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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 17.01.2010

Predigt zu Römer 12:(4-8) 9-16, verfasst von Titus Reinmuth

Liebe Gemeinde,

ein bisschen klingen diese Sätze wie die Ermahnungen einer Mutter: Zieh dich schön warm an! Geh nicht bei rot über die Straße! Fahr vorsichtig! Bleib nicht zu lang, Du musst morgen früh raus! Jeder kennt diese Ermahnungen. Manchmal können sie einem ganz schön auf die Nerven gehen. Man kennt sie alle, hat sie immer wieder gehört. Am besten, man klappt die Ohren zu und geht. Die Ermahnungen des Paulus kennen auch schon viele von uns. In Variationen kommen sie immer wieder vor. Mancher möchte auch gleich die Ohren auf Durchzug stellen und die Ermahnungen verbuchen unter dem schlichten Motto: Seid nett zueinander. Dabei ist schon bei der Mutter klar: Sie sagt das alles nur aus Liebe zu ihrem Kind. Sohn oder Tochter sollen eben nicht krank werden oder sich unnötig irgendwelchen Gefahren aussetzen. Eltern sagen so etwas aus Liebe und Sorge. Doch manchmal kommt da eben nur die ärgerliche Botschaft an: Jetzt kommt schon wieder die Moralpredigt. Leichter wäre es, wenn als erstes die Botschaft rüber käme: Ich habe dich immer noch lieb. Ich will, dass es dir gut geht.

Darum geht es nämlich auch dem Paulus. Ja, darum geht es Gott mit den Menschen. Deshalb schreibt Paulus das auch an die Gemeinden: Gott will, dass das Leben gelingt. Er will, dass die Menschen ein gutes Miteinander erleben. Die Ermahnungen sind nicht die Forderungen eines Moralpredigers, sie sind im Grunde Ausdruck einer Liebe, die es wirklich gut meint. Die den Menschen zwar etwas zutraut, die aber gelegentlich noch mal beschreiben möchte, vielleicht daran erinnern möchte, wie es gut gehen kann. Darum steht wohl gleich am Anfang dieser Ermahnungen der Satz: Eure Liebe sei ohne Falsch. Will sagen: Eure Liebe sei ohne doppelten Boden. Ohne Hintergedanken. Echte Liebe kommt von Herzen und sie will, dass der andere glücklich ist.

Gut gemeint - aber gar nicht so einfach, oder? Um das zu veranschaulichen, verwendet Paulus vorab ein Bild, einen Vergleich. Er sagt: Menschen sind verschieden, sie haben ganz unterschiedliche Fähigkeiten, der eine kann dies gut, der andere das - und niemand kann alles. Ihr braucht nicht in allem perfekt zu sein. Das ist wie mit dem Körper und seinen unterschiedlichen Gliedmaßen. Das Auge kann sehen, die Ohren können hören, die Hände können etwas greifen, die Füße und Beine können gehen - und nur, wenn alles gut zusammenspielt, können wir gut leben. So ist das auch in einer Gemeinschaft, zumal in einer Gemeinde, meint Paulus. Gott hat uns Menschen sehr unterschiedliche Begabungen mitgegeben. Die können wir gut füreinander nutzen, damit das große Ganze gelingt. Da muss auch niemand sagen: Das, was ich kann, ist ja nicht so viel oder doch nicht so wichtig. Nein, jede Gabe, jede Fähigkeit hat Bedeutung. Wie bei einem Körper, einem Leib, bei dem viele Teile zusammenspielen. Der Fuß braucht nicht sagen: Ich bin kein Auge, darum werde ich nicht gebraucht. Das Ohr muss nicht sagen: Ich bin keine Hand, darum bin ich nichts wert. Nein, alle sind wichtig - und manchmal sind die Glieder des Leibes, die uns eher schwach erscheinen, die nötigsten. Wer einmal nur die rechte Hand in Gips hatte, wird ein Lied davon singen können: nichts mehr greifen, tragen, schreiben können, und auch nicht mehr Autofahren für vier lange Wochen, das ist schon eine echte Behinderung.

Das Bild vom Leib und den Gliedern als Bild für die christliche Gemeinde ist einigen wahrscheinlich gut bekannt. Paulus benutzt es nicht nur hier, sondern auch im Korintherbrief und anderswo. Es scheint ihm ein ganz wichtiger Vergleich zu sein. Viele im inneren Kreis der Gemeinde haben sich daran gewöhnt, dass es immer dann zitiert wird, wenn es um das Zusammenarbeiten in der Gemeinde geht oder wenn jemand eine neue Aufgabe in der Gemeinde übernimmt. Jede und jeder ist wichtig in einem großen Ganzen, getragen durch den Glauben an Jesus Christus. Wir brauchen diese ganzen Ermahnungen eigentlich nicht, wird sogar mancher denken, denn natürlich sehen wir uns alle gegenseitig liebevoll an und achten einander, schließlich sind wir ja eine Gemeinde. Also: alles klar, alles ist gut, wir können weitermachen.

Nur: Warum legt sich Paulus dann so ins Zeug? Wenn sich das alles so von selbst versteht, warum schreibt er so engagiert, warum wirbt er so unablässig und mahnt die Seinen so vehement? „Hasst das Böse, hängt dem Guten an, seid herzlich, nicht träge, sondern brennend im Geist..." - man hört ihn förmlich, wie leidenschaftlich er das vorbringt. Und er wird ja noch konkreter: „Übt Gastfreundschaft, sorgt euch um die Nöte der andern, segnet und flucht nicht..." Es war wohl nötig, sich mal so ins Zeug zu legen, das alles einmal kräftig in Erinnerung zu bringen. Paulus hatte es ja mit ganz normalen Menschen zu tun.

Und - Hand aufs Herz - wie ist es denn tatsächlich bei uns? Sind wir wirklich ganz frei von Neid und können uns an den tollen Begabungen und Fähigkeiten der anderen einfach freuen? Kann ich mich mitfreuen, wenn der Kollege in der Firma etwas erreicht hat, zum Beispiel einen neuen Kunden an Land gezogen? Oder wenn die Kollegin beim Chef im letzten Meeting ihr eigenes Projekt durchgesetzt hat? Neid, Missgunst, Vergleiche zwischen Soll und Haben, Fragen nach Posten und Projekten, das gibt's im Beruf, das gibt's in Vereinen - und natürlich auch in Kirchengemeinden. Wäre jedenfalls merkwürdig, wenn nicht.

Sehen wir uns mal unsere Gemeinden an. Sind Kirchengemeinden wirklich so, dass Menschen ganz herzlich aufeinander zugehen, einander achten „ohne Falsch" und immer füreinander da sind? Wir: eine große Familie? Mag sein, aber ich fürchte, dann geht es auch zu wie in einer großen Familie. Manche erleben, dass es da immer wieder zu Unstimmigkeiten kommt. Das fängt oft bei Kleinigkeiten an: Warum darf die heute Kaffee kochen? Das war doch sonst immer meine Aufgabe! Oder: Ist denn hier nicht sauber gemacht? Wer war hier zuletzt? Oder: Die Konfirmanden sitzen mal wieder nicht still im Gottesdienst. Und erst die Jugendlichen im Gemeindezentrum, das war ja neulich wieder so laut, was die nur wieder machen? Ich denke, Ihnen fallen auch Beispiele ein, wo Gemeindegruppen oder einzelne Gemeindeglieder eben nicht Anteil nehmen oder sich liebevoll nach den anderen erkundigen, sondern erst mal meckern und kritisieren. Auch in Kirchengemeinden menschelt es.

Das alles macht deutlich: Paulus zeichnet das Idealbild einer Gemeinde. Das kann verschiedene Gründe haben: Entweder es gab wirklich mal so eine ideale Gemeinde. Das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Oder aber es gab zur Zeit des Paulus schon dieselben Schwierigkeiten wie heute. Das glaube ich schon eher.

Wie sieht es denn aus in Rom, mit wem hat Paulus es zu tun? Es muss eine ziemlich bunte Gesellschaft gewesen sein, soweit wir das heute noch wissen können. In der Gesellschaft Roms gibt es sehr unterschiedliche und auch widerstreitende Strömungen und Moden. Eine große kulturelle Vielfalt bietet viele Möglichkeiten, aber lässt auch Konkurrenz zwischen den einzelnen Gruppen entstehen und eine gewisse Beliebigkeit. Fremde Religionen kommen nach Rom, sie werden in privaten Zirkeln gelebt, vom Staat wird aber auch die Kaiserverehrung gefordert. Um überhaupt eine Einheit zwischen den vielen Strömungen hinzubekommen, wird die Sprache vereinheitlicht, das Recht einheitlich sowie Münzen, Maße und Gewichte. Es entsteht der Gedanke eines Weltbürgertums, es gibt so etwas wie eine gemeinsame Idee, die das Ganze zusammenhalten soll. Selbst das Bild von dem Leib und den einzelnen Gliedern ist nichts genuin christliches, keine originelle Idee des Apostels Paulus, sondern ein in der Antike beliebter Vergleich. Aber die Gesellschaft spaltet sich in eine Oberschicht, die in unermesslichem Reichtum und Luxus lebt, eine ganz schmale Mittelschicht von Händlern, Handwerkern, Landbesitzern - und eine breite Masse von verarmten Arbeitern und Schuldsklaven. Trotz gut gemeinter Ideen von Staat und Gemeinschaft, erleben viele Menschen, dass sie austauschbare Nummern oder verkäufliche Ware sind, dass sie gerade nicht aufgrund ihrer Person und ihrer Fähigkeiten geachtet werden, sondern einzig und allein nach dem Ansehen und der Macht, die sie haben.

Mittendrin kleine christliche Gemeinden. Hier soll nicht gelten, ob einer Jude oder Grieche ist, hier wird man nicht danach beurteilt, ob man Sklave oder freier Bürger ist, hier spielt auch das Geschlecht keine Rolle, ob Mann oder Frau, sondern hier sind alle eine Gemeinschaft durch den Glauben an Jesus Christus, so sagt es Paulus eindrücklich an anderer Stelle im Galaterbrief. Deshalb stellt Paulus die Frage, was Menschen in der christlichen Gemeinde eigentlich miteinander verbindet, wo sie doch eigentlich so verschieden sind und ihnen die Gesellschaft doch immer wieder unterschiedliche Rollen und einen sehr unterschiedlichen Status zuschreibt. Das Verbindende, so Paulus, ist die Liebe. Die Liebe, mit der Gott die Menschen als seine Kinder ansieht, eben nicht als große Masse oder als austauschbare Nummern, nicht nach Ansehen, Geschlecht, Macht oder Verdienst, sondern so, dass jeder einzelne Mensch als etwas Besonderes gilt. Jede und jeder Einzelne ist unentbehrlich, er oder sie ist in Gottes Augen etwas Besonderes, etwas ganz Wunderbares, eben ein geliebter Mensch mit ganz speziellen Fähigkeiten. Mit diesen Fähigkeiten kann er oder sie der Gemeinschaft dienen, nicht mit einer irgendwie zugeschriebenen Rolle oder Funktion. Wir sollen uns mit den Augen dieser Liebe ansehen, das ist es, was Paulus so dringend wünscht von einer Gemeinde. Wer sich gegenseitig so ansieht, der wird dann eben auch gastfreundlich sein, der wird Anteil nehmen an dem Leben der andern, der wird füreinander beten und andere achten.

Spiegelt sich das auch heute in unseren Gemeinden wieder? Ja, durchaus. Ist deshalb alles gut? Nein, alles nicht.

Zuerst zum Positiven: Es gibt in unserer Gesellschaft keinen anderen Ort, an dem sich so unterschiedliche Menschen zusammenfinden, wie evangelische Kirchengemeinden. Hier lässt sich erleben, dass viele Grenzen ganz einfach überschritten werden. Zum Beispiel in der Konfirmandenarbeit: Ich habe eine Konfirmandengruppe mit 18 Jugendlichen. Die kommen von zehn verschiedenen Schulen, sechs verschiedene Schulformen sind vertreten, darunter eine Förderschule für Kinder mit einer Lernschwäche und eine Schule für mehrfach behinderte Kinder. Hier erleben die Jugendlichen, wie das ist, in der Kirche eine Gruppe zu sein, wie es sich anfühlt, zusammenzugehören. Auch wie es ist, so unterschiedlich zu sein, die andern zu achten, auf die andern zu hören, oder zusammenzuarbeiten, um etwas zu schaffen. Wenn die Eltern dann zum Familiegottesdienst mitkommen, zusammen hören, singen, beten, mitreden, etwas ausprobieren, anschließend beim Essen miteinander an einem Tisch sitzen, dann ist das ein ziemlich buntes Miteinander. Das schafft kein Verein, keine Gewerkschaft, keine so genannte Volkspartei, dass so verschiedene Menschen zusammenkommen unter einer Leitidee. Menschen suchen nach Sinn, fragen nach Gott, wollen Gemeinschaft erleben - und finden das alles in ihrer Kirche. Sie werden angesehen und gehört, Ihr Glaube wird gefördert, sie können sich für etwas engagieren, mit anfassen, etwas tun. Auch in unserem Presbyterium spiegelt sich solche Gemeinschaft wieder: Da sitzt die Verkäuferin neben der promovierten Apothekerin, der Bänker neben dem Kinderarzt, gegenüber die Altenpflegehelferin, die Hausfrau, der Kirchenbeamte, daneben der Leiter der MS-Selbsthilfegruppe, die Verwaltungsangestellte, der Internist mit eigener Praxis. Und das waren nur die Berufe. Von andern Unterschieden ist noch gar nicht die Rede. Und was erleben wir? Ein herzliches Miteinander und ein gutes Zusammenarbeiten.

Also: Das, wofür Paulus streitet, gibt es durchaus. Ist deshalb alles gut? Nein, alles nicht. Es lohnt sich, dass Paulus uns noch mal erinnert, was einer guten Gemeinde gut tut. Etwas, das Menschen immer wieder üben können, ist, sich gegenseitig wahrzunehmen. Eigentlich müsste es nach jedem Gottesdienst hinterher einen Treffpunkt geben, wo man zusammenkommen kann bei einer Tasse Kaffee oder einer Limo und sich begrüßt und sieht, wer noch da ist, und hört, wie es so geht. In vielen Gemeinden ist das ganz üblich. Sich gegenseitig wahrnehmen, dazu gehört auch, sich weiter zu sagen, wenn irgendwo etwas nicht stimmt, wenn jemand Hilfe braucht oder einfach mal einen Besuch. Wenn es in einer Gemeindegruppe Schwierigkeiten gibt und die Beteiligten es nicht recht lösen können, sich auch Sorgen machen, warum nicht mal jemanden ins Vertrauen ziehen und die Sorgen teilen? Oder wenn ein Angehöriger oder eine gute Nachbarin und Freundin im Krankenhaus liegt, warum nicht einfach mal Bescheid sagen beim Besuchsdienst oder beim Pfarrer? Manchmal höre ich das hinterher: Es hat sie keiner besucht. Wie schade. Wir wussten es gar nicht. Die andern wahrnehmen, sich freuen mit den Fröhlichen, weinen mit den Weinenden - das Selbstverständliche bleibt eine Aufgabe.

Dann denke ich, dass längst nicht alle Begabungen entdeckt sind. Auf dem Gemeindefest war zu erleben, wie auf einmal einzelne oder Familien auftauchten, die einfach mitgeholfen haben, und die nicht zum Kreis derer gehörten, die immer schon mit anfassen. Was schlummert da noch an Bereitschaft, etwas zu tun? Wer kann noch mitdenken, wenn etwas neu konzipiert wird? Wer nimmt ein neues Projekt mit in die Hand? Wer bringt das, was er oder sie gut kann, auch mal in der eigenen Kirche ein - und sei es nur auf Zeit oder ab und zu mal? Wer übernimmt tatsächlich Verantwortung für einen bestimmten Bereich, sei es die Tafel oder den Gemeindebrief oder das nächste Fest? Hier schlummern noch unentdeckte Potentiale. Anders gesagt: Der eine Leib mit den verschiedenen Gliedern lebt schon ganz gut, aber er kriegt ein wenig Muskelkater, wenn nicht noch ein paar mehr Menschen sagen: Ich gehöre auch dazu, ich kann etwas, und das will ich auch in meiner Kirchengemeinde tun.

Sicher, eine ideale Gemeinschaft, auch die ideale Kirchengemeinde wird es wohl nie geben, wir sind eben Menschen mit Schwächen und Fehlern. Uns es wird vielleicht auch immer die eine oder andere Begabung fehlen, aber entdecken können wir sie nur, wenn wir auf andere zugehen, wenn wir einander wahrnehmen. Mit echtem Interesse, ohne Falsch, wie Paulus sagen würde. Dann begegnen wir plötzlich Menschen mit Namen, Gesichtern und Fähigkeiten, die wie wir auch Gemeinde Jesu Christi sind. Dann ist es vielleicht noch einfacher, Aufgaben zu verteilen oder Hilfe anzunehmen - und so ein Leib mit vielen Gliedern zu werden.

Amen.



Pfarrer Dr. Titus Reinmuth
www.titus-reinmuth.de
E-Mail: titus.reinmuth@ekir.de

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