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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 17.01.2010

Predigt zu Römer 12:9-16, verfasst von Günter Thomas

Liebe Gemeinde,

jeder Jahresanfang hat etwas von einer Chance eines kleinen Neuanfangs. Darum ist der Jahresbeginn ein natürlicher Ort neuer  und doch vertraut alter Vorsätze.

Simplify your life - jetzt endlich soll das Leben einfacher werden. Jetzt endlich, fängt der Gesunde Lebensstil an und steht das Rauchen nicht auf der Kippe, nein, wird beendet. Jetzt endlich wird die Partnerschaft nicht vernachlässigt und jedes zweite Wochenende von beruflichen Verpflichtungen freigehalten. Endlich öfter die Enkelkinder einladen. Endlich werden die Finanzen geordnet, endlich wird die zerstörerische Beziehung verlassen.... Endlich, endlich, wohl in milder Sektlaune formuliert, aber immerhin. Und vieles klingt wie ein fernes Echo der vielen guten Ratschläge aus der Kindheit, verstärkt von den Bergen an Beratungsliteratur die in jeder Bahnhofsbuchhandlung zu besichtigen sind. Jetzt, im neuen Jahr, sollen die erkannten Regeln, die zu einem gelingenden Leben führen, beherzigt werden.

Als würden wir nicht schon von uns selbst und von anderen genug gute Ratschläge bekommen, bricht auch der Predigttext für diesen Sonntag wie ein Gewitter guter Ratschläge über uns herein.

Paulus schreibt im zwölften Kapitel des Römerbriefes, in den Versen 9-16:

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.

10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.

11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.

12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.

13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.

15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.

16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.

22 wohl bekannt und letztlich auch nicht strittige religiöse Ratschläge für den Jahresanfang. 22 Ratschläge für Menschen wie mich, der ich den Peanuts-Kalender an diesem Punkt viel tröstlicher finde: An Neujahr räsonierte der Hund Snoopy über die jährlich formulierten Vorsätze und über deren ebenso regelmäßige Nichteinhaltung und fand seinen Trost darin, dass sich in diesem Muster doch zumindest ein zuverlässiges Charaktermerkmal anzeige: Vertrautheit, Regelmäßigkeit und Identität in der Wiederholung von Vorsatz und Scheitern - wie barmherzig, verständnisvoll und tröstlich.

Brauchen wir dieses Ratschlagsgewitter des Paulus? Und dies ist ja nur ein kleiner Ausschnitt aus dem langen Katalog des 12 Kapitels des Römerbriefes. Wäre, zugespitzt formuliert, nicht eher „Evangelische Freiheit" angesagt? Ist nicht die Rede von dem gnädig zuvorkommenden Gott die Pointe des Briefes und zugleich der Rahmen, der von Weihnachten her uns für das Neue Jahr mitgegeben wird? Wäre es nicht angemessener, unter der Last der guten und richtigen, aber genau darum belastenden Vorsätze stehend, Paulus‘ tiefe Einsicht in die Ambivalenz des Gesetzes zu aktualisieren? „Simplify your life!", wer weiß nicht, wie komplex diese Simplifizierung ist? „Gerechtigkeit verwirklichen!",  wer ist heute noch so blind zu übersehen, wie riskant dies ist, gerade für Gerechtigkeit? Ist nicht die Einsicht, dass letztlich alle unsere gemeinschaftlichen Erfindungen zur Lebensbewältigung scheitern können, viel tröstender und befreiender?

Bei Licht betrachtet stimmt ja nicht, dass die Moral verfällt und die Menschen sich nichts zumuten. Es mag wohl recht verschiedene Modelle des gelingenden Lebens geben - aber wozu Menschen bereit sind, wenn es darum geht, dieses gelingende Leben zu erreichen, ist doch oft sehr verwunderlich. Was Menschen sich selbst auferlegen oder mit ihrer Zustimmung auferlegen lassen, dies ist doch vielfach überraschend, ja irritierend. Um auf der Höhe der Zeit zu sein, um beruflich vorwärts zu kommen und sich im Wettbewerb zu behaupten,  um auf dem Markt der Schönheit einen Wert zu erhalten.... hier überrascht doch nicht der Moralverfall, sondern die selbst auferlegte Regelungsdichte. Den Verfall der Moral, den sieht man stets nur bei denen, die eine andere Version des gelingenden Lebens anstreben.

Was tun Menschen nicht alles, um - paulinisch gesprochen - ganz ungewollt und doch offensichtlich ihr Scheitern am Gesetz zu inszenieren? Was tun sie oder was wollen sie tun, für ihren Körper, für ihre Bildung, für ihre Freunde, für ihr Haus und Heim, für das Glück im Ruhestand?  Die jedes neue Jahr aufleuchtende Idee, gutes Leben ließe sich in ein Regelwerk packen, wird bei jedem Jahresrückblick nur zu oft als Illusion entlarvt.

Warum in aller Welt entfacht Paulus dann dieses Feuerwerk an Ermahnungen? Warum lassen wir uns am Jahresanfang von 22 guten Ratschlägen überschütten?

Paulus ist ein religiöser Empiriker. Paulus ist davon überzeugt, dass nicht nur der Teufel im Detail steckt, sondern auch Gott.

Gottesdienst findet in den Abgründen, in den Vieldeutigkeiten, in den Routinen des Lebens statt. Nicht in der Einsamkeit, sondern in den Verstrickungen und Verwicklungen mit anderen Menschen sind Entdeckungen zu machen. Inmitten der Vieldeutigkeit des Normalen kann aufleuchten, was hier im Gottesdienst gefeiert und erinnert wird - Gottes zuvorkommende, heilsame Nähe.

Nicht der Moralist Paulus überschüttet uns mit 22 Ratschlägen, sondern Paulus der Entdecker und Paulus, der subtile Beobachter sozialen Lebens. Das reale Leben der Verhakungen, des aufgehäuften Versagens, des langen und berechtigten Schweigens, der Taktik und der Vorsicht, der Verletzungen und der müde machenden Verpflichtungen, dies ist der Ort der Gottesbegegnung.

Dieses so vieldeutige wie facettenreiche Leben ist allerdings zugleich der Ort, an dem wir unsere Erfahrungen machen und „aus Erfahrung wird man klug".  „Aus Erfahrung wird man klug" - aber auch gefangen in Klugheitskalkülen. Paulus sieht Menschen gefangen in ihren gewachsenen Gewissheiten, gefangen in ihren langen Erfahrungsgeschichten, gefangen in den angereicherten Evidenzen und gefangen in ihren abgekühlten Idealen. Paulus spricht Menschen, die ihre Erfahrungen gemacht haben.

Aus Erfahrung wird man klug - und lernt abzuwägen und zu sehen, dass alles seinen Preis hat. Lohnt es sich, sich in den Ländern zu engagieren, die aus den Schleifen  der Verelendung nie auszubrechen scheinen? Profitieren wir von der Unterstützung von Schwellenländern?

Macht es Sinn, nochmals das Gespräch mit dem verbitterten Vater zu suchen? Verliert sich nicht die Geste des Dankes gegenüber den Eltern im Nebel diffuser Erwartungen? Ist die Sorge für sich selbst in der Partnerschaft im Augenblick nicht einfach vernünftiger? Ist es sinnvoll, den Widersacher zu achten und zu ehren?

Liebe ohne Falsch? Ist es nicht viel ehrlicher, sich einzugestehen, dass es eine Liebe ohne ein Begehren, das auch ein Haben wollen ist, wohl kaum gibt? Liebe, die das eigene Kalkül vergisst, sich nicht selbst beobachtet? Kann wirklich etwas Neues zwischen beschädigten und von ihrer gemeinsamen Geschichte mehr belasteten als getragenen Menschen aufbrechen? Ist es klug, so etwas zu erhoffen?

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.

10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.

11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.

Paulus der Beobachter sozialen Lebens, Paulus der zur Entdeckung der Gegenwart Gottes einlädt, ja dieser Paulus kennt den Charme der Trägheit, kennt die Trägheit als ultimative Gestalt der Klugheit.

Paulus sieht klar: Trägheit resultiert aus klugen Überlegungen, baut auf die Evidenz wirklich gemachter Erfahrungen.

Trägheit schützt vor Enttäuschungen, macht die angewachsenen Berge an Verletzungen im Miteinander erträglich.

Religiöse Trägheit bewahrt vor Fanatismus, ja wirkt religiös befriedend, vermeidet die Waffe des Moralisierens und der Rechtaberei.

Und berufliche Trägheit schützt vor einem Tinitus, ja wirkt als Immunsystem gegen epidemieartig sich ausbreitende Ansprüche der anderen.

Wer moralisch träge ist, braucht sich vor der Ausbeutung der eigenen Moral, vor dem Mißbrauch der Liebe nicht fürchten.

Soziale Trägheit bewahrt Anschlüsse an Traditionen und Rituale in Familien und Kirchengemeinden, an Weihnachten und wie zu anderen Zeiten.

Trägheit im Studium lässt Zeit offen für anderes und sorgt für eine angenehme - neudeutsch  - „life-work-balance".

Kurz: Trägheit schützt von den Risiken des Lebens oder minimiert diese zumindest - darum ist sie klug - aus Erfahrung klug.

Diese Risikovermeidung ist aber selbst riskant - dies mein zumindest Paulus. Trägheit riskiert Geistlosigkeit - nicht nur bei ganz profanen Trägheiten, nein auch bei denen, die den Glauben und die Gemeinde betreffen. Nur wer brennend im Geiste ist, hat die Chance, in den Verwicklungen des Alltags, in den Details, auf Gott zu stoßen.  Der Gott, der im Detail steckt, meidet die Trägheit, aber lässt sich im brennenden Geist finden.

11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.

12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.

13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.

15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.

Wer die Trägheit überwindet, wird nicht einfach aktiv oder gar sozial hyperaktiv, nein, solche Menschen werden auf neue Weise Empfangende. Sie lassen sich anstecken von der Freude der Fröhlichen - freuen sich am gelingenden, anderen Leben. Ohne im eigenen Leben gefangen zu sein, werden sie aber auch von der Trauer der Traurigen angesteckt. Ab und an ganz und gar unklug, aber detailverliebt, ganz und gar risikobereit, aber Menschen, die darin für andere zum Segen werden.

Wer die Trägheit überwindet, wird nicht vom teils chaotischen, teils vieldeutigen und stets auch  konfliktreichen Alltag befreit. Nein, aber diese Menschen werden - befreit von Klugheitsüberlegungen - Entdeckerinnen und Entdecker des im Detail dieses Alltags steckenden Gottes.

16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Amen.



Prof. Dr. Dr. Günter Thomas
Lehrstuhl für Systematische Theologie / Ethik
Evangelisch-Theologische Fakultät
Ruhr-Universität Bochum
E-Mail: guenter.thomas@rub.de

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