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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Weihnachten, 27.12.2009

Predigt zu Matthäus 2:13-23, verfasst von Peter Lind

"Das sind ja ganze drei Sachen", denkt die besorgte Mutter in der Reklame, nachdem sich ihre Kinder beim gemeinsamen Einkauf jeweils drei Dinge gewünscht haben. Anscheinend eine unmögliche Aufgabe. Aber im Supermarkt findet sie ihre Rettung. In der Schokoladenabteilung geht ihr ein Licht auf, und sie erfüllt die drei Wünsche ihrer Kinder mit einem Kinderei für jeden.

            Das ist eigentlich eine sonderbare Reklame. Sie strebt auf der einen Seite Wiedererkennbarkeit an - dass man von seinem eigenen Alltag her die Situation mit den Kindern wiedererkennt, die einem voller freudiger Erwartung ihre Wünsche zuzufen, während man sich in's Auto setzt, um einzukaufen. Und man erkennt seine eigene erste unmittelbare Ablehnung ihrer Wünsche wieder; - "das ist völlig unmöglich!" - und sicher dann auch das schlechte Gewissen über die eigene Hartherzigkeit gegenüber den lieben kleinen erwartungsvollen Wesen. Und genau an diesem Punkt greift die Reklame mit ihrer frohen Botschaft ein und verkündet die Rettung für die Mutter oder den Vater und die Erfüllung der Wünsche für die Kinder. Im Grunde könnte sich die Reklame also unmittelbar an jedem beliebigen Ort in der westlichen Welt abspielen; aber über diese offensichtliche Wiedererkennbarkeit hinaus spielt die Reklame auf der anderen Seite in ihrer völlig eigenen Welt; - in einer ganz besonderen Reklamewelt, die vor allem für so manche deutsche Reklame typisch ist, in der die auftretenden Personen völlig jeder nationalen Eigenart entblößt sind. Die Kinder und die Mutter in dieser Reklame könnten genauso gut Dänen wie Deutsche, Italiener oder Russen oder Amerikaner sein,  es würde keinerlei Unterschied machen. Der Sinn der Sache ist natürlich, dass man in jedem einzelnen Land nur die Tonspur des Wortwechsels in der jeweiligen Landessprache aufnehmen muss, und ich möchte annehmen, dass akkurat derselbe Reklamefilm für Kindereier in ganz Europa und in den USA gezeigt worden ist, nur mit verschiedenen Sprachen. Man hat also eine Reklame gemacht, die trotz der großen Ähnlichkeiten mit unserer Welt in ihrer ganz eigenen Welt spielt und ihren ganz eigenen Regeln folgt. Die Reklame wird damit zu einer Art Zauberspiegel, der zwar zum Teil das wohlbekannte Bild unserer Welt widerspiegelt und reflektiert, der das aber trotzdem mit Hinzufügung seiner besonderen Botschaft tut und diese Botschaft - oder diese Ware - zur Erfüllung von der Sehnsucht und dem Bedürfnis macht, mit denen unsere Welt im übrigen hat leben müssen!

            In Wirklichkeit ist es genau dasselbe, was der Evangelist Matthäus in seinem Bericht über die Geburt Jesu und die Zeit unmittelbar danach tut. Heute haben wir gehört, dass die Weisen wieder davongezogen sind, nachdem sie dem neugeborenen Kind gehuldigt haben, und Matthäus erzählt darauf in drei Abschnitten, dass die kleine Familie in aller Eile fliehen muss;  - dass Herodes in einem verzweifelten und furchtbaren Versuch, den neugeborenen König dennoch zu beseitigen, alle Jungen, die zweijährig und darunter sind, in Bethlehem und der ganzen Umgebung ermorden lässt; und - dass Josef, Maria und Jesus, nachdem sie einige Zeit als Flüchtlinge in Ägypten gewesen sind, wieder nach Palästina zurückkehren können, da Herodes gestorben ist; sie kehren jedoch nicht nach Bethlehem zurück, sondern ziehen nach Nazareth und lassen sich dort nieder.

            Unter den vier Evangelisten des Neuen Testaments hat nur Matthäus diese drei Geschichten erzählt; - wie auch nur Lukas erzählt, dass Kaiser Augustus eine Volkszählung im gesamten Römischen Reich befahl mit den bekannten Konsequenzen für eine schwangere Frau und ihren Verlobten. Denn die vier Evangelisten haben neben dem gemeinsamen Stoff jeweils ihren besonderen Erzählstoff, also ihre ganz eigenen Geschichten. Dieser Sachverhalt ist besonders deutlich in den Beschreibungen der Geburt Jesu und der Zeit, die vergeht, bis er öffentlich auftritt und das Evangelium von der Vergebung der Sünden zu predigen beginn. Das Markusevangelium, das ja das älteste Evangelium ist, erzählt faktisch nichts über die Geburt Jesu; Johannes sagt nur etwas darüber auf seine eigene, ganz spezielle, mythologische und sehr poetische Weise, über "das Wort, das  Fleisch ward und unter uns wohnte". Nur Matthäus und Lukas erzählen konkret von den Ereignissen um die Geburt Jesu, und sie tun es auf sehr unterschiedliche Weise. In erster Linie, weil ihre Ziele verschieden sind. Lukas möchte wenigstens  den Eindruck einer gewissen historischen Korrektheit vermitteln mit seinen vielen Informationen z.B. über Kaiser Augustus, die Volkszählung, den Statthalter Quirinius usw. Für ihn geht es bei der ganzen Geschichte von Jesus von Nazareth nämlich nur um eine einzige Sache: er will zeigen, dass in diesem Jesus alle Prophetien, alle Erwartungen, alle Träume und Visionen erfüllt sind: Jesus ist der Messias, Christus!

            Das zeigt sich für Matthäus in den Wundern Jesu, in seinen Reden und Gleichnissen und selbstverständlich - und vor allem - in den Ereignissen von Ostern: Jesu Leiden, Tod und Auferstehung. Matthäus' Berichte über diese Dinge stimmen denn auch weitgehend mit Markus und Lukas überein. Alles, was über diese grundlegenden Ereignisse hinaus erzählt werden kann, ist für Matthäus reine "Glasur". Es ist nur in das Evangelium mit aufgenommen, um zu unterstützen und zu bestätigen, das Jesus der Christus ist. Deshalb behandelt Matthäus diese verschiedenen Berichte mit großer künstlerischser Freiheit. Er schafft - wie die Reklame - mit diesen Geschichten eine spezielle, eigene Welt, die zwar im Vergleich mit derjenigen Welt, die seine Leser und Zuhörer kennen, wiedererkennbar ist, die aber dennoch völlig ihren eigenen Regeln unterworfen ist.

            Vieles deutet darauf hin, dass die Welt, für die Matthäus ursprünglich schrieb, die jüdische Welt war; d.h. er schrieb für Personen, die Juden waren, die aber entweder zum Christentum übergetreten waren oder einen solchen Schritt erwogen. In diesem Fall ist die besondere Regel des Matthäus das Evangelium von Jesus Christus gewesen. So wie das Kinderei in der Reklame die besondere, von außen kommende Lösung war, die das Problem hat lösen können, so war Jesus Christus die Erfüllung der jüdischen Messiaserwartungen. Darauf macht Matthäus immer wieder von neuem aufmerksam, wenn er sagt: "Das geschah, damit das erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht...", und dann folgt in der Regel ein Zitat z.B. aus einem der Propheten. Ganze dreimal wendet der Evangelist im heutigen Text diese spezielle Technik an. Auf einen jüdischen Leser oder Zuhörer, der die heiligen Schriften auch nur einigermaßen kannte, hat das in der Erzählung geradezu wie ein regulärer Reklametrick gewirkt: Jesus ist der Messias, der Christus!

            Man nennt diese Technik - diese Zitate - Reflexionszitate, weil sie bei Leser oder Zuhörer Nachdenken auslösen. Von seinen eigenen Voraussetzungen und von seinem eigenen Dasein als Jude aus reflektiert man über die neue Botschaft. Wie ein Spiegel einen Lichtstrahl zurückwirft, werfen die Reflexionszitate die Botschaft von Jesus Christus zurück und erhellen und erfüllen die dunklen alttestamentlichen Prophetien.

            Unsere Voraussetzungen für das Lesen und Hören der Darstellung des Matthäusevangeliums sind also völlig andere als die Voraussetzungen derjenigen Menschen, für die sie allem Anschein nach ursprünglich gedacht war. Wir sind Christen; wir befinden uns noch mitten in der Feier eines unserer größten christlichen Feste, und unmittelbar wird jede Werbeagentur augenblicklich behaupten, die ursprüngliche Kampagne dafür sei deshalb bei uns überhaupt nicht zu gebrauchen. Genauso wie man die Reklame für Kindereier in Indien oder Afrika nicht gebrauchen kann, weil man dort die Grundlage dafür aus der Sicht seiner eigenen Welt nicht unmittelbar wiedererkennen und aus eben diesem Grunde die Welt und die Botschaft der Reklame nicht würde verstehen können, ebenso dürften wir eigentlich den Gebrauch von Reflexionszitaten im Matthäusevangelium auch nicht verstehen können.

            Wir tun es einfach trotzdem; aber wir tun es umgekehrt. Wir beginnen - sozusagen - mit dem Kinderei und enden bei den Wünschen. Unsere Grundlage ist, wie es in der Heiligen Nacht nach dem Evangelisten Lukas mit dem Worten des Engels hieß: "Heute ist euch ein Heiland geboren in der Stadt Davids; er ist Christus, der Herr." Das ist unser Ausgangspunkt, von dem aus wir das Evangelium lesen und hören. Wir wollen unsere Erwartungen nicht erfüllt haben; sie sind bereits erfüllt. Und das feiern wir zu Weihnachten, zu Ostern und zu Pfingsten; jedes Mal, wenn wir in der Kirche zu einem Gottesdienst zusammenkommen, zu einer Kindtaufe, zu einer Beerdigung oder zu einer Hochzeit; - jedes Mal geschiet es in dem Glauben daran, dass wir in Jesus Christus die Gnade Gottes und die Liebe Gottes und damit die Vergebung unserer Sünden empfangen haben. Unsere Aufgabe ist darum eher, über unsere Wünsche zu reflektieren. Wir haben ein Geschenk bekommen; wir haben gehört, dass dieses Geschenk die Erfüllung unserer größten Wünsche ist. Die Reflexionszitate helfen uns, uns dieser Wünsche bewusst zu werden und sie formulieren zu können.

            Matthäus versetzt uns somit durch die Reflexionszitate in der Zeit zurück. Er führt unsere Erfüllung zurück in das Alte Testament und macht so die alttestamentlichen Schriften zu einem Teil unserer Bibel und unseres Glaubens; "sieh her, das Alte Testament spricht doch von Jesus Christus!" So wird in der Form einer direkten Linie von den allerersten Seiten der Bibel über die Erschaffung der Welt bis hin zu den allerletzten Seiten in der Offenbarung des Johannes über den Untergang der Welt und die Erschaffung der neuen Welt, des Reiches Gottes, eine Brücke geschlagen. Eine Linie, die in das Leben eines jeden einzelnen Menschen hinein reflektiert wird; eine gerade Linie von der Geburt bis zum Tod und noch sehr viel länger. Eine frohe Botschaft von Erwartungen, Wünschen und Erfüllung, die in unser Leben hineinreflektiert wird, wie der Sicherheitsreflex das Licht von den Leuchten des Autos zurückwirft und in der Dunkelheit strahlt. Im Evangelium von Jesus Christus, seiner Geburt, seinem Leiden, Tod und Auferstehung wirft Gott sein gnädiges Licht in unser Leben und die Welt in der Hoffnung, wir möchten in unserer Weise, unser Leben zu leben, - wie der Reflex - leuchten und dieses Licht zurückwerfen. Weil es sein und unser höchster Wunsch ist.

Amen 



Sognepræst Peter Lind
Middelfart (Dänemark)
E-Mail: pli@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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