bethlehem und Golgatha viel Glück und viel Verunglücktes bei Menschen gesehen hat, ihre Schuldverstrickungen, der auch das Unmenschliche am eigenen Leib zu spüren bekommen hat und bei alledem ein Liebender geblieben ist - dieser Jesus Christus ist in Ewigkeit unser Anwalt. Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. (1.Johannesbrief) Er hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe. (Hebräerbrief)

Freilich, wie schon gesagt: Viele Zeitgenossen nehmen die Dienste dieses Anwalts nicht einmal geschenkt. Obwohl in den weltlichen Händeln noch niemals ein so großer Run zum Anwalt war wie heutzutage - im geistlichen Bereich wollen die meisten sich selbst verteidigen. Sie wollen sich gegebenenfalls selbst aus einem Schlamassel ziehen, wollen selbst damit fertig werden, wollen selbst mit Gott klar kommen. Wo man aber Jesus Christus so die Anwalt-Lizenz entzieht, da beraubt man den christlichen Glauben einer genuinen Kraft. Das hat im 19. Jh. klarsichtig ein Sozialpolitiker erkannt, dem die soziale Botschaft des Menschen Jesus von Nazareth gewiss ein hohes Gut war. Friedrich Naumann, Lehrer von Theodor Heuss, kritisierte die sogenannten aufgeklärten Christen: „Das Vorbild Jesu wollen sich die Menschen gerne gefallen lassen, aber was darüber hinausgeht, das kommt ihnen wie ein alter, wunderlicher Aberglaube vor." Naumann fährt fort: „Wenn aber diese Idee von der letzten Hingabe Jesu für alle Menschen preisgegeben wird, dann hat man eine Lehre nur für die Gesunden, Starken, Oberflächlichen in der Hand, aber nichts für die Kranken, Matten, Sorgenden, Zagenden und Sterbenden." Wollen wir wirklich unserem Anwalt die Lizenz entziehen? Die Lizenz, die er sich erworben hat als einer, der die Menschen in all ihren sozialen Konflikten zwischen Arbeitsmarkt und Zollstätte begleitete.  Der sie in ihren Ängsten und Fehlversuchen, in ihrer tapferen Sinnsuche und in ihren Versuchungen im tiefsten Sinn verstand. Werden wir wirklich alleine fertig mit der inneren Stimme, wenn sie uns nicht mehr in Frieden schlafen lassen will? Er nimmt uns vor uns selbst in Schutz, wenn die innere Stimme ohne End und Gnad anklagt. Im Gespräch mit ihm erkennen wir genauer, was das Unrechte war an unserem Verhalten. Aber dabei macht er uns keineswegs zum Sündenbock für alle und alles. Er bringt vor Gott, was gute Absicht war; er verschweigt keineswegs mildernde Umstände, und er unterstellt nicht gleich jeder guten Tat ein verborgenes ich-süchtiges Motiv.

Eines sollten wir freilich nicht tun. Den Christus, den Anwalt für uns allein haben, für unsere private Frömmigkeit pachten wollen. Täten wir es, so hätten wir die christliche Botschaft missverstanden. Fürsprache, für-jemanden-vorsprechen: dieses kostbare christliche Prinzip will hinein in alle möglichen Abläufe der Welt, um so manche „Betriebsstörung" zu reparieren.

Man könnte die Welt gerade dort christlich nennen, wo es solche „Fürsprache" gibt. Wo der Lehrer in der Zeugniskonferenz gegen seine Kollegen von den so noch nie zur Sprache gekommenen Stärken eines versetzungsgefährdeten Kindes spricht. Wo in einer gemütlichen Kaffeerunde das Fehlverhalten einer abwesenden Person zur Sprache kommt - und jemand aus der Runde das Verhalten erklärt, Fehlschlüsse richtig stellt, weil er die Person anders und besser kennt.

Kurzum: viele Situationen schreien nach Menschen, die für einen anderen sprechen. Auch wir selbst kommen in Lebenslagen, wo wir sehnsüchtig darauf hoffen, dass einer aufsteht und ein Wort für uns einlegt. Dass eine uns lobt oder entschuldigt, wo wir das nicht selber von uns sagen können -  schlicht: dass einer an uns glaubt.

 

So ist in jener Nacht in Bethlehem eine Kraft in die Welt gekommen, die es vermag, sie menschlicher zu machen. Lassen wir sie nicht verpuffen - diese Macht der Liebe.
„Seht dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier beuget;
sehet die Liebe, die endlich als Liebe sich zeiget!
Gott wird ein Kind, träget und hebet die Sünd;
alles anbetet und schweiget." (Gerhard Tersteegen, 1731, EG 41,3) Amen.

 


[1] Es versteht sich, dass Predigerin / Prediger hier eine Eigenerfahrung gleichen Ertrags einbringen können.

[2] Der Mix verschiedener Sehnsüchte bzw. wie sie in unserer Weihnachtskultur bedient werden, lässt sich beschreiben mit Goethes Faust: „In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut." (Hinweis von Ulrich Wildermuth).

[3] Im Folgenden können auch andere, aktuellere Beispiele eingesetzt werden, wenn sie nur sprechend genug sind. Ein häufig so oder ähnlich vorkommender Fall wäre scheint mir dieser: Da sinniert der Sohn im Beerdigungsgespräch - die verstorbene Mutter hatte zuletzt im Pflegeheim gelebt - : Ob es wohl richtig war, dass ich die Mutter ins Heim gegeben habe? In der fremden Umgebung hat sie sich nicht wohl gefühlt, hat oft geweint und sich mit niemanden mehr anfreunden können. Aber weder er noch eines seiner Geschwister hatte es sich zugetraut, die Mutter zu übernehmen. Sie war keine einfache Frau, und das Verhältnis der Kinder zu ihr war durch gewisse Vorkommnisse in der Familiengeschichte nicht ohne Trübung geblieben. Der Sohn fährt fort: „Wir haben sie alle regelmäßig besucht, aber irgendwie fühlen wir uns jetzt alle schuldig." Ihm, dem Sohn, kann man nur wünschen, dass er auch außerhalb des Trauergesprächs mit Menschen zusammenkommt, denen er von seinen Skrupeln erzählen kann - mit Menschen, die ihn daraufhin nicht in Bausch und Bogen verdammen, sondern ihm auch Entlastendes bewusst machen, wenn ihn das Gewissen bedrängt.



Dr. Werner Grimm
Tübingen
E-Mail:

(zurück zum Seitenanfang)