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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag 2010, 01.01.2010

Predigt zu Jakobus 4:13-15, verfasst von Peter Haigis

„Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen -, und wisst nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen sollt ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun."

Liebe Gemeinde,

der Monat Januar hat seinen Namen von der römischen Gottheit Janus, dem Gott des Anfangs und des Endes, der Eingänge und Ausgänge, dem Gott der Pforten und Türen. Bildliche Darstellungen zeigen einen doppelhäuptigen Mann mit einem nach vorne und einem nach hinten gewandten Gesicht, oder auch eines nach links und eines nach rechts gekehrt - wie so oft eine Frage der Perspektive.

Janus schaut in zwei Richtungen - und wir tun es auch an Tagen wie diesen, dem Altjahresabend gestern oder dem Neujahrstag heute. Der Jahreswechsel ist für uns eine Pforte, eine Tür, eine Schwelle, die uns Anlass bietet zurückzuschauen und nach vorne zu blicken; sich noch einmal anzusehen, was im vergangenen Jahr gewesen war (vielleicht ist das eher noch eine typische Aufgabe für den letzten Tag des Jahres), oder schon tastend ins kommende Jahr hinaus zu schauen, einen Blick zu wagen, der an sich unmöglich ist, weil es da noch gar nichts zu sehen gibt.

Weil es uns Menschen unmöglich ist, in der Zeit nach vorne zu blicken, behelfen wir uns mit Tricks: Wir schauen auf das, was sich als wahrscheinlich abzeichnet in unserem Leben - ein besonderes Jubiläum, der Eintritt in die Rente, ein bevorstehender Stellenwechsel, die Konfirmation des Sohnes, der Schulabschluss der Tochter. Wir schauen auf unsere Pläne und Vorhaben - ein Familientreffen, eine Urlaubsreise ...

Wir durchblättern unsere Terminkalender und haben dabei bereits das Gefühl, das neue kommende, noch gar nicht geschehende Jahr mit seinen Tagen, Wochen und Monaten vor uns aufblättern zu können. Wir basteln uns unsere Zukunft nach unseren Wünschen und Ideen zusammen - und schon erscheint sie uns, makellos, ungetrübt und ungestört.

Vielleicht ist das das Trügerische an unseren Jahresausblicken; in jedem Fall ist es verführerisch: das kommende Jahr einmal ganz und gar ungetrübt und ungestört anschauen zu können. Nur: Wird es das sein, was wir erleben?

An der Schwelle von Gestern und Morgen, an der wir ja täglich stehen, aber nie so bewusst wie zum Jahreswechsel, benötigen wir Sehhilfen. Gerade deshalb, weil unser Ausblick ins Morgen so verführbar ist und so sehr trügen kann, benötigen wir Sehhilfen. Eine solche Sehhilfe bietet uns der Predigttext aus dem Jakobusbrief.

Wer die wenigen Zeilen hört, wird sich ihrer Wirkung kaum entziehen können: Sie klingen hoch aktuell und sie rühren an einen wunden Punkt tief in unserem Inneren. Mir jedenfalls ging es so.

Zunächst die Aktualität, die mir im Jakobusbrief begegnet: der Vers 13 („Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen") - er wirkt geradezu hineingeschrieben in unsere Gegenwart. Das Hintergrundrauschen des Bankencrash von 2008 ist noch nicht verklungen, da werden schon wieder großspurige Geschäfte gemacht. Wir leben auf Zins, lassen nicht Geld, sondern fehlendes, nicht vorhandenes Geld, sprich: Schulden, für uns arbeiten, bauen ökonomische Wolkenkuckucksheime auf Kapitalblasen auf, als wäre nie irgendetwas Dramatisches geschehen, als seien keine Kredite geplatzt, als seien keine Finanzinstitute und Wirtschaftsbranchen zusammengebrochen.

Es gehört zu den Grundprinzipien kapitalistischen Wirtschaftens, nicht nur über Geld, sondern auch über Zeit verfügen zu wollen, ja Zeiträume, Fristen, Termine über das Medium Geld zu bewerten und - selbstverständlich - positiv bilanzieren zu wollen. Am Ende soll immer mehr herauskommen als am Anfang drin war - und die Zeit soll es richten!

Vielleicht fällt uns das Mit-dem-Finger-auf-andere-Zeigen beim Hören von Jakobus 4,13 gegenwärtig deshalb so leicht, weil die Haltlosigkeit des ökonomistischen Diktats, unter dem wir leben, mit Händen zu greifen ist, weil die Hohlheit der Kapitalblasen, auf deren Grund als alleinigem Fundament bald auch die öffentlichen Haushalte ruhen, so offensichtlich ist.

Doch die Entlarvung, die Jakobus uns hier bietet, ist radikaler. Sie gilt nicht nur einem Finanzgebaren, bei dem man vor allem von dem lebt, was man nicht besitzt und worüber man nicht verfügt. Sie gilt auch einem Lebensstil, der Ressourcen vergeudet, die die Verbraucher selbst nicht gebildet und aufgebaut haben. Sie gilt einem Lebensstil, der - bildlich gesprochen - die Konten der Enkel und Urenkel plündert; gehe es dabei nun um elementare Lebensgüter wie Wasser, Luft, Energie, gehe es um das Klima und Naturkreisläufe, gehe es um Abfallprodukte und ihre Beseitigung. Immer zeigt sich das gleiche Bild: Wir leben auf Kosten einer Zukunft, die uns noch gar nicht gehört.

Am Ende entlarvt Jakobus aber auch meine ganz private Lebensplanung: das gut gefüllte Terminbuch, das mir wie ein Passierschein für Jahr 2010 vorkommen mag, wie eine Garantieerklärung, auf die ich mich gegebenenfalls berufen möchte - Jakobus schlägt es mir sozusagen vor der Nase zu.

Und dann das Zweite, der wunde Punkt, an den die Zeilen aus dem Jakobusbrief rühren: im Grunde wissen wir es ja besser; was freilich keineswegs tröstet. Im Grunde ist unser Leben Schall und Rauch. Heute erklingt es und morgen verklingt es. Heute blüht es auf und morgen verdorrt es. Unser Leben - wie eine Blume auf dem Feld; unser Leben - wie Gras. Wir selbst - wie Staub, wie Asche und Rauch.

Jakobus knüpft hier an biblische Bilder und Redeweisen aus einer weiten Tradition an. So sprechen manche Psalmen und Sprichwörter vom menschlichen Leben. So ähnlich redet das biblische Buch „Der Prediger". Es ist gesammelte Weisheit, was in diesen Worten anklingt. Es ist das, was jeder weiß und doch oftmals nicht wahrhaben will: Nicht nur die Kürze unserer Lebensspanne, nicht nur die Tatsache, nichts mitnehmen zu können aus diesem Leben, richtet uns, sondern auch die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit all unseres Tuns. In einem Jahr werden wir dasitzen und wieder - wie jedes Jahr - beklagen, wie schnell doch alles vorüber gegangen ist, und wenn es gut läuft, so bleiben uns dankbare Erinnerungen, jedoch kaum mehr.

Doch Jakobus ist kein Nihilist. Er ist kein Kulturkritiker, der uns den Untergang des Abendlandes oder - bescheidener - unseres Lebensstils ankündigen will. Er ist auch kein Zyniker, der uns auf der einen Seite unsere hochfahrende Selbstsicherheit vor Augen führt, die er dann andererseits in den Staub eines pessimistischen Menschenbilds stößt, und sich daraufhin am Schmerz des Widerspruchs labte.

Jakobus hat eine Perspektive, mit der sich leben lässt, und er stellt sie über die Spannung falscher Selbstsicherheit: Es ist die „berühmte", schon sprichwörtlich zu nennende Wendung „so der Herr will und wir leben". Hier heißt sie: „Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun." Das sei die Devise! Das sei unser (guter, ja bester) Vorsatz vor allen Nachsätzen, die 2010 folgen.

Warum hat dieser Gedanke Kraft und Segen für unser Leben?

Zuerst einmal stellt er uns wieder ins rechte Verhältnis zu uns selbst, zur Welt und zu Gott. Er erinnert uns daran, dass wir Geschöpfe Gottes sind. Bei aller Gestaltung meines Daseins, die meiner Freiheit anheim gegeben ist, erzeuge ich mich doch nicht aus mir selbst heraus, sondern aus einer Kraft, die mir verliehen ist. Am deutlichsten wird dies im Angesicht meiner Lebenszeit. Über sie kann ich nicht verfügen. Vielleicht kann ich sie um eine Spanne verlängern - doch was ist damit gewonnen? Meine Lebenszeit kann ich so wenig produzieren wie Zeit überhaupt. Sie ist mir gegeben, einfach so, umsonst. Doch umsonst will ich sie nicht verstreichen lassen. Ich gestalte sie. Indem ich aber zum Gestalter meiner Tage werde, bleibe ich stets das Geschöpf desjenigen, der mir diese Tage zumisst.

Dies allein könnte noch eine recht abstrakte philosophisch-theologische Überlegung sein und bleiben, käme bei Jakobus nicht ein entscheidender Gedanke hinzu. Derjenige, der mir meine Tage zumisst, ist der „Herr". Gott, der Schöpfer meiner Lebenszeit und meines Seins, hat ein Gesicht - es ist der „Herr". Der „Herr" aber ist niemand anderer als Jesus Christus.

Auf diese Weise bekommt die mir zugemessene Lebenszeit eine besondere Qualität, anders ausgedrückt: sie bekommt ein Gütesiegel aufgeprägt. Es ist das Siegel der Gnade. Meine Lebenszeit ist nicht dunkle Schicksalsfrist, sondern Lebenszeit im Licht der gnädigen Zuwendung Christi. Ich lebe meine Tage nicht, weil es ein undurchdringlicher göttlicher Ratschluss so wollte, sondern weil mich Christi Gnade leben lässt.

Das gilt nun für das Leben in allen Facetten und allen Farben und lässt sich gut durchbuchstabieren - gerade an einem Neujahrstag:

Es gilt für die Erfahrung von Schuld und für das bedrängende Gefühl, die Chance zu einem Neuanfang nötig zu haben. Da weht noch aus den Tagen des alten Jahres eine Last herüber, die ich gerne abgeworfen hätte. Es ist Christi Gnade, die mich hier das Leben, mein Leben neu sehen und bewerten lehrt. Sie spricht mir Vergebung zu und knüpft an meine Niederlagen und mein Versagen neue Lebensmöglichkeiten an. Im Licht seiner Vergebung kann ich verzeihen und um Verzeihung bitten.

„Wenn der Herr, Jesus Christus, will, werde ich leben ..." - das gilt auch für die Erfahrung von Ängsten und Sorgen, die meinen Überschritt ins neue Jahr begleiten mögen. Christi Gnade spricht mir Mut zu. Sie führt aus Niederungen herauf und sie verwandelt meine Sorgen in Hoffnungen.

Es gilt für meine Pläne und Vorhaben. Christi Gnade hält mir vor Augen, dass in allem, was ich mir vornehme, Chancen liegen, Leben zu gestalten. Im Licht seiner Gnade lasse ich Pläne aber auch Pläne sein, Entwürfe eben, Skizzen. Christi Gnade räumt mir Zeit ein, meine Pläne und Vorhaben zu prüfen, bis sie eines Tages reif sind, in die Tat umgesetzt zu werden.

„Wenn der Herr, Jesus Christus, will, werde ich leben ..." - das gilt schließlich auch für alle Freude im Blick auf das, was mein Leben im kommenden Jahr reich machen mag. Christi Gnade lehrt mich, dankbar dafür zu sein, es weniger meiner eigenen Tätigkeit zuzuschreiben, sondern vielmehr als Geschenk anzunehmen.

Gebärden wir uns also nicht janusköpfig an diesem 1. Januar! Uns ist allenfalls der Blick zurück gegeben, nicht der Blick nach vorne, jedenfalls nicht mit gleicher Gewissheit wie der Blick zurück. Lassen wir uns stattdessen den Blick von Christus und seiner Gnade wenden, hinein in eine Zukunft, die noch nicht unsere ist, die aber unsere werden kann und will, wann und wie der Herr es will.

Amen.



PD Pfarrer Dr. Peter Haigis
Evang. Kirche St. Veit und St. Maria Stetten im Remstal
E-Mail: peter.haigis@pfarrverband.de

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