Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiligabend, 24.12.2009

Predigt zu Titus 2:8-14, verfasst von Jan Hermelink

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

„Erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam für alle Menschen" -
das ist der Grundton, der cantus firmus von Weihnachten.

 „Erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam für alle Menschen" -
das ist der Grundsatz, die fundamentale Einsicht,
mit der die Weihnachtszeit, der Heilige Abend,
alle Weihnachts-Gefühle und -Erinnerungen ihren Sinn bekommen.

„Erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam für alle Menschen" -
mit diesem ersten Satz aus dem Titusbrief,
den wir gerade, vor der Weihnachtsgeschichte, als Lesung gehört haben,
mit diesem Satz kommentiert der Briefschreiber
die Geschichte von Jesus Christus,
deren Beginn wir alle mit dem Weihnachtsfest feiern.

Und auch die Sätze, die dann folgen - von dem besonnenen und gerechten Leben, zu dem die Gnade anleitet, und von der Hoffnung, dass der Heiland Jesus Christus wieder kommen wird -
auch diese Sätze lassen sich auslegen als Kommentar,
als Klärung und Akzentuierung des Weihnachtsgeschehens.

„Erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam für alle Menschen" -
es ist dieser cantus firmus, oder genauer: dieser Dreiklang,
der das Weihnachtsfest bis heute, vielleicht gerade heute prägt.

Gehen wir - in einem ersten von zwei Predigtteilen -
gehen wir diesen drei Weihnachtsklängen nach.

Zunächst wird das Thema, der Grundton genannt:
die Gnade Gottes, oder das endgültige Heil,
oder der „Frieden auf Erden",
wie der Engelchor der Weihnachtsgeschichte ihn zuspricht,
oder die „große Freude",
die der Engel den Hirten verkündigt.

Zu Weihnachten geht es ums Ganze:
um Heil und Rettung für die ganze Welt,
um eine Freude, die alles Elend, alle Angst aufhebt,
um endgültige Zusage der Gnade,
trotz aller Schuld und Schuldzuweisung,
trotz allen Versagens und aller Verzweiflung.

Die Gnade Gottes, die große Lebensfreude, der Weltenfriede -
darum geht es um Weihnachten,
um nichts Geringeres.
Gott macht seinen Frieden mit uns,
damit auch wir Frieden finden untereinander.
Gott spricht uns seine Gnade zu
damit wir mit uns selbst gnädig sein können.

Das ist schon der zweite Ton, die zweite Weihnachtsbotschaft:
Die Gnade Gottes, der Welten- und Herzensfrieden
ist nicht der Zukunft vorbehalten,
und sie ist auch nicht nur im Himmel, im Jenseits zu finden.

„Erschienen" ist diese Gnade,
sie ist jetzt sichtbar, zugänglich, gegenwärtig und greifbar.
„Heute ist euch der Heiland geboren", so hören es die Hirten,
mit klaren Zeichen markiert:
ein Kind, in der Krippe, neu geboren.

Die ganze Weihnachtsgeschichte spricht von diesem Jetzt,
ist erfüllt von der Gegenwart des Heils,
vom Pathos der Evidenz:
An einem bestimmten Ort, zu einer besonderen Zeit,
mit namentlich genannten Eltern
ist der Heiland geboren:
an einem bestimmten historischen Ort,
und zugleich wirksam, „heilsam" bis heute.

Die Erscheinung der Gnade ist nicht endlich oder begrenzt,
sie verschwindet nicht wieder,
sondern sie erleuchtet - „alle Jahre wieder" - die ganze Welt
und jedes Menschenleben -
gerade dort, wo es dunkel, heillos, gnadenlos zu sein scheint.

Der dritte Akzent schließlich, den der Titusbrief setzt,
der dritte Weihnachtston klingt vielleicht am höchsten,
jedenfalls am weitesten:
„erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam - für alle Menschen".

Auf dieses „für alle" legt der Titusbrief großen Wert - wir werden gleich sehen, warum.
„Für alle" - das betonen auch die Engel der Weihnachtsgeschichte:
„Siehe, ich verkündige euch große Freude,
die allem Volk widerfahren wird",
und dann der Chor:
„Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen".

Das ist das Schönste und auch das Schwierigste an Weihnachten:
Die Erscheinung der göttlichen Gnade, 
der Frieden auf Erden und die Lebensfreude
gelten nicht nur einigen Auserwählten,
den Frommen oder den Eifrigen,
den Ernsthaften oder den Exzellenten.

„Für alle Menschen" ist die Gnade erschienen,
allen ist die Weihnachtsfreude eröffnet,
die ganze Welt hat Teil am gegenwärtigen Heil.

Weihnachten ist das Fest, das alle angeht, jeden betrifft,
niemanden ausschließt -
das macht die Kraft und den Glanz dieses Festes aus.
Die Gnade, das Heil gilt wirklich allen Menschen:
Nächsten und Fremden,
Gleichgültigen und Engagierten.

„Für alle Menschen" - das ist aber durchaus auch beschwerlich:
für alle Menschen stehen die Kirchentüren offen;
überall erklingen die Weihnachtslieder;
und die biblischen Gestalten: die Hirten, die Engel oder der Stern
sind allgemein käuflich geworden.

Das Weihnachtsfest gehört nicht der Kirche;
es beginnt nicht im Gottesdienst und hat dort auch nicht seinen Höhepunkt.

Das ist - nicht nur für engagierte Christen -
durchaus mühsam zu akzeptieren.
Das Weihnachtsfest war und ist mehr als ein christliches Fest.

Es ist ein Fest für alle Menschen - und das von Anfang an:
Allen Menschen ist die Gnade zugesprochen,
Allen gilt die Zusage des Friedens -
auch wenn sich dies nicht alle zu Herzen nehmen.

Zu Weihnacht gehört diese Spannung dazu:
Allen Menschen ist die Gnade Gottes erschienen -
aber nicht alle lassen sich davon anrühren und bewegen.

Es ist genau diese Spannung,
die den Verfasser des Titusbriefes beschäftigt:
Die Gnade Gottes gilt allen Menschen,
sein Friede ist der ganzen Welt zugesprochen -
was unterscheidet dann die Christen von allen anderen Menschen?

Oder modern gesprochen:
Wenn das Weihnachtsfest alle Menschen in seinen Bann zieht,
wenn es die ganze Öffentlichkeit prägt -
was kann dann die Kirche, was können Gottesdienst und Predigt
zum Glanz dieses Festes beitragen?

Es sind - wiederum - drei Antworten, drei Klärungen,
die der Titusbrief für die Christen zu geben versucht -
und zwar nicht, um allen anderen das Fest madig zu machen
oder ihnen die Gnade abzusprechen,
sondern mit dem Ziel,
den Sinn des Weihnachtsfestes zu verdeutlichen,
die Ratio der weihnachtlichen Erscheinung.

Allen Menschen, die es hören wollen,
soll die heilsame Gnade Gottes
auf diese Weise noch zugänglicher, noch gegenwärtiger werden.

Zunächst, und wiederum grundlegend:
Auch der Titusbrief,
geschrieben um die Wende zum zweiten Jahrhundert,
gerichtet an einige kleine, bedrängte Gemeinden,
im Schatten politisch-religiöser Prachtentfaltung,
in Konkurrenz mit zahlreichen Religionsgemeinschaften -
auch dieser Brief beharrt auf dem Grundton der Weihnachtsgeschichte:

„Erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam - für alle Menschen".
Der Brief redet vorher und auch im Folgenden ausdrücklich die Christengemeinden an, tröstet und ermahnt sie,
aber das Fundament, auf dem das alles geschieht,
die Erscheinung der Gnade, die Ankunft des Heilands,
das betrifft doch die ganze Welt, es gilt allen Menschen.

Die Kirche mag kleiner werden oder sich am Rande fühlen,
sie mag an Einfluss und Aufmerksamkeit verlieren -
dennoch redet sie von einer Gnade, von einem Heil und einem Frieden,
der alle Menschen betrifft.

Es kann der Kirche, auch den engagierten Christen daher nur recht sein,
wenn so viele Menschen sich zu Weihnachten,
und schon im Advent vom Glanz dieses Festes berühren lassen,
wenn die biblischen Gestalten, die Symbole der Tradition
so öffentlich, so sichtbar, so greifbar wie möglich sind.

Die Gnade Gottes kommt nur dann zum Ziel,
wenn ihre Erscheinung, ihre Gegenwart wirklich allen zugänglich wird.
Der Friede der Welt, die große Freude - 
das alles wird nur dann wahr, wenn es weit über die Kirche,
auch weit über das Christentum hinaus wirkt.

So weit die erste Klärung, die der Titusbrief
den bedrängten und verzagten Christen seiner Zeit,
und die er auch uns zu Weihnachten zumutet.

Ausführlicher - und fremder - ist ein zweiter Akzent.
Die Gnade Gottes, so heißt es in dem Brief weiter,
„leitet uns [also die Christen] an,
dass wir der Gottlosigkeit und den weltlichen Begierden absagen,
und dass wir in dieser Welt besonnen, gerecht und fromm leben".
Und am Schluss der Passage  - vielleicht erinnern Sie sich -
wird die Gemeinde bezeichnet als „eifrig strebend nach guten Werken".

Also: die Gnade ist allen erschienen,
die Zusage des Friedens gilt allen Menschen -
aber wirklich, wirksam im Leben wird diese Gnade nur,
wenn man daraus auch Konsequenzen zieht.

Das Licht des Weihnachtsfestes ist allen zugänglich -
aber erhellt und erleuchtet wird mein Leben nur,
wenn ich mich diesem Licht aussetze, mich davon orientieren lasse.

Die Vokabeln, mit denen der Titusbrief diese Konsequenz markiert,
mögen uns altbacken und fremd erscheinen -
hier werden die griechischen Kardinaltugenden zitiert.

Heute würde man das anders ausdrücken.
Aber im Prinzip sind die Konsequenzen des Weihnachtsfestes
ja keineswegs strittig unter denen,
die - „alle Jahre wieder" - dieses Fest feiern,
in der Kirche wie in ihren Familien und Ersatzfamilien:
Friede auf Erden und Frieden untereinander anstreben, darum geht es
oder: gnädig mit den Fernen wie den Nächsten sein,
sogar mit den eigenen Geschwistern, sogar mit sich selbst.

Wenn die Hirten, die uns in der Weihnachtsgeschichte vertreten,
am Ende „umkehren" von der Krippe,
um Gott zu loben und die Botschaft der Gnade weiterzugeben -
dann ist eben dies gemeint:
Zu Weihnachten  gehört die Umkehr.

Zu Weihnachten gehört, wie bescheiden auch immer,
die Suche nach Frieden, die Bereitschaft zur Gnade,
die Barmherzigkeit miteinander.
Jede und jeder von uns weiß, wo sie diese Umkehr nötig hat.

Was die Christen von den anderen Menschen unterscheidet,
das ist dann vor allem, dass sie dies noch etwas besser wissen
(wenn auch nicht unbedingt besser machen):
Zum Weihnachtsfest gehört es, umzukehren -
von der Unbarmherzigkeit zur Gnade,
von der Ungeduld zum Frieden,
auch vom Unmut zur Ermutigung derer, die es nötig haben.

Schließlich bietet uns der Titusbrief noch eine weitere Klärung,
eine dritte Verdeutlichung der Weihnachtsgnade an.

Auch für die Christen steht fest:
Die Gnade ist erschienen, heute, hier,
in der Gegenwart unseres Lebens.

Aber zugleich wissen wir: Was in diesen Tagen zu erfahren ist,
in der Kirche, beim Familientreffen, bei Freunden -
das ist doch noch nicht alles.

Der Titusbrief schärft ein:
Wir hoffen noch, sind sehnsüchtig,
wir warten noch darauf,
dass der Glanz Gottes in aller ihrer Fülle offenbar werde.

Die Erfahrung der Gnade,
der (relative) Frieden an diesen Tagen,
auch die Gemeinschaft, die wir an diesem Fest erleben -
das ist doch noch nicht alles, was wir von Gott erhoffen können.

Wir wissen doch - Heinrich Böll hat es formuliert -,
dass wir auf dieser Welt nicht ganz zu Hause sind,
das noch etwas aussteht,
dass wir mehr hoffen als wir auch dieses Jahr erfahren werden.

Wer sich diese Sehnsucht zugesteht,
der und die wird vielleicht gnädiger mit dem,
was auch in diesem Jahr nicht gelungen ist.

Wer sehnsüchtig, ja zukunftssüchtig ist,
wird nachsichtiger mit all dem Unfrieden,
den Kränkungen und Verletzungen,
die gerade die Weihnachtstage bestimmen können.

Wer glaubt, dass noch etwas zu erwarten ist von der Gnade Gottes,
wird vielleicht etwas geduldiger, etwas barmherziger mit sich selbst.

Wir müssen uns Frieden und Heil nicht selber schaffen,
weder zu Weihnachten noch an anderen Orten und Zeiten.
Wir brauchen nur zu hören, was uns gesagt ist:

„Erschienen ist die Gnade Gottes, heilsam für alle Menschen."

Amen.



Prof. Dr. Jan Hermelink
Platz der Göttinger Sieben 2
D - 37 073 Göttingen
E-Mail: Jan Hermelink

(zurück zum Seitenanfang)