Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reminiszere, 28.02.2010

Predigt zu Römer 5:1-11, verfasst von Bernd Giehl

Vor ein paar Tagen habe ich die alte Dame aus meiner früheren Gemeinde angerufen. Sie hatte mir auf den Anrufbeantworter gesprochen, ich solle mich wieder einmal melden. Sie wolle wissen, wie es mir geht. Wir kennen uns nun schon seit fast zwanzig Jahren. Lange Jahre war sie Mitglied im Kirchenvorstand meiner früheren Gemeinde. Bestimmt zehn Jahre lang haben wir gemeinsam in dem kleinen Kirchenchor gesungen, den es dort gab. In all den Jahren hat sie zu mir gestanden, auch als im Kirchenvorstand ein kalter Wind wehte. Auch später noch, als sie schon lange aus dem Kirchenvorstand ausgeschieden war, war sie immer noch mit mir solidarisch.  Die Verbindung ist nie abgerissen, auch nicht, nachdem ich vor fast zwei Jahren meine alte Gemeinde, in der ich 16 Jahre lang Pfarrer war, verlassen hatte. Hin und wieder ruft sie an und erzählt von den Menschen, die ich kenne und schätze. Aber was sie erzählt, stimmt mich nicht fröhlich. Es geht ihr nicht gut - schon lange nicht mehr. Womöglich schon seit dem Tod ihrer Tochter nicht mehr, die vor etwa acht Jahren an Krebs starb. Über diesen Tod ist sie nur schwer hinweggekommen. Er hat sie geschwächt - auch körperlich. Dabei hält sie sich immer noch tapfer. Aber ich habe den Eindruck, dass manche Krankheiten bei ihr länger dauern als bei anderen Menschen ihres Alters.

Und so zögere ich öfters, wenn ich das Gefühl habe, ich müsse sie wieder einmal anrufen. Natürlich möchte ich wissen, wie es meiner alten Gemeinde geht. Aber zugleich habe ich auch Angst vor dem, was sie mir erzählt. Das Alter geht ja an keinem spurlos vorbei, aber dennoch tut es weh zu hören, über was sie alles klagt. Wenn sie mir davon erzählt, fühle ich mich meist furchtbar hilflos. Ich möchte sie so gern trösten, weil ich sie ja wirklich gern habe und ihr wünsche, es möge ihr gut gehen,. Aber meist geht es ihr eben nicht gut.

*

Ein banales Beispiel? Mag schon sein. Ich hätte ja auch von wesentlich größerem Leid erzählen können. Ich hätte vom Leid der Menschen in Haiti sprechen können, wo viele immer noch kein Dach über dem Kopf haben. Oder ich hätte auch an die einfachen Menschen in Afghanistan denken können, die seit dreißig Jahren nichts als Krieg und Gewalt kennen und die sich ein Leben ohne Krieg schon überhaupt nicht mehr vorstellen können. Aber ich habe die alte Frau gewählt, die ich schon so lange kenne und die mir im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen ist. Vielleicht ist ihr Leid ja gar nicht so besonders  groß. Sie hat ja immer noch ein paar Menschen, die nach ihr sehen. Sie hat ihre Schwester, ihre Enkel, die eine oder andere Bekannte. Sie kann noch laufen, einkaufen, für sich selbst sorgen. Es gibt andere in ihrem Alter, die sind schlimmer dran. Da sind auch durchaus Menschen dabei, mit denen sie früher einmal befreundet war.  Dann erzählt sie mir von der einen oder anderen, die mittlerweile dement geworden ist, und hinter ihren Worten spüre ich die Sorge, dass es ihr vielleicht schon bald auch so ergeht. Und dann frage ich mich, was ich ihr sagen soll. Am liebsten würde ich einfach den Arm um sie legen und sie spüren lassen, wie sehr ich sie mag. Aber auch das geht nicht so einfach. Zum einen, weil ich es noch nie getan habe und zum anderen, weil ich nicht mehr an dem Ort lebe, wo sie wohnt.

Und manchmal frage ich mich dann, was die Pfarrer früherer Generationen zu Menschen gesagt haben, die ihnen von ihren Sorgen erzählt haben. Ob sie wohl mit einem Bibelvers geantwortet haben? Vielleicht mit „All eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch?" Oder womöglich mit einem Vers aus dem Kapitel, über das wir heute zu predigen haben? Haben sie vielleicht gesagt: „Wir rühmen uns aber der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist."

Vielleicht haben sie ja so etwas ähnliches gesagt. Und die Menschen haben genickt und gesagt: „Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer" und womöglich haben sie ja auch ein fröhliches Gesicht dazu gemacht, weil man es mit dem Herrn Pfarrer ja doch nicht verscherzen will, aber innerlich haben sie wahrscheinlich aufgeseufzt, weil die  Sätze des Herrn Pfarrer ihnen wie eine Treppe vorkamen, eine Treppe mit vielen Stufen von Bedrängnis zu Geduld, von Geduld zu Bewährung, von Bewährung zu Hoffnung und dann ist das Ende der Treppe immer noch nicht in Sicht, denn die Hoffnung kann ja wohl noch nicht das Ende sein, weil nach der Hoffnung ja immer noch etwas kommen muss, aber dann waren sie vom langen Treppensteigen schon so müde, dass sie vielleicht gedacht haben: Der Herr Pfarrer ist ein gelehrter Herr; der wird's schon wissen und haben das Ganze auf sich beruhen lassen. Und der Herr Pfarrer ist womöglich nach Hause gegangen mit dem beruhigenden Gefühl, wie viel Gutes er heute wieder für die Mühseligen und Beladenen getan hat. Und dann hat er sich von seiner Frau den ersten Gang des Mittagessens servieren lassen

*

„Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse ..." Der Satz beschäftigt mich. Gern würde ich ihn auch so sagen können. Warum fällt mir das so schwer? Die Antwort könnte in einer kleinen Geschichte liegen, die ich dieser Tage in der „Zeit" las. Es war ein Artikel von Cees Nooteboom, einem ziemlich berühmten Schriftsteller aus den Niederlanden, in dem der über den Begriff der Kultur nachdachte. Cees Nooteboom erzählt also von einem Spaziergang am Bodensee, wo er überall den Wegkreuzen begegnet ist, die dort noch hängen. Und dann erzählt er, wie er einmal einem Japaner erklären muss, was diese Kreuze mit dem daran hängenden Corpus, denn nun bedeuten sollen. Er muss also sozusagen bei Adam und Eva beginnen, muss bei dem Gott anfangen, der die Welt geschaffen hat, dann von den Menschen und ihrer Sünde erzählen um schließlich bei Jesus Christus zu landen, der als Mensch auf die Erde  kam, obwohl er doch Gott war, und schließlich ans Kreuz ging. Der Japaner, der aus einer ganz anderen Kultur stammt, habe nur mit dem Kopf geschüttelt und ziemlich mitleidig geguckt.

Aber natürlich hat Nooteboom das nicht ohne Hintergedanken erzählt. Mehr und mehr käme unsere westliche Gesellschaft in die Situation dieses Japaners, der überall Zeichen sieht, die er nicht versteht, weil er die Geschichten dazu nicht kennt. Durch die Globalisierung würden wir mit einer ungeheuren Fülle von mehr oder weniger banalen Informationen zugeschüttet, die wir „Kultur" nennen. Nur die wirkliche Kultur, das Erbe von Jahrhunderten würden wir immer weniger verstehen. Ungezählte Kunstwerke, Bachkantaten oder literarische Werke aus vergangenen Jahrhunderten würden wir - und natürlich erst recht die Generationen, die uns folgen - nicht mehr verstehen, weil uns das Hintergrundwissen fehle. Wer die Geschichten der Bibel nicht mehr kennt, kann viele Bildwerke der Renaissance oder des Barock nicht mehr verstehen, angefangen beim Isenheimer Altar bis hin zu Joyce grandiosem Roman „Ulysses", der zwar nicht die Kenntnis der christlichen Tradition wohl aber die von Homers Odyssee voraussetzt. Alles Dinge, die von „Germanys next Topmodel" oder „Deutschland sucht den Superstar" allmählich ersetzt würden.

Nun kann man das sicher pessimistisch finden, aber ich stimme Cees Nooteboom zu. Allerdings geht es mir nicht um den Sachverhalt als solchen, mit dem ich in meiner Arbeit als Pfarrer fast täglich konfrontiert bin, sondern um ein Problem, das noch etwas tiefer liegt. Vorhin habe ich mir den Pfarrer früherer Zeiten vorgestellt, der für alles, was man ihm erzählte, einen Bibelspruch zur Hand hatte. Diese kleine Beschreibung klang wie eine Karikatur, und so war sie auch gemeint. Und dennoch frage ich mich, ob ich wirklich das Recht habe, so herablassend auf ihn zu schauen. Er zumindest lebte noch viel selbstverständlicher in seinem Glauben als wir das heute tun. Er musste nicht von Mal zu Mal mühsam eine Brücke zwischen dem Text und der Situation suchen. Für ihn war das ja womöglich noch gelebte Wirklichkeit, was Paulus da beschreibt, wenn er von der Bedrängnis spricht, die Geduld hervorbringt und die wiederum Bewährung, aus der dann die Hoffnung entsteht. So haben die Generationen vor uns ja tatsächlich noch gedacht. Ihr Leben war noch viel mehr auf das Jenseits ausgerichtet und damit auf die Freude, die unweigerlich dem Leiden folgen würde. Paul Gerhardt fällt mir ein, der Dichter so vieler schöner Choräle, darunter des „Befiehl du deine Wege" oder von „Geh aus mein Herz und suche Freud‘. Ob er wohl viel Grund zur Freude in seinem Leben gehabt hat? 11 Jahre war er alt, als der Dreißigjährige Krieg ausbrach. Sicher hat er nicht dreißig Jahre lang ununterbrochen Krieg erlebt, aber das Elend dieser Jahre dürfte ihm schon zu schaffen gemacht haben. Aber auch nach dem Krieg hatte er es nicht einfach. Sicher lag das auch an seiner eigenen Person, genauer gesagt an seiner Starrköpfigkeit, mit der er als überzeugter Lutheraner an seiner Überzeugung festhielt. Der Kurfürst von Brandenburg war reformiert geworden und wollte dem reformierten Glauben Geltung in seinem Gebiet verschaffen. Gerhardt zog dagegen zu Felde, verweigerte 1666 den Amtseid auf die neue Verfassung, die Reformierten und Lutheranern Gleichberechtigung verschaffen sollte  und wurde deswegen 1667 seines Amtes enthoben. Zwei Jahre später fand er noch einmal eine Stelle im kursächsischen Lübben im Spreewald, wo er 1676 starb. Aber all diese Erfahrungen ließen ihn nicht an seinem Glauben irre werden.

Nun ist Paul Gerhardt, wenn man sich sein Leben näher ansieht, sicher kein einfacher Charakter. Seine religiöse Intoleranz macht es schwer, sich mit ihm zu identifizieren. Andererseits hat aber sein Glaube und seine Willensstärke schon etwas Vorbildhaftes. Diesen intensiven Glauben, der aus all seinen Chorälen spricht, die wünsche ich mir manchmal auch. Und auch die Sprache, die er für seine eigenen Erfahrungen gefunden hat.

*

Allmählich komme ich nun meiner Erfahrung auf die Spur. Ob es die Sprache ist, die uns fehlt? Die Sprache, die uns hinausträgt über die Ermüdung durch den Alltag? Die uns auch einmal einen weiteren Horizont schenkt? Das vermutete ja schon Bonhoeffer. Dass die religiöse Sprache seiner Gegenwart, also der Jahre des Zweiten Weltkriegs, verbraucht sei. Ob es seither besser geworden ist? Manchmal bezweifle ich das. Andere werden dagegenhalten, es sei der Glaube, der uns fehle.

Aber wie auch immer. Womöglich ist es so. Dass unsere Sprache arm geworden ist. Dass sie fadenscheinige Stellen bekommen hat. Aber können wir sie deshalb aufgeben? Natürlich können wir das nicht. Sie verbindet uns ja mit dem Glauben unserer Väter und Vorväter. Und manchmal weitet sie uns ja auch den Blick. Hebt ihn überhaupt erst einmal hinaus über unseren Alltag. Manchmal ist es schon mühsam mit der religiösen Sprache. Manchmal  verstehen wir sie nicht mehr. Allenfalls ahnen wir noch, was gemeint ist. Wir wünschen uns, die Erfahrungen der Generationen vor uns auch zu machen, aber erzwingen können wir es nicht. Da hilft eigentlich nur, dass wir uns daran erinnern, was Paulus an anderer Stelle sagt.  Es ist nicht der eigene Glaube ist, der uns rettet. Am Ende wird es Gott sein müssen, der das Werk zu Ende führt. Und wir werden hoffentlich verstehen, wie alles gemeint war.

Dass es so ist, erzählt eine jüdische Legende, die ich am Ende meiner Predigt zitieren möchte:

„Wenn Rabbi Israel ben Elieser, der Baal-schem-tow, sein Volk vom Unglück bedroht sah, pflegte er einen bestimmten Teil des Waldes aufzusuchen und dort zu meditieren. Er entfachte das Feuer, sagte ein bestimmtes Gebet und das Wunder geschah, das Unglück wurde abgewendet.

Später, als sein Schüler, der berühmte Maggid von Mesritsch, aus denselben Gründen Gelegenheit hatte, beim Himmel Fürsprache für sein Volk einzulegen, ging er an dieselbe Stelle im Wald und sagte: ‚Herr, ich weiß nicht, wie man ein Feuer anfacht, aber ich weiß das Gebet zu sagen.‘ Und wieder geschah das Wunder.

Sein Nachfolger, der Mosche Löb von Sasow, sagte, als er in den Wald ging, um sein Volk zu retten: ‚Ich weiß nicht, wie man ein Feuer entfacht, auch kenne ich das Gebet nicht, aber ich weiß den rechten Ort noch, und das muss genügen.‘

Schließlich fiel die Aufgabe, das Unglück abzuwenden, dem Rabbi Israel von Rizin zu, der zu Hause im Lehnstuhl sitzend, den Kopf in die Hand gestützt zu Gott sprach: ‚ Ich kann kein Feuer entfachen und weiß das Gebet nicht; nicht einmal die Stelle im Wald kann ich mehr finden. Ich kann gerade noch die Geschichte erzählen, das ist alles, es muss genügen.‘ Und es genügte. Gott erschuf den Menschen, weil er Geschichten liebt." (In „Gott liebt Geschichten", Hg. von Gerhard Brockmann und Hans Heller, Schönberger Hefte, Sonderband 1986/87)



Pfarrer Bernd Giehl

E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)