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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Epiphanias, 10.01.2010

Predigt zu Römer 12:1-3, verfasst von Martin M. Penzoldt

„Ich ermahne euch nun, liebe Brüder,
durch die Barmherzigkeit Gottes,
dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer,
das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.
Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.
Und stellt euch nicht dieser Welt gleich,
sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes,
damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist,
nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch,
dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten,
sondern dass er maßvoll von sich halte,
ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat." (Luther, 1984)

Liebe Gemeinde, Brüder und Schwestern!  „Durch die Barmherzigkeit Gottes" - das ist der alles entscheidende Einsatzpunkt des neu aufgeschlagenen Kapitels 12 im Römerbrief. „Durch die Barmherzigkeit Gottes", das ist der Grund auf dem wir alle stehen, der Boden der uns als christliche Gemeinde  trägt. Nur „durch die Barmherzigkeit Gottes" ist möglich, was hier als Auftrag an uns gesagt wird. Nur „durch die Barmherzigkeit Gottes" kann Gestalt werden, was der christliche Glaube bekennt. Weil Gott so viel Erbarmen mit uns gehabt hat, bittet uns der Apostel Paulus mit eindringlichen und klaren Worten: „Stellt euer ganzes Leben Gott zur Verfügung! Bringt euch Gott als lebendiges Opfer dar, ein Opfer völliger Hingabe, an dem er Freude hat."(V 1)

I.

Es gibt da für Paulus kein Zögern, auch keine vor Gott ausgegrenzten Gebiete, kein Versteckspiel mit Lebensrollen, sondern nur Hingabe an Gott mit Haut und Haaren, mit Herz und Kopf, mit Leib und Seele. Mit unserem Leben selbst, mit unseren Worten und Gedanken, mit unserer Zugewandtheit und Lauterkeit, mit dem Ausdruck unseres Körpers bis in die Züge des Gesichts hinein sind wir gefordert. Sich in diesem Umfang ganz zu geben, Gott sich anzuvertrauen, sich ganz zu stellen und nichts zurückzuhalten, das soll für uns der eigentliche, oder wie Paulus schön sagt der „vernunftgemäße" Gottesdienst sein.

Man könnte sagen: das ist der „Gottesdienst im Leben", für den jede unserer gottesdienstlichen Feiern ein Vorspiel, ein Auftakt, eine Hilfe sein soll! Denn wir müssen zu diesem „Gottesdienst im Leben" immer wieder erst „durch die Barmherzigkeit Gottes" frei gesetzt, aus unserem zerstreuten Alltag aufgesucht und ausgerichtet werden. Wie schnell ist aus besten Vorsätzen im Neuen Jahr eine müde Erinnerung geworden? Wie sehr sind wir geneigt zu tun, was man tut, und nur zu geben, was man gibt - und dabei in alle Richtungen nach Ansehen und Anerkennung zu streben? Das kann nicht gut gehen. „Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an. Lasst euch vielmehr von Gott umwandeln, damit euer ganzes Denken erneuert wird." (V 2) Ein ungeheurer Anspruch, wie sollte das wohl möglich sein? „Durch die Barmherzigkeit Gottes"!?

II.

Das könnte jetzt doch etwas hochgegriffen klingen oder wie eine Leerformel wirken. Wie kann sich ein solches Ausmaß an Änderung, an Erneuerung des ganzen Menschen vollziehen? Nun, wir haben es eben erst an Weihnachten erlebt: Indem Gott zu uns kommt als Kind in der Krippe. Und die Menschen eilen herbei und stehen verzaubert und entzückt vor diesem Kind. Und es verändern sich die Gesichter, die verschlossenen und verhärmten, enttäuschten und verbitterten Gesichter hellen sich, werden milde und gütig und bereit die ganze Welt anzulächeln. Die Weihnachtsgeschichte will sich in diesen Menschen fortsetzen und bleibende Gestalt gewinnen.  Es sollen die Gesichter verändert werden, es soll die Gemeinde Gottes ein Segel der Hoffnung sein und es soll sich das Gesicht der ganzen Welt ändern. Das ist der Weg auf den wir gesetzt sind. „Durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch welche uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe." (Lk 1,78)

Für die Welt ist dagegen Weihnachten erstmal vorbei. In meinem Supermarkt wurden bereits zur Mittagstunde des Heiligen Abends die Regale von allen Weihnachtsköstlichkeiten freigeräumt. Das Geschäft mit Weihnachten ist schon vor dem Heiligen Abend abgehakt und wird bilanziert. Im Fernsehen verlegten sich die Reporter auf weltweite Reportagen vom internationalen Weihnachtsrummel. In China etwa liefe das Geschäft ganz großartig, wenn auch ohne die dort unverständlichen, ja anstößigen Krippenfiguren. Für die Welt ist Weihnachten vorbei, wenn die Läden schließen.

Aber für uns geht Weihnachten weiter, in den Mienen der Menschen, die von der Krippe kommen und anfangen gemeinsam ihrem Leben eine neue Richtung zu geben: „...schaue den Himmel mit meinem  Gesicht (EG 449,3)." Weihnachten geht weiter mit der Taufe Jesu im Jordan, der dabei den Himmel über sich offen sah (Mt 3,13-17; Evangeliumslesung 1nE). Und das Kommen Gottes zu uns Menschen führt auch in die bittersten Stunden des Gebetes Jesu allein im Garten Gethsemane: „...doch nicht wie ich will, sondern wie du willst." Paulus zieht die Linien weiter aus bis heute: „Lasst euch vielmehr von Gott umwandeln, damit euer ganzes Denken erneuert wird."(V 2)

III.

An dieser Stelle müssen wir Atem schöpfen. Sind denn die Menschen so schlecht, dass sie erst neu instand gesetzt werden müssen? Muss erst derartig dramatisch an ihnen gewirkt werden, dass sie auch nur zu den allerkleinsten Zugeständnissen gegen ihre Selbstsucht und Verschlossenheit in der Lage sind? Ist nicht die Rede vom Opfer, dem Opfer Christi, aber auch dem von Christen geforderten „lebendigen Opfer" (V1) ihres ganzen Lebens eine völlig abseitige, grausige, totale Unterwerfung, die wir nur noch mit Terroristen, Fundamentalisten und Verirrten in Verbindung zu bringen vermögen? Aber das ist abwegig!

Es ist abwegig, weil die Rede vom Opfer im religiösen Bereich die Erhebung und Loslösung des Menschen aus der Verstrickung ins Endliche und die Vergegenwärtigung des ewigen Gottes im Endlichen bezeichnet. Das Christentum ist Erlösungsreligion.

Und es ist es abwegig, weil die Rede vom Opfer im ethischen Bereich einen Grundvorgang des Lebens zur Sprache bringt. „Ohne Opfer kann eine Gesellschaft nicht bestehen." (Albert Schweitzer)

Je genauer wir das Verhaltend der Menschen studieren, umso erstaunter wird man sein über das Ausmaß an Liebe und Zuvorkommenheit untereinander. Nur weil wir so selten noch unmittelbare Hilfe brauchen, steht uns dieser Aspekt nicht mehr so vor Augen. Tatsächlich bringen Menschen aber viele Opfer füreinander, also gute Taten, die sie gar nicht tun müssten. Sie spenden Blut, sie engagieren sich in gemeinnützigen Vereinen, tragen einen Organspende-Ausweis, geben Geld an völlig fremde Menschen in anderen Kontinenten und fühlen sich, wenn sie es nicht tun, schuldig. Das muss man erstmal anerkennen. Jedenfalls scheint die moralische Ausgangslage des Menschen an sich nicht schlecht zu sein.

Der Hegelpreisträger der Stadt Stuttgart von 2009, der amerikanische Anthropologe Michael Tomasello (Leipzig), weist darauf hin, dass Menschenkinder - im Unterschied zu Schimpansen - mit 14 Monaten einem Erwachsenen helfen, wenn der zeigt, dass er Probleme beim Ergreifen eines Gegenstandes oder beim Öffnen einer Schranke hat. „... dann tapsen diese Kleinkinder, obgleich manche kaum laufen können, keines sprechen kann und alle Windeln tragen - zu diesem Fremden hin und helfen." (aus der Rede des Preisträgers Tomasello, 16.12.2009) Kooperatives Handeln ist also offensichtlich angeboren. Besonders eindrücklich ist auch, dass Kinder durch Gesten Erwachsene auf gesuchte Gegenstände hinweisen. Der Mensch ist also in exzeptioneller Weise zur Kooperation fähig und bereit.

Aber in dem gleichen Maß wie der Mensch versteht, was den anderen bewegt, ist er auch fähig ihn zu belügen, betrügen und auszunutzen. Die engelgleichen Kinder also sind leider genauso in der Lage für ihre eigenen Interessen zu sorgen und die anderer hintan zu setzen. Die unmittelbare eigene Durchsetzung wird in unüberschaubaren Zusammenhängen natürlich immer leichter. " Alles eine Frage der Dimension. Wenn, wie der englische Philosoph David Hume festhielt, zwei Nachbarn Mittel aufbringen müssen, um einen Sumpf trocken zu legen und damit mehr Ackerland für beide zu gewinnen, ist diese Aufgabe recht problemlos zu lösen. Wenn jedoch 100 Bauern vom Trockenlegen eines Sumpfes profitieren könnten, wäre jeder Einzelne versucht zu argumentieren, dass ‚mein Anteil von einem Prozent wahrscheinlich nicht viel bedeutet, und wenn ich nicht mitmache, fällt dies vermutlich niemandem auf‘. Größere Gruppen leisten somit natürlicherweise dem Trittbrettfahrerverhalten Vorschub (Tomasello, 16.12.2009)". Der wird sich drücken, wird sich schonen, wird auf Kosten anderen leben, auch noch schlecht über sie reden und sich rechtzeitig davon machen.

Solche Beispiele, gerade wenn sie auch noch Erfolge zeitigen, unterhöhlen natürlich den guten Willen der anderen. Und das ist genau der Einsatzpunkt der christlichen Ethik, zu der Paulus im Kapitel 12 des Römerbriefs ansetzt: Stellt euch nicht der Welt gleich, schaut nicht, ob ihr betrogen werdet von gerissenen Halunken und gebt eure Güte nicht auf, weil andere so kleinschlau sind. Stellt euch nicht der Welt gleich, die nach herben Enttäuschungen nur noch tut, was man tut und nur gibt, was man schuldig ist. Verdankt ihr euer ganzes Leben nicht Gott allein und seiner Barmherzigkeit? Der Kooperationswillen des Menschen und seine Vernunft brauchen diesen Horizont der Barmherzigkeit, um wirklich vernünftig zu sein. Der Horizont unseres Handelns ist nicht der Vergleich mit anderen Menschen, sondern der Blick auf die Güte Gottes, der uns das Leben schenkte, der uns aus schlechten Prägungen und Zwängen erlöst und der die menschliche Existenz von der Selbstzentriertheit zur Zentriertheit auf das Wesentliche, auf das Gute, wandeln will.

IV.

Und Paulus lässt es bei allgemeiner Dankbarkeit nicht bewenden. „Prüft was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene." (V 2; Rm 612ff.) In Diskusionen wird gelegentlich der Wunsch geäußert, die Kirche sollte genauer sagen, was man tun soll. Andere Religionen würden es einem viel leichter machen. Ist es wirklich so schwierig herauszufinden, was Gottes Wille für mein Leben ist? Ist es umgekehrt mit der Einhaltung allgemeiner Regeln wirklich getan?

Man kann diesen Abschnitt von Paulus als eine Lebenshilfe lesen. Wenn ich eine Entscheidung treffen muss, dann bin ich oft unsicher. Von Kafka wird die schöne Anekdote berichtet, dass er in seinem Tagebuch eine Liste für und eine Liste gegen das Heiraten geführt habe. Es hat ihm nicht geholfen. Entscheidungen werden so nicht getroffen. Paulus sagt, du musst dich ganz darangeben, du musst so mit allem in Dein Leben hineingehen, als ob es nur um diesen einen Punkt jetzt geht. Es muss der Mensch durchsichtig werden vor Gott. Er muss sich mit ausgestreckten Händen vor ihm zeigen, sich ihm zeigen. Dann wird er wissen, was zu tun ist. Dann weiß er, was Gott von ihm fordert und ihm zugute will.

In späteren Tagen des Abendlands kam die Idee auf, sich vorzustellen, man müsste sein Leben immer von Neuem wieder führen. Dieser Gedanke soll dem Menschen helfen, jetzt die richtige Entscheidung zu treffen. Denn er will ja nicht in alle Ewigkeit etwas Falsches wiederholen müssen. Es geht auch Paulus um ein bewusstes Leben im Angesicht der Ewigkeit: Innerung Gottes im Menschen, Entäußerung des Menschen in Gott. Dann, so folgert Paulus,  kann sich der Mensch ein sicheres Urteil bilden, welches Verhalten dem Willen Gottes entspricht, und weiß in jedem einzelnen Fall, was gut und gottgefällig und vollkommen ist. (Vs 2)

V.

Jetzt müssten bei Paulus eigentlich die großen Themen drankommen, der Friede, die Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit unter Menschen und Abwendung des Hungers. Es gibt inzwischen auch eine ökumenische Verbundenheit im Einsatz für diese Themen. Die katholische Kirche hat inzwischen aufgeschlossen.  Auch wenn die große Politik sich mit weltweiten Themen sehr schwer tut (Kopenhagen 2009), ist es für Christen eindeutig, dass sie sich hier nicht aus persönlichen Vorlieben engagieren. Es ist das was ihnen heute nach dem „Maßstab des Glaubens" (V 3)  als vernünftig erscheint. Der große heilsgeschichtliche Bogen des Römerbriefs von Adam bis zur Wiederkunft Christi leitet zu großen Themen hin. So hat auch Karl Barth in seiner Römerbrief-Auslegung (1. Auflage) Paulus als Zeugen der Opposition gegen alles Bestehende angeführt und nur extremen politischen Tendenzen einen christlichen Widerschein zugestehen wollen. Sein Bruder Heinrich hat ihn daraufhin freundlich hingewiesen, auch „...‚gemäßigt‘ zu sein gebietet vielleicht die sittliche Pflicht, erlaubt vielleicht der göttliche Humor." (H. Barth, Gotteserkenntnis, 1919).  

Dieses Gespräch zwischen den Brüdern Barth, der Konziliare Prozess, das Gemeinsame Sozialwort der Kirchen, die Debatten in Schulen und Gemeinden: sie zeigen, dass Christen auf den Spuren des Paulus nach dem Maßstab des Glaubens und mit befreiter Vernunft  dem weihnachtlichen Weg Gottes weiter Gestalt geben, gemeinsame Positionen erzielen und einem kooperativen Verhalten im Kleinen und Großen den Weg ebnen. „Durch die Barmherzigkeit Gottes" - Amen.



Kirchenrat Martin M. Penzoldt
Stuttgart
E-Mail: martin.penzoldt@elk-wue.de

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