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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 17.01.2010

Predigt zu Römer 12:9-16 - Erdbeben Haiti, verfasst von Christoph Dinkel

Predigt über Römer 12,9-16

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in Römer 12,9-16. Es handelt sich dabei um eine geballte Aufzählung apostolischer Aufforderungen an alle, die sich Christen nennen. In sieben Versen Predigttext stehen 21 Empfehlungen zum idealen, gottgefälligen Leben. Wer heutzutage so viele Ideale vor sich herträgt, muss damit rechnen als „Gutmensch" belächelt zu werden. Besonders Protestanten stehen gerne im Verdacht des Gutmenschentums. Paulus schreibt:

Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Liebe Gemeinde!

Lauter gute Ratschläge präsentiert uns der Apostel an diesem Morgen. Er meint es gut mit uns, das ist klar. Es klingt fast, wie wenn besorgte Eltern ihre Kinder morgens zur Schule schicken: Zieh dich warm an, nimm dein Vesper mit! Pass gut auf, sei nicht frech, mach deine Jacke nicht schmutzig! So viele gutgemeinte Ratschläge rufen unweigerlich Widerstand hervor: „Lass es gut sein, ich weiß schon selbst Bescheid, ich kann selbst auf mich aufpassen", möchte man als Kind auf solche Ratschläge antworten. Ratschläge im Übermaß nerven leicht. Ob es den Empfängern des apostolischen Briefes damals in Rom auch so ging?

Später, wenn man älter ist und selbst Kinder zur Schule schickt, bringt man sehr viel mehr Verständnis für solch gluckenhafte Ratschläge auf. Man hört sich plötzlich genau jene Sätze sagen, die man selbst als Kind mit auf den Weg bekommen hat. Besorgte Liebe kann wohl nicht anders: Sie muss sich in Ratschlägen und Empfehlungen Luft verschaffen. Sehen wir also dem Apostel Paulus seine gluckenhafte Besorgnis nach. Betrachten wir sie nicht als Besserwisserei und Bevormundung, sondern als Ausdruck der Liebe und Fürsorge, als Anteilnahme und Zuwendung. Schieben wir den durch die Fülle der Ratschläge ausgelösten Widerstand beiseite: Betrachten wir die apostolischen Weisungen nicht aus der Perspektive des genervten Kindes, sondern aus der Perspektive echter Fürsorge, so erscheinen sie als eine groß angelegte Entfaltung des Gebots der Nächstenliebe. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", lehrt Jesus seine Anhänger. Und verschärfend fügt er einmal hinzu, dass wir selbst noch unsere Feinde lieben sollen. Dieses Gebot Jesu scheint der Paulus gekannt zu haben und seine Auflistung guter Ratschläge entfalten, was damit im einzelnen gemeint ist.

Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. ... Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.

Ja, so leuchtet das ein: Gott hat mir meinen Nächsten, meine Nächste gegeben. Sie verdienen gleichen Respekt, gleiche Liebe wie ich selbst. Der andere ist Gottes Geschöpf wie ich. Deshalb nehme ich ihn bei mir auf und helfe ihm, wenn er in Not ist. So zu leben ist gutes Leben. Auf keinen Fall will ich so leben, dass mein Nächster geschädigt oder übervorteilt wird. Ich ziehe das Gute dem Bösen vor, weil im Guten das Leben wohnt und ich das Leben liebe.

Der Apostel Paulus will uns mit seinen Ratschlägen also auf die Seite der Liebe, des Guten und des Lebens ziehen. Ich denke dorthin folgen wir ihm gerne, selbst auf die Gefahr hin, als protestantische Gutmenschen belächelt zu werden. Denn was wäre die Alternative? - Der Hass, das Böse und der Tod? - wer will sich ernsthaft schon auf diese Seite schlagen? In Filmen wird die Bosheit zwar manchmal als verführerische Verlockung vorgestellt. Aber die Bosheit im Film dient doch vor allem als Staffage, als die andere Seite, die man braucht, damit eine Story in Gang kommt und die Gefühle bewegt werden.

Im wirklichen Leben optieren nur wenige tatsächlich für das Böse. Seien wir froh, dass dies hierzulande heute so ist - aber vergessen wir nicht: die Zeiten der Totenkopf SS und ihres mörderischen Teufelskultes liegen nur 65 Jahre zurück. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, hat Paul Celan in seiner Todesfuge gedichtet. Die uns so selbstverständliche Zivilisation ist nicht von sich aus stabil. Nur weil viele gleichzeitig für sie eintreten und sie täglich leben, entsteht dieser Standard an Rechtstaatlichkeit, den wir in Deutschland seit vielen Jahren erleben. Unsere Zivilisation verdankt sich ganz maßgeblich den gerne bespöttelten Gutmenschen, seien sie Protestanten, Katholiken oder sonstwie gesonnen.

Paulus entfalte mit seinen Zeilen das Gebot der Nächstenliebe, einschließlich der Feindesliebe. Schauen wir auf die Geschichte der Menschheit, so sind dies höchst unwahrscheinliche Gebote. Sie setzen zum einen voraus, dass sich ein Mensch in sein Gegenüber und seine Gefühle hineinversetzen kann, dass ich also am Gesicht, an den Gesten, an den Worten des anderen abzulesen weiß, wie es ihm geht und was er in einer Situation empfindet. Sie setzen zum anderen voraus, dass ich den anderen als mir ähnlich, als mir gleichwertig, als mir von Gott anvertrautes Gegenüber anerkenne, dessen Gefühle ich so ernst wie meine eigenen nehmen soll.

Beides musste die Menschheit erst mühsam lernen, und die Lehre Jesu stellt menschheitsgeschichtlich betrachtet hier einen großen evolutionären Sprung dar. Jesu Gebot der Nächsten- und Feindesliebe ist eine neue Qualität des Menschseins und wir sind vermutlich noch Jahrhunderte damit beschäftigt, diese neue Qualität einzuüben, damit sie einst ganz selbstverständlich wird. Jedes Kind, jeder Mensch muss neu diese beiden Lektionen lernen, dass der andere Gefühle wie er selbst hat und dass der andere das gleiche Recht auf Leben und Glück hat wie man selbst. Der durch Jesus initiierte evolutionäre Sprung der Menschheit muss von jedem Menschen noch einem selbst vollzogen werden. Das macht Erziehung so anspruchsvoll und herausfordernd, das macht Erziehung aber auch so beglückend, wenn man erlebt wie ein kleiner Mensch diesen Sprung zur Menschlichkeit wagt und vollzieht.

Den Worten des Apostels merkt man noch an, als wie aufregend der von Jesus initiierte Sprung erlebt wurde: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden", fordert Paulus seine ihm noch gänzlich fremden Leser in Rom auf. Er reißt damit einen ganzen Kosmos an Gefühlen und eine neue Dimension menschlichen Glück- und Leiderlebens auf. Als Christin, als Christ können mir die Fernsten zu Nächsten werden, kann ich Anteil nehmen am Glück und am Leid mir ganz Unbekannter. Selbst die Fernsten sind Geschöpfe Gottes wie ich, sie fühlen wie ich, leiden wie ich, sind glücklich wie ich. Sie sind mir nicht fremd, so entfernt sie auch wohnen mögen. Mein Leben lebe ich fortan nicht mehr allein für mich, ich lebe es als Leben in Gemeinschaft mit anderen, an deren Gefühlen ich teilhabe. Mein Leben wird dadurch unendlich reicher und größer. Es wird zu einem Leben in der Fülle, weil ich durch die Liebe mit so vielen anderen verbunden bin.

Für diese Fülle des Lebens will Paulus sensibel machen. Diese Fülle umfasst dabei keinesfalls nur das Glück des anderen. Wer die Gefühle anderer Menschen zu lesen lernt, der lernt auch ihren Schmerz und ihr Unglück verstehen. Die Nächstenliebe macht immer sensibel für beides. Und so lehrt uns die Nächstenliebe fröhlich zu sein mit den Menschen, die auf der Hochzeit zu Kana den köstlichen Wein genießen und ausgelassen feiern (Evangelium Johannes 2,1-11). Die Nächstenliebe lehrt uns aber auch, das unendliche Leiden der Menschen mitzuempfinden, die in Haiti Opfer des katastrophalen Erdbebens geworden sind. „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden", mahnt der Apostel Paulus. Angesichts der Ereignisse der letzten Tage auf Haiti, liegt uns heute eher das Weinen nahe.

Wir teilen das Entsetzen der Überlebenden, wir teilen ihren Schmerz über erschlagene und verschüttete Angehörige und Freunde. Wir teilen den Schmerz der Verletzten, denen nicht geholfen werden kann, weil auch die Hilfskräfte durch das Erdbeben getroffen wurden. Was für ein Unglück ist über dieses ohnedies geschundene Land hereingebrochen! Weinen wir mit den Weinenden und halten wir Stille im Gedenken an all die Toten, Verletzten, Verschütteten.

Stille

Barmherziger Gott, dir befehlen wir alle an, die das Erdbeben auf Haiti getroffen hat. Sei du den Überlebenden nahe und halte die Verunglückten in Deiner Hand!

„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden." - Die Liebe erschließt uns die Fülle des Lebens, weil sie uns für die Gefühle des anderen sensibel macht. Der andere ist mir nicht mehr fremd. Er ist wie ich. Seine Gefühle, sein Leid, sein Glück geht mich. Deshalb nehme ich mich auch seiner Not an und suche ihm zu helfen. Ganz konkret heißt das heute, dass das Opfer dieses Gottesdienstes für die Diakonie-Katastrophenhilfe und deren Einsatz in Haiti bestimmt ist. Wenn wir von hier aus schon sonst nichts tun können, dann können wir wenigstens andere in die Lage versetzen zu helfen und die Not zu lindern.

Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden - die Liebe erschließt uns die Fülle des Lebens mit all seinem Glück und all seinem Leid. Manchmal wird uns diese Fülle fast zu viel, wenn das Leid überhand nimmt und alles erdrückt und lähmt. Die Fülle des Lebens zu kennen kann auch zur Last und zur Bürde werden. Paulus hat das gewusst und wohl oftmals selbst erlebt. Aus tiefer Erfahrung rät er deshalb der Gemeinde in Rom: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet." Ja, vielleicht bringen Beten und der geduldige Einsatz von Menschen, die es gut meinen, irgendwann auch die Hoffnung für Haiti zurück. - Amen.



Prof. Dr. Christoph Dinkel
Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

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