Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Rogate, 13.05.2007

Predigt zu Matthäus 6:9-13, verfasst von Sven Keppler

I. „Von wem kommen eigentlich die Zehn Gebote?" - „Von Jesus!"

Liebe Gemeinde, hätten Sie es gewusst? Im Kindergottesdienst kam die Antwort ohne Zögern. Überhaupt gibt es da ja manchmal Antworten, mit denen man nicht so ohne weiteres gerechnet hätte. Zum Beispiel vor ein paar Wochen auf die Frage: „Was feiern wir eigentlich zu Ostern?" Ein kleines Mädchen überlegte ein bisschen, meldete sich dann siegesgewiss und rief: „Da ist Jesus geboren worden."
Im ersten Moment dachte ich: O je! Wofür mache ich das ganze hier eigentlich, wenn vom letzten Krippenspiel nicht mal das hängen geblieben ist? Aber einen Augenblick später fand ich die Antwort eigentlich gar nicht so schlecht. Zu Ostern ist doch schließlich ständig vom neuen Leben die Rede. Jesus ist das Leben geschenkt worden. Lange, bevor es das Weihnachtsfest gab, wurde schon Ostern gefeiert - als die Geburtsstunde des christlichen Glaubens. Und Jesus hat einmal gesagt: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen." Zu Ostern wurde Jesus neu geboren - Kindermund tut Wahrheit kund!
Dass die Zehn Gebote von Jesus kommen sollen, hat mir allerdings nicht so schnell eingeleuchtet. Erst als ich wieder zu Hause war, kam mir eine Idee: Besteht nicht das Vaterunser aus 10 Aussagen? Jesus hat bei seiner Bergpredigt geboten, dass mit diesen Worten gebetet werden soll. Auch die 10 Gebote wurden auf einem Berg empfangen und haben göttliche Würde. Wäre es nicht einen Versuch wert, das Vaterunser als die neuen Zehn Gebote, als die Zehn Gebote von Jesus zu hören?
Bei Matthäus im sechsten Kapitel spricht Jesus:

Darum sollt ihr so beten:
Unser Vater im Himmel!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel
so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Später wurde dann hinzugefügt: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Wenn Sie mögen, schlagen Sie doch bitte das Gesangbuch auf. Hinten können Sie den Text des Vaterunser während der Predigt mitverfolgen.

II. Beide beginnen mit Gott: die Zehn Gebote des Mose und das Gebet von Jesus. „Unser Vater im Himmel!" - „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Beide Mal steht die Dankbarkeit gegenüber Gott am Anfang. Als Mose die Gebote auf dem Berg empfing, war er nicht lange zuvor mit seinem Volk aus Ägypten in die Freiheit gezogen. Sie hatten als rechtlose Migranten gelebt, die für ungeliebte Arbeiten schlecht bezahlt wurden. Gott hatte sich als verlässlicher Schutz erwiesen, auf den es sich zu vertrauen lohnt.
Bedeutet es nicht etwas Ähnliches, wenn wir Gott als unseren Vater anreden? Gott ist unser machtvoller Schutz. Wir verdanken uns ihm völlig, so wie sich ein Mensch seinen Eltern verdankt. Wir dürfen ihn vertrauensvoll anreden: Gerne als bergende Mutter, hier als himmlischen Vater. Dieser Gott ist es, der keine anderen Götter neben sich duldet - so wie ein Mensch eben nur einen Vater hat, dem er sein Leben verdankt.
Und doch besteht ein großer Unterschied zwischen dem ersten Gebot und dem ersten von Jesus gebotenen Satz. Im Gebot heißt es: Du sollst keine anderen Götter haben. Im Vaterunser wird das nicht nur geboten, sondern es geschieht! Denn wer zu Gott „Vater" sagt und es von Herzen meint, erfüllt damit Gottes Willen. Wer „Vater unser" sagt, für den ist Gott tatsächlich der Einzige, dem er oder sie alles verdankt.
„Geheiligt werde dein Name" ist der zweite Satz des Vaterunser - „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen" das zweite Gebot. Auch hier geht es im Grunde um dieselbe Sache. Einmal positiv formuliert, einmal negativ. Einmal als Wunsch, das andere Mal als Aufforderung. Aber beide Male geht es um die Ehrfurcht vor Gott. Gott verdient Achtung, Respekt und Ehrfurcht. Diese Achtung entzieht man Gott nicht nur, wenn man seinen Namen zum Schimpfen und Fluchen missbraucht.
Man tut es auch dann, wenn man zum Beispiel unaufrichtig betet. Wenn man viele Worte macht und im Herzen doch nicht dabei ist. Wenn man sich als Beter vor anderen produziert. Oder wenn man sich mit Bitten an Gott wendet, die man eigentlich gar nicht guten Gewissens aussprechen kann. „Bitte, lieber Gott, zahl's meinem Lieblingsfeind doch mal so richtig heim..." Das Vaterunser ist Jesu Antwort auf die Frage, wie wir beten sollen. [s. Lk 11] Dazu gehört die Bitte: „Geheiligt werde dein Name." In aller Welt, aber eben auch durch mich.
Es ist verblüffend, wie recht das Kindergottesdienstkind gehabt hat. Wie sehr sich die Worte von Moses und Jesus ähneln. Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass es beides Mal die Worte Gottes sind. Gott redete alle diese Worte, so heißt es im 2. Buch Mose. Und auch im Gebet Jesu hören wir Gottes Stimme.
„Dein Reich komme." So heißt es weiter. Für mich ist das die Bitte, die alles einschließt, was nicht ausdrücklich zur Sprache kommt. Das ist ja Einiges: Gott, ich bitte dich darum, dass meine Schmerzen endlich nachlassen. Gott, bitte lass Melanie endlich aus ihrer Traurigkeit herausfinden. Bitte gib, dass Justine und ihre Familie ihre Ernte endlich zu gerechten Bedingungen verkaufen können. All das kann „Dein Reich komme" bedeuten.
Wäre das nicht ein großartiges Fest? Wenn endlich einmal Gerechtigkeit herrscht und das Leiden zum Ende kommt? Ein rauschendes Freudenfest Gottes! Ein himmlischer Feiertag. Du sollst den Feiertag heiligen - so lautet das dritte Gebot.

III. Zwischen dem dritten und dem vierten Gebot wechselt die Perspektive. Bis dahin war von der Welt Gottes die Rede: Dass wir uns neben dem einen Gott an keine anderen hängen sollen, dass sein Name nicht missbraucht und seine Feiertage geheiligt werden soll. Dann jedoch wendet sich der Blick auf unsere ganz menschliche Welt: auf die Eltern, die Eheleute; auf den Respekt vor dem Leben, vor der Wahrheit und vor dem Eigentum.
Auch im Vaterunser gibt es diesen Wechsel, und zwar zwischen der vierten und der fünften Aussage: Dein Wille geschehe, wie im Himmel - so auf Erden. Eigentlich ist das ja eine Bitte, denn beides gehört zusammen. Himmel und Erde. Was nützt die himmlische Gerechtigkeit, wenn von ihr auf Erden nichts zu spüren ist? Und was nützen irdische Paradiese, wenn sie den Blick auf den Himmel verstellen?
Vielleicht ist dies die wichtigste Bitte. Mit so vielem kann ich mich an Gott wenden: mit meinen Wünschen und Ängsten. Ich darf im Gebet vor Gott bringen, was mich bewegt. Und ich darf auch sagen, was in meinen Augen das Beste wäre. Aber es ist wichtig, dass ich dabei meine Grenzen nicht vergesse. Jesus selbst hat es gesagt, als er in Gethsemane mit Gott gerungen hat: „Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Das ist die Klammer, die jedes rechte Gebet umfasst. Für sie gilt, was vor dem Vaterunser steht: Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

IV. Der nächste, der sechste Satz des Vaterunser hat zwei Seiten: „Unser tägliches Brot gib uns heute." Das heißt natürlich: Bewahre uns vor dem Hunger. Gib uns, was wir zum Leben brauchen. Mir und den anderen Menschen. Das heißt aber auch: Heute nur das, was wir für diesen Tag brauchen. Das Grübeln über die Zukunft macht nicht satt, sondern bringt nur Magengeschwüre.
Wurzeln nicht die meisten Übel darin, dass gerade diese Selbstbeschränkung nicht gelingt? Ständig bin ich damit beschäftigt, meine Zukunft zu sichern: Vom Tiefgekühlten über die Urlaubsbuchung am besten schon fürs nächste Jahr bis zur zusätzlichen privaten Rentenversicherung.
Haben nicht alle Gebote der zweiten Hälfte damit zu tun? Du sollst nicht begehren. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch reden. Bis zum: Du sollst nicht töten. Alles, was hier verboten wird, wurzelt in einer tiefen Unzufriedenheit. Darin, mehr zu wollen als das, was eigentlich nötig ist. Ich glaube, wer zufrieden wäre mit dem täglich Nötigen, der würde all diese Gebote kaum brauchen.
Aber das gelingt natürlich nur selten. Und deshalb folgt die Bitte um Vergebung: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Wieder sind Himmel und Erde miteinander verbunden. Dass Gott uns vergibt und dass Menschen untereinander vergeben - beides gehört zusammen.
Das ist vielleicht der missverständlichste Teil des Vaterunser. Manche haben darin eine Vorbedingung gehört: Nur wer selbst vergibt, dem vergibt auch Gott. Oder: Gott vergibt in dem Maße, wie auch wir es tun. Eben: Vergib uns, wie auch wir vergeben. Aber wie sollte das zusammenpassen mit der Anrede: „Vater unser"? Der, dem wir alles verdanken, sollte uns nur vergeben können, wenn wir selbst vergeben? Wir sagen: „Dein Wille geschehe." Aber er soll nur geschehen, wenn wir eine Vorbedingung leisten?
Genau andersherum ist es: Gott ist ein Vater, eine Mutter, die uns von Herzen liebt. Diese Liebe verändert einen Menschen. Verändert ihn so, dass er vergeben kann. Die Bitte des Vaterunser sagt: So, wie wir von deiner Liebe erfüllt sind und deshalb anderen Menschen vergeben können - so vergib auch du unsere Schuld.
Und damit es nicht immer nur bei der nachträglichen Bitte um die Vergebung bleibt, deshalb der Abschluss: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

V. So gehen die Gedanken, wenn ein Kind eine erstaunliche Antwort gibt. Wenn man darauf gestoßen wird, die Dinge unter einem anderen Blickwinkel zu sehen. Natürlich sind die Zehn Gebote verbunden mit dem Namen des Mose. Und sie bleiben es auch, egal, wer sie vernimmt: Juden, Christen oder auch Menschen jeder anderen Weltanschauung. Natürlich werden sie auch nicht aufgehoben durch das Vaterunser. Aber dieses Gebet rückt sie in ein anderes Licht.
Das hat mit dem zu tun, was schon beim ersten Gebot zur Sprache kam: Es ist etwas anderes, ob ich eine Forderung höre, oder ob es um ihre Erfüllung geht. Wer das Vaterunser spricht, erfüllt damit das erste Gebot.
Aus diesem Grund verändert sich der Ton. Jesus sagt hier nicht „Du sollst" und „Du sollst nicht". Er fordert uns auf, dass wir uns vertrauensvoll und bittend an Gott wenden sollen. An unseren Vater, der weiß, wessen wir bedürfen, noch bevor wir ihn bitten. Amen.



Pfarrer Dr. Sven Keppler
Lünen
E-Mail: sven.keppler@kirchengemeinde-luenen.de

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