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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Estomihi, 14.02.2010

Predigt zu Lukas 18:31-43, verfasst von Peter Lind

Wir wollen mit einem kleinen Rätsel beginnen: Hier ist ein Buch. Es ist in alle Sprachen der Welt übersetzt, und Millionen von Exemplaren sind verkauft worden. Es hat, seit es geschrieben wurde, ununterbrochen auf den Bestsellerlisten gestanden. Es steckt voller kryptischer, rätselhafter Aussagen und Kodes, die für den Leser im Laufe der Lektüre teilweise offenbart werden, aber auch wenn man die letzte Seite gelesen hat, bleiben immer noch verborgene Mysterien und Geheimnisse übrig. Es ist spannend, und wenn wirklich wahr sein sollte, was darin steht, dann stellt es die Wirklichkeit, die wir kennen, völlig auf den Kopf. Unzählige Vorträge sind darüber gehalten worden, unzählige Kurse und Studienkreise sind darüber veranstaltet worden. Und schließlich gibt es viele Menschen, die der Meinung sind, es sei ein miserables Buch, und es sei an sich schon ein Rätsel, dass dieses Buch noch immer so populär ist.

            Ja, die Antwort könnte in der Tat sein: die Bibel. Aber die meisten haben wohl doch längst erraten, dass hier von dem Roman des amerikanischen Schriftstellers Dan Brown die Rede ist, dessen englischer Titel lautet "The Da Vinci Code" (deutsche Übersetzung: Sakrileg). Das Faszinierende an dem Buch ist natürlich, dass Dan Brown eine Reihe von berühmten Kunstwerken nimmt und im Roman die Behauptung aufstellt, sie enthielten einige verborgene Geheimnisse, die nur die Eingeweihten durchschauen könnten. Zusammengenommen sollen diese Geheimnisse Dan Brown zufolge eine ganz andere Wahrheit über Jesus erzählen, als die Bibel und die Kirche sie erzählen, und neben den ungeheuer ausgeklügelten Kodes war es gewiss diese Kritik an der Kirche, die dem Roman den großen Erfolg beschert hat. Religionskritik ist allzeit guter Stoff - in Romanen wie in Zeitungen, und eigentlich ist dieser Roman so verletzend gegenüber dem Christentum, dass sich manche Menschen dadurch möglicherweise so gekränkt fühlen, dass sie geradezu auf die Idee kommen könnten, der amerikanische Präsident hättte sich seinerzeit allen Christen gegenüber dafür entschuldigen sollen! - Aber das wäre denn doch wohl zu töricht!

            Wie das "Sakrileg" behauptet, die verschiedenen Kunstwerke von Mona Lisa bis hin zu Newtons Grab enthielten verborgene Kodes, um die Wahrheit zu verstehen, ebenso behaupten die Evangelien, dass Jesus von Nazareth ein Kode ist, um die Wahrheit über Gott zu verstehen. Und was für ein Kode! Bei allem Respekt vor den zahlreichen ausgeklügelten Kodes von Dan Brown, Jesus übertrifft als Kode die phantasievollsten und kryptischsten Erfindungen eines jeden Romanciers: als ein kleines neugeborenes Kind in einem Stall in der Weihnacht; als ein Mensch, der mit den Geringsten in der Gesellschaft Umgang pflegt, mit den Armen, den Kranken, den "Verkehrten"; als ein Mensch, der verspottet und misshandelt wird, der gekreuzigt wird, stirbt und begraben wird; als ein Mensch, der am dritten Tag aus dem Grab aufersteht.

            Wenn man den Kode nicht entschlüsseln und das rätselhafte Geheimnis nicht verstehen kann, dann sieht man in den Berichten der Evangelien von Jesus von Nazareth nichts anderes als eine sonderbare, tragische Geschichte von einem Menschen, der entweder an Größenwahrnsinn litt oder in seinem Glauben an die Macht des Guten in der Welt so unglaublich naiv war - und deshalb starb - eine Tatsache, mit der seine Anhänger ihre Schwierigkeiten hatten.

            Wenn man nun aber den Anweisungen der Evangelisten folgt und mit ihrer Hilfe den Kode entschlüsselt, dann wird das phantastischste Geheimnis offenbar: dieser Mensch, Jesus von Nazareth, ist Gottes Sohn! Er ist der Erlöser der Welt! Er ist der Sohn Davids, der Messias - der Christus! Er ist die Wahrheit von Gott, an die wir glauben und auf die wir hoffen können, - die Wahrheit, die wir verstehen sollen - denn das erwarten wir wohl, wenn wir den richtigen Schlüssel in die Hand bekommen und das Tor des Rätsels zur Wahrheit öffnen; - dass wir verstehen - dass wir vollständig kennen.

            Jedenfalls erwarteten dies auch die Jünger, als sie Jesus in Palästina folgten. Und dennoch hören wir immer wieder, dass sie, obwohl sie den ganzen Kode kennen, die volle Wahrheit nicht verstehen, sondern nur Bruchteile davon begriffen haben.

            Sie gehören doch eigentlich zu dem engsten Kreis, der in das Geheimnis des Kodes eingeweiht wird. Wie hier in der heutigen Erzählung, wo Jesus sie bei Seite nimmt und ihnen erzählt, was geschehen wird, wenn sie nach Jerusalem kommen, um Ostern zu feiern; dass er verspottet, misshandelt, gegeißelt und getötet werden wird und dass er am dritten Tag wieder auferstehen wird. Deshalb müssten sie es doch, wenn überhaupt jemand, verstehen, aber der Evangelist Lukas betont in dreifacher Formulierung, dass es nicht so war; "sie begriffen nichts davon; der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war." Auf diese Weise hat Lukas jedenfalls dafür gesorgt, dass wir verstanden haben, dass sie es nicht verstanden haben! Denn obwohl sie den richtigen Kode bekommen haben - und es war ja nicht das erste Mal, dass Jesus ihnen erzählt, dass er leiden, sterben und wieder auferstehen wird -, so können sie dennoch das Geheimnis nicht aufschließen.       

            Ein bisschen ist es wie mit all unseren modernen, technologischen Apparaten, für die man auch eine Geheimzahl (einen Kode) braucht, damit sie funktionieren. Wem ist es nicht schon einmal vorgekommen, dass er mit einem Handy dastand oder mit einer Kreditkarte an einem Geldautomaten, und das dumme Ding funktioniert nicht, obwohl man die richtigen Geheimzahl (den richtigen Kode) kennt. Äußerst frustrierend ist das, und es wird auch nicht dadurch besser, dass man oft selbst schuld ist. Ich habe selbst so manches Mal in einem Supermarkt an der Kasse gestanden und meine Geheimzahl eingegeben - und dann geschieht überhaupt nichts! - bis mich die Kassiererin freundlich und mit nachsichtigem Lächeln darauf aufmerksam macht: "Sie müssen noch bestätigen!" Tatsächlich steht das ja auch mit großen Buchstaben auf einem der Knöpfe, und obwohl ich es ja gesehen habe, habe ich es doch nicht eingesehen - ich habe es nicht verstanden. Man findet das dumm; aber trotzdem wage ich zu behaupten, dass es nicht genügt, um zu beweisen, dass ich dumm bin.

            Und die Jünger sind es also auch nicht, obwohl sie im übrigen sowohl den Kode über Jesus Christus durch die Leidensankündigungen kennen gelernt und mit ihren eigenen Augen etliche Zeichen und Wunder gesehen haben, die die Richtigkeit des Kode bestätigen. Hier sehen sie obendrein noch ein Wunder, als Jesus den Blinden sehend macht, und unmittelbar erscheint der starke Glaube des Blinden an Jesus wie ein Gegensatz zu dem schwachen Glauben und Auffassungsvermögen der Jünger. Aber das ist nicht die Pointe der Geschichte; vielmehr sollen die beiden kleinen Geschichten, hier wo Jesus sich auf den Weg nach Jerusalem und zum Osterfest macht, einander ergänzen. Der Blinde ruft Jesus an, weil er daran glaubt, dass Jesus der Davidssohn ist, der Messias, der Gesalbte, Christus, und die Jünger haben sich doch entschlossen, Jesus zu folgen, weil sie auch daran glauben, dass er der Christus ist. Der Unterschied zwischen dem Blinden und den Jüngern besteht darin, dass der Blinde in seinem Glauben und seiner Not Jesus nur um Hilfe und Barmherzigkeit anruft, während die Jünger ihren Glauben nicht mit dem vereinen können, was Jesus zu ihnen sagt.

            Um noch einmal auf das Beispiel mit der Kreditkarte zurückzukommen: die Jünger reagieren wie wir, wenn wir immer dann, wenn wir unsere PIN eingeben sollen, erst einmal eine komplette und leicht verständliche, bis ins Kleinste gehende Erklärung für die Funktionsweise unserer PIN verlangen würden. Der Blinde dagegen akzepiert den Kode bedingungslos und ohne Fragen zu stellen - als ein Zusage, die er gebrauchen kann, während die Jünger den Kode eher als eine Aussage nehmen, die sie einzuschätzen hätten.

            Was tun wir eigentlich?

            Wir sind ach so klug; wir können die Fehler der Jünger nur allzu leicht durchschauen, und im Übrigen kennen wir ja den weiteren Verlauf der Geschichte. So wäre es denn auch irgendwie ganz in Ordnung, wenn wir im Stande wären, Jesus mit derselben unkritischen Vertrautheit als Kode zu benutzen, mit der wir eine Geheimzahl benutzen; aber wir müssen gewiss erkennen, dass wir trotz allem am ehesten den Jüngern gleichen; - wir kennen den Kode zu Gottes Wahrheit; trotzdem neigen wir nur allzu oft dazu, ihn nicht zu verwenden, weil wir mit unserer Vernunft und Erfahrung nicht verstehen können, wie er funktioniert. Erst wenn wir so tief fallen - wie der blinde Mann in der Nähe von Jericho -, wo von unserem Glauben nicht mehr übrig ist als der Anruf und die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit, erst dann gebrauchen wir ihn in unserer Not und Verzweiflung. Und zwar bestimmt nicht, weil man in der Situation besser verstünde; aber an dem extremen Ort ist man im Stande, sich der Tatsache zu beugen, dass man nicht versteht - und Gott anzurufen.

            Denn wir können nicht verstehen, dass Gottes Sohn als ein Mensch geboren wurde; wir können nicht begreifen, dass er um unseretwillen leiden und am Kreuz sterben musste und dass er am Ostermorgen wieder aus dem Grab auferstand; - wir sehen es, wir hören es, aber wir können es nicht verstehen - und sollen wir auch gar nicht verstehen. Es ist ein Rätsel, "das Rätsel des Kreuzes". Es ist die Liebe Gottes, das Größte, das nie aufhört, und das uns zwar stückweise offenbart ist im Evangelium von Jesus Christus, das wir aber hier in diesem Leben nicht vollauf verstehen können.

            Wir können die Worte lesen und hören; wir können bis an den Punkt gedrängt werden, wo wir nichts anderes mehr tun können als diese mächtigen Worte vom Sohn Gottes zu rufen, und wir können ihre wunderbare Macht fühlen: aber ihre volle Bedeutung wird uns verborgen bleiben - wie das unfassbare Rätsel, das die Liebe allzeit sein wird - mit unendlicher Gnade und Barmherzigkeit von Gott angenommen zu werden.

Amen



Pastor Peter Lind
Middelfart (Dänemark)
E-Mail: pli@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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