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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Neujahrstag 2010, 01.01.2010

Predigt zu Matthäus 6:5-13, verfasst von Claus Oldenburg

Zu allererst: Ein gutes neues Jahr! Wie bei der Formulierung "frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr!" ist der Wunsch oder die Ausdrucksweise deutlich rituell in all ihrer gutgemeinten Leichtigkeit. Aber während Weihnachten auf dem Verlangen nach gefühlsmäßiger Nähe besteht, kommt mir der Neujahrswunsch in seiner gutgemeinten Leichtigkeit etwas polternd vor. Neujahr ist sozusagen nur ein Kalenderereignis, durch Sekt und gute Vorsätze zu Neujahr hochgejubelt, und die Vorsätze werden in der Regel doch nicht eingehalten.

            Der Grund, dass man an diesem Tag einen Gottesdienst abhalten soll - und man hat es wohl mehrere Jahrunderte lang so gehalten, ohne dass ich hier als Fachmann erscheinen möchte - der Grund dafür muss ideologischer Art sein, weil er jedenfalls nicht biblischer Art ist. Die Ideologie muss dann sein, dass das Christentum ein so vertrautes und in unserer Gesellschaft fest verwurzeltes Grundmuster gewesen ist, dass eben auch der Jahreswechsel, wie man zu sagen pflegt, "in Jesu Namen" zu geschehen hatte. Man geht "in Jesu Namen" in das neue Jahr und begreift die Worte als sammelnden Ausdruck unserer Kultur- und Religionsform - und das erfordert einen Gottesdienst.

            Aber die Texte für diesen Gottesdienst kommen mir etwas problematisch vor. In der ersten Textreihe wird kühl festgestellt, dass Jesus beschnitten wurde, wodurch auch er unter das Gesetz gestellt wird wie jeder andere kleine jüdische Junge - und diese Perspektive lässt sich für die Verkündigung so ausnutzen, dass sich Gottes Offenbarung in Jesus den Grundbedingungen dieses Lebens unterwirft. Das ist ein sehr nützlicher Ausblick, oder kann es jedenfalls sein.

            Der Text der 2. Textreihe kommt mir sehr wie eine Ermahnung vor. Im Jakobusbrief wird die menschliche Fähigkeit zum Planen als Prahlerei ausgelegt, und nach Matthäus sollen wir lernen, ordentlich und nicht wie Heuchler zu beten - wer immer das sein mag. Aber eben weil die Gebete im Gottesdienst öffentlich sind und einer Norm unterliegen, geraten wir dann leicht in die Nähe dieses heuchlerischen Redeschwalls - und von einem Kämmerlein, in dem der Mensch mit seinem Gott allein ist, scheint nicht die Rede zu sein, wenn die Lichter erst einmal angezündet werden, der Pastor vor den Altar tritt und die Orgel braust. Der Gottesdienst ist in seinem Wesen Ausdruck extremer Öffentlichkeit und eben keine private Situation.

            Aber man könnte die Frage stellen: Wo steht der Gottesdienst zwischen privater Situation und Öffentlichkeit?

            Oft verwendet man den Ausdruck "Liturgie" von der gottesdienstlichen Struktur. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich "die öffentliche Ordnung", aber gerade die öffentliche Ordnung war in der Antike auch gleichbedeutend mit - oder ein Synonym für - eine religiöse Ordnung; denn es waren die Elemente der Welt, die an ihrem Ort bewahrt werden sollten mit einem Himmel oben, einer Erde in der Mitte und einem Untergrund in der Tiefe, und zwar kraft des Rituals. Der Gottesdienst hielt also die Welt an ihrem Ort - und in meinem theologischen Bewusstsein ist dies noch immer irgendwie die Funktion des Gottesdienstes, seiner Öffentlichkeit.

            Denn jedesmal, wenn die Lichter angesteckt werden und die Liturgie die Führung übernimmt, ist von einem doppelten Gefühl die Rede: wir erhalten damit nämlich ein Raum-Gefühl aufrecht mit einem "oben", einem "unten" und einem "darunter", also eine mental-geographische Einrichtung des Raumes der physischen Welt, wie sie den Sinnen und der Sprache des Menschen entspricht.

            Diesem vertikalen Schnitt durch die Welt entspricht ein horizontaler Schnitt, nämlich das Bewusstsein der Zeit oder der Geschichte im Sinne einer Bewegung von einem einstigen Anfang an und bis zu einem Schluß dereinst. Der Gottesdienst wirkt auf seine Weise wie eine Zeitmaschine, denn - wiederum - wenn die Lichter angezündet werden, behauptet der Gottesdienst mit Selbstverständlichkeit, dass uralte Texte keine historischen Texte sind, sondern Gegenwarts-Texte, und dass sowohl die Musik als auch die Liedertexte Gegenwarts-Phänomene sind und sich nicht in ein geschichtliches Entwicklungsschema einordnen lassen.

            Es ist ohne Zweifel ein Paradox, aber es ist ein notwendiges Paradox. Denn gerade dann, wenn man geschichtliche Texte als Gegenwarts-Texte behaupten will, wird das geschichtliche Bewusstein auf folgende Probe gestellt: War das, was für die Alten galt, auch für mich gültig - ganz grundsätzlich gesehen - und ist das, was für mich gilt, auch gültig für die Generationen, die  nach mir kommen? Die Antwort der Liturgie ist selbstverständlich ein entschiedenes Ja, denn die Gültigkeit im Jetzt kann nicht von lokalem, zeitbedingtem Aktualitätssdrang leben, sondern sie muss eine entsprechende Gültigkeit für alle behaupten, die vor uns waren, und für alle, die nach uns kommen.

            Das Paradox ist also, dass die Liturgie, indem sie den geschichtlichen Prozess kraft ihrer Gegenwärtigkeits-Behauptung neutralisiert, eben denselben geschichtlichen Prozess ja gerade profiliert und ihn extrem deutlich macht: Dass es eine Zeit vor uns gab, dass es ein Jetzt gibt und dass eine Zeit nach uns kommt. Die Liturgie drückt also eine Konstante aus, und diese Konstante ist notwendig, damit das menschliche Bewusstsein die Variable fangen und sie richtig auffassen kann - als Variable.

            Wenn ich also meiner eigenen Zeit etwas im mentalen Sinne vorwerfen soll - und das tue ich eigentlich gern, denn ich halte es für meine professionelle Pflicht - dann ist es der banale Historismus, der in dem Sinne von der Entwicklungstheorie abhängig ist, dass man meint, dass man die Vergangenheit auf sich beruhen lassen könnte und dass nur die Gegenwart interessant wäre - weshalb die Zukunft ihren Charakter als Verheißung und mentale Investition verliert. Und Letzteres ist fatal. Denn wenn die Erwartung in der Zukunft nicht existiert, dann wird der historische Prozess selbst kurzgeschlossen und kann nicht mehr mental wiedererkannt werden.

            Ich möchte also meinen, das die Aufrechterhaltung des Gottesdienstes irgendwo in der tieferen kollektiven Bewusstseinsschicht weiterhin die uralte Funktion hat, den Himmel oben zu bewahren, die Erde an ihrem Ort und die Tiefe in ihrer Tiefe, und zugleich hat er die Aufgabe, der Vergangenheit zu geben, was sie haben soll, der Gegenwart ihre zweifelhafte Ehre und der Zukunft ihre naheliegende Möglichkeit als Element der Spannung.

            Und ich meine dementsprechend, dass die Gebetsformulierungen, die wir im Gottesdienst verwenden, die öffentliche Funktion haben, uns alle an diese grundlegeneden Konstellationen in der Welt zu erinnern, weshalb die Formulierungen nie zu Wortsalat werden - im technischen Sinne möglicherweise, Gott behüte! - aber nicht im bewusstseinsmässigen, aufklärerischen Sinn. Ich will persönlich und professionell gern zugeben, dass manche der Neuformulierungen in den Einleitungsgebeten, die in der neuen Agende stehen, mir direkt gegen den Strich gehen - mehrere von ihnen sind einfach theolgisch unter aller Kritik - aber das ist sozusagen nur eine akademische Frage, denn ihre Funktion als Öffentlichkeitstexte ist hinreichend deutlich.

            Unter dieser Öffentlichkeit liegt die Möglichkeit der Privatheit. Über sie kann ich mich nicht äußern, aber ich bin eigentlich der Meinung, dass all die Öffentlichkeit, die ein Gottesdienst bietet, eine unausgesprochene Möglichkeit der Privatheit bietet, denn der Gottesdienst ist gerade kein soziales Ereignis im direkten Sinne, sondern er ist es indirekt - ganz einfach, indem wir einander auf den Nacken sehen, weshalb der Einzelne in Frieden gelassen sein und sein Gebet in eben diesem Frieden verrichten kann - aber in dem vollen Bewusstsein, dass wir gemeinsam in dieselbe Richtung sehen, die die nach Osten gerichtete Küste des Heils und der Erlösung ist, die dem Aufgang der Sonne, dem Kommen des Hern und dem "Leben der künftigen Welt" zugehört. 

            Und sowohl als öffentliches Gebet als auch als privates Gebet ist das Vaterunser ganz einfach ein Scoop. Denn es ist realistisch. Der Drang aller anderen Gebete, in Worten und glatten Formulierungen zu schwelgen, prallt ab von der einfachen Erkenntnis des Vaterunsers von dem Bedürfnis des Ichs, in der Welt gegenwärtig zu sein und seinen Gott zu kennen - von ihm gekannt zu sein.

            Ich finde also, wir sollten für das Vaterunser tief dankbar sein und dann die kleinen Ermahnungen des Evangelisten Matthäus auf sich beruhen lassen. Aber mit dem Kämmerlein, wie es in der alten Übersetzung hieß, hat er Recht. Wo aber das Kämmerlein ist, das wird zwischen dem Einzelnen und seinem bzw. ihrem Gott entschieden. Es kann im öffentlichen Gottesdienst sein, ohne dass es jemand merken würde, und es kann irgendwo in der Privatheit sein - niemand wird es entdecken. Und das ist gut und richtig so.

            Und die Gestimmtheit des Vaterunsers ist die Neigung der Vergebung  zum Menschlichen. Und des Menschlichen zum Göttlichen.

Amen



Pastor Claus Oldenburg
København (Dänemark)
E-Mail: col@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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