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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Septuagesimä, 04.02.2007

Predigt zu Matthäus 9:9-13, verfasst von Matthias Wolfes

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum ißt euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): «Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.» Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Liebe Gemeinde!

?Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken!? Jesu Ausspruch leuchtet unmittelbar ein; er bedarf keiner weiteren Erklärung. Durch ihn wird die ganze Erzählung von der Begegnung mit dem Zöllner und dem anschließenden Geschehen ins Licht gesetzt.

Es ist der Kranke und nicht der Gesunde, der des Arztes und seiner fachkundigen Hilfe bedarf. Jedem steht ohne weiteres vor Augen, wie solche Bedürftigkeit aussieht. Wohl kaum einer wird nicht schon von Zahnschmerzen getrieben zum Arztbesuch gezwungen worden sein. Brechen wir uns ein Bein, renken uns den Arm aus oder fallen vom Baum, dann soll der Arzt trösten, helfen und retten. Und erst recht, wer eine schwere Krankheit zu durchleiden hatte, der weiß genau, mit welcher Inbrunst man auf die Mediziner hofft, auf ihre Kenntnis dessen, was zu tun ist, damit wir Gesundheit und Lebensfreude wiedererlangen.

In der Krankheit wird am deutlichsten, wie hilfsbedürftig der Mensch sein kann. Die Verletzlichkeit, ja ich möchte sagen: die Zerbrechlichkeit unseres ganzen Wesens wird in den Momenten des Schmerzes schlagartig sichtbar. Manchmal denkt man sich: Der Mensch ist doch ein stabiles Gebilde, und zu Zeiten, nämlich eben in Phasen der Gesundheit, ist das richtig; aber wie anfällig können wir auch sein, und in welch kurzer Zeit kann der kräftigste Mann sich in ein kaum mehr erkennbares Abbild seines früheren Selbst verwandeln.

Nun handelt es sich in der Erzählung, mit der wir es heute zu tun haben, an sich gar nicht um einen kranken Menschen. Jesus begegnet einem Zöllner, und dieser Zöllner wird einfach als Zöllner geschildert. Er versieht sein Amt ? ein in der Öffentlichkeit verhaßtes Amt, aber er versieht es eben. Wie es scheint, gibt es gar keinen Anlaß, auf das Thema Krankheit zu sprechen zu kommen. Selbst daß weitere Zöllner hinzukommen, muß noch nicht darauf hinauslaufen. Indem jedoch diese Steuereinnehmer mit Personen zusammengestellt werden, die nur ganz allgemein ?Sünder? genannt werden, ist natürlich doch die Richtung vorgegeben. ?Krank sein? bedeutet im Sinne der Erzählung: in der Verblendung leben, sich nicht selbst erkennen, nicht man selbst sein.

Ich möchte heute die pharisäische Kritik am Verhalten Jesu nicht erörtern. Mir geht es um die Begegnung Jesu mit dem Zöllner. Bemerkenswert finde ich daß die Initiative ganz von Jesus ausgeht. Die Aufgabe des Matthäus besteht darin, umgehend, ohne Zaudern und Zögern zu folgen.

Aber auch dies ist zu beachten: Matthäus wird, als Jesus ihn sah und ansprach, schon einiges von ihm gehört haben, denn in den Abschnitten zuvor ist die Rede von mehreren Heilungswundern sowie der Sturmstillung auf dem See Genezareth. Alle Taten Jesu erwecken Staunen, Furcht und das Lob der Menge. Die Kunde von ihnen ging aus ins ganze Land.

Der Zöllner war also nicht ganz unvorbereitet. Was ist es nun, das sich in der Begegnung ereignet? E ine der wichtigsten Unterscheidungen in allem Denken und folglich auch in jeder Sprache ist die zwischen Ich und Du. Lassen Sie mich einen Gedanken zu diesem Thema entwickeln. Ich glaube, daß wir von hier aus sowohl unsere heutige Erzählung verstehen können wie auch etwas über Jesus insgesamt.

Das Du ist nicht ein anderer Ausdruck für das Ich. Im anderen Menschen erblicke ich nicht mich selbst, sondern eben den Anderen. Ich sehe ihn nicht einfach als einen Er oder Jener, einen fremden, mir gleichgültigen, sondern dieser andere steht zu mir in Beziehung. Denn ich bin es, der ihn sieht und von dem er gesehen wird. Als ein Er würde der Andere mir verschleiert, neutral bleiben, es gäbe keine Beziehung.

Anders aber bei der Begegnung: Der Andere wird zum Du; ich erkenne ihn als Du. Erst indem dies geschieht, indem ich im Anderen das Du erkenne, erblicke auch ich selbst mich. Erst das Du, die Entdeckung des Du, vermag es, mich selbst auch zum Bewußtsein meines Ich zu bringen. Diese wahrhafte Erkenntnis meiner selbst, ist das Wunder, das sich bei einer Begegnung einstellen kann.

Genau dieses Wunder ereignet sich in der Erzählung des Evangelisten. Ich meine sogar, daß wir hierin auch die wahre Eigenschaft Jesu erblicken können. Die Begegnung mit ihm ist geradezu die ideale Begegnung. Für den Christen ist sie die Begegnung aller Begegnungen.

Daß Jesus für sich selbst das Bild vom Arzt heranzieht, sagt: Ich will für Dich zum Du werden, in dem du dich selbst erkennst. Erinnern Sie sich doch bitte einmal an andere Erzählungen dieser Art. Es gibt kein einziges Zusammentreffen mit Jesus, bei der ihm der andere gleichgültig geblieben wäre. In jedem einzelnen Fall kommt es zur Begegnung, ob nun der Zwölfjährige im Tempel die Gelehrten trifft, ob es die Ehebrecherin und ihre Ankläger sind, die Soldaten im Garten Gethsemane (Lk 22,51), Pontius Pilatus oder eben unser heutiger Zöllner Matthäus. Tritt er jemandem gegenüber, so sieht Jesus dessen Leiden und dessen Glück; er erkennt ihn. Keiner tritt Jesus als ein Er gegenüber. Zusammentreffen mit ihm sind Begegnungen.

Ich meine, daß hierin Jesu Wesen erkennbar wird, ja sogar der Sinn des christlichen Glaubens überhaupt. Jesus ist der an und für sich solidarische Mensch. In ihm hat das Ideal Leben und Wirklichkeit. Sein ganzes Wirken, alle seine Worte und Reden, sein Leben und Streben sind auf Ermutigung hin ausgelegt. Ermutigung ist überhaupt das allerbeste Wort, mit dem man seine Lehre und Taten übersetzen kann. In unserer Erzählung betrifft dies den Zöllner und jene anderen Randfiguren, die als Tafelgenossen Jesu erwähnt werden. Sie erfahren Jesu Ermutigung und seine Solidarität.

Der christliche Glaube ist nicht nur optimistisch. Es geht nicht immer nur um den treuen Gott, seine unverlierbare Liebe und die Freude an ihm und seiner guten Schöpfung. Wer so spricht, der bagatellisiert das Christentum. Wir wollen nicht von einer Höhe aus sprechen, in der allem Leid, aller Verlorenheit gegenüber man gleichmütig bleibt, weil doch alles aufgehoben ist im unendlichen Heilswillen Gottes. Es geht vielmehr um konkrete Zuwendung, um Hilfestellung. Sie gilt allen, denn den neutralen Anderen, den verschleierten Fremden gibt es hier nicht. Christentum heißt Bejahung, Entwicklung, Erhöhung des menschlichen Daseins.

Deswegen führt Jesus aus dem Propheten Hosea an, daß es Gott nicht um Opfer gehe, sondern um Barmherzigkeit. Nachfolge Jesu heißt also auch: offen für die Begegnung zu sein. Nachfolge heißt, sich gegenüber dem anderen freimütig, wahrhaftig, ohne Hintergedanken zu verhalten. Bei uns ist es so, daß wir die Tage meist damit verbringen, eigene Ziele zu verfolgen. Das ist wohl anders nicht möglich und hat auch seinen Sinn. Aber nicht sollen wir dabei unsere Umgebung als Instrumentensammlung betrachten, aus der wir uns das suchen, was gerade paßt, und wobei Mitarbeiter, Nachbarn, Bekannte, ja sogar die Familienangehörigen ihre Rollen in unseren Plänen zugewiesen bekommen.

Jesu Begegnung mit dem Zöllner ist eine Grenzüberwindung. Und sie macht auch klar: Alles, was wir Gott geben wollen, hat seinen Wert nur dann, wenn es aus einem liebevollen, zugewandten und menschenfreundlichen Herzen stammt, wenn es ?barmherzig? ist. Offenheit, Gottvertrauen und die ehrliche Bilanz über unsere Grenzen ? das sind die Schuhe, die man trägt, wenn man mit Gott unterwegs ist.

Amen.

Dr. Dr. Matthias Wolfes
Jesus Christus-Kirchengemeinde Berlin-Kreuzberg
E-Mail: wolfes@zedat.fu-berlin.de

Bemerkung:
Herangezogene Literatur:

Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Zweiter Teilband: Mt 8-17 (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band I/2), Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1990;

Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge, München 1937 (Neuausgabe: Dietrich Bonhoeffer Werke. Vierter Band, München 1989).


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