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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reminiszere, 28.02.2010

Predigt zu Römer 5:1-5, verfasst von Birgit Weyel

Liebe Gemeinde,

auf der Suche nach der verlorenen Zeit heißt ein Roman von Marcel Proust. Es geht in diesem Buch um das Erinnern. Der Erzähler, ein anonymes Ich, über das man zunächst nicht viel erfährt, kann sich an seine Lebensgeschichte nicht erinnern. Seine Kindheit, seine Jugend liegen im Verborgenen. Sie scheinen für ihn verloren zu sein.

Willentlich gelingt es ihm nicht, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren und damit auch seine eigene Identität aufzuhellen. Dann aber widerfährt ihm die Erinnerung, in einem aufbrechenden Strom der Erinnerungen, die in ihm aufsteigen. Ausgelöst wird dieser plötzlich, als der Erzähler in ein in Tee getauchtes Gebäckstück beißt.  Atemlos, in endlos scheinenden Sätzen stellen sich die Erinnerungen ein. Die sinnliche Erfahrung des Geschmacks bahnt den Gedanken den Weg. Eindrücklich werden Kindheit und Jugend zur erlebten Zeit. Immerhin sieben Bände umfasst die Erzählung! Keine Gedankenlücke bleibt offen, die Lebensgeschichte wird so anschaulich und detailliert geschildert, dass sie neu durchlebt und nicht nur sporadisch rekonstruiert wird. Am Ende des Romans hat das Ich seine Erinnerung wiedergefunden und damit auch sein Ich.

Drei Beobachtungen faszinieren mich an diesem Romankonzept und schlagen eine Brücke zum Predigttext für den heutigen Sonntag. Faszinierend finde ich zum einen, wie die Erinnerungen in Gang kommen. Nicht immer sind es sinnliche Erfahrungen wie das Gebäck bei Proust, aber oft sind es Erinnerungsstücke: ein vergessenes Bild, das uns zufällig in die Hände fällt, ein ganzes Foto-Album gar, eine Schachtel, in der wir etwas aufbewahrt haben, eine unscheinbare Kastanie, die uns an einen Spaziergang im vergangenen Herbst erinnert, sobald wir sie mit der Hand in der Manteltasche umschließen. Erinnerungen brauchen einen Auslöser, damit sie wieder zugänglich werden.

Eine weitere Beobachtung ist die, dass Erinnerungen nichts Vergangenes sind. Sie prägen uns auch heute. Sie sind lebendige Erfahrungen, die uns im Augenblick der Erinnerung erneut widerfahren. Wir holen die erlebte Zeit aus dem Vergessen zurück und  wiederholen sie doch zugleich in neuer, anderer Weise. Längst zurückliegende Erfahrungen bleiben nicht einfach gleich. Manchmal ergeben sich mit etwas Abstand neue Perspektiven. „Vielleicht war es doch ganz gut, dass das damals so und nicht anders passiert ist! Auch wenn ich das damals ganz anders erlebt habe." Erinnerungen sind nichts Vergangenes, sondern lebendige Erfahrungen, die offen sind für neue Sichtweisen aus der Zukunft.

Schließlich:  Erinnern schafft Identität. Wer wir sind, erschließt sich durch die Geschichten, die wir einander erzählen. Farbige, bunte Lebensgeschichten von Erfahrungen, die uns geprägt haben. Manchmal sind es auch nur Skizzen in schwarz und weiß. Das habe ich erlebt, siehst Du, vielleicht verstehst Du jetzt, warum ich so bin, wie ich bin. Solche identitätsbildende Geschichten gibt es sowohl für den Einzelnen und sein individuelles Leben, als auch für Gruppen und Gemeinschaften, bis hin zu nationalen Gedenktagen.

Der heutige Sonntag hat das Erinnern zum Thema. Reminiscere - das heißt: Erinnere Dich! Mit einer Passage aus dem Römerbrief sollen uns Erinnerungen wieder neu zugänglich werden. Zentrale Erinnerungen, die ein christliches Leben nicht nur am Rande prägen, sondern unsere Identität bestimmen. Im Brief an die Römer 5,1-5 schreibt Paulus:

Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus; durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.

Paulus spricht von dem Frieden, der unsere Beziehung zu Gott prägt. Dieser Friede ist unserer Erfahrung nicht immer zugänglich. Er ist kein Gemütszustand. Gerade deshalb ist die Erinnerung so wichtig: Es herrscht ja Friede! Gott hat Frieden mit uns geschlossen, ein für alle male. Gerade weil unsere Erfahrungen so widersprüchlich sind, weil wir innerlich zerrissen sind, mit Gott hadern oder unruhig sind, darum ist es wichtig, diesen Frieden zu erinnern. Ein Friede, der unverbrüchlich und umfassend ist.

Wie aber stimmt dieser Friede mit unserer Erfahrung zusammen? Das Gleichnis von den bösen Weingärtnernspricht deutlich vom Krieg der Menschen gegen Gott. Es schildert anschaulich und erschreckend zugleich die Spirale der Gewalt, in die sich die bösen Weingärtner immer weiter hineindrehen. Zunächst schicken sie den Boten zurück, am Ende töten sie Gottes Sohn. Jesus, der das Gleichnis denen erzählt, die ihm nach dem Leben trachten, ist selbst Gottes einziger Sohn, der gekreuzigt werden wird. Das Gleichnis sagt im Krieg der Menschen gegen Gott den Höhepunkt der Eskalation voraus: den Kreuzestod. An der Bosheit der Menschen wird kein Zweifel gelassen. Von mangelndem Realismus oder falscher Harmonie kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Das Kreuz ist ein Zeichen für die Abgründigkeit menschlicher Sünde.

Das ist die eine Seite, die menschliche. Es gibt aber auch die andere Seite, die göttliche. Das Kreuz ist zugleich ein Zeichen für die große Liebe Gottes zu den Menschen. Das ist der Friede, den Gott schafft: souverän und einseitig. Ein Friede, der uns zugesagt wird und den wir wieder und wieder erinnern können. Das Kreuz ist ein Erinnerungszeichen. Es steht für den Frieden, den Gott gegen Krieg und Unfrieden setzt, ja: schon gesetzt hat.

Der Kreuzestod Jesu ist darum das Zentrum christlichen Gedenkens, weil Gott den Frieden geschaffen hat, der Teil unseres Lebens ist. Teil unseres je eigenen Lebens, noch bevor wir in die Welt gekommen sind. Er ist Teil unserer Identität als christliche Gemeinde und prägt darüber hinaus die Welt als Ganze.

Paulus spricht den Perspektivwechsel an, der sich dadurch für unsere Lebenserfahrungen ergibt. Zurückhaltend spricht er von Bedrängnissen, die jeder und jede von uns erfahren hat. Bedrängnisse, die Einschränkung von Entfaltungsmöglichkeiten, Dinge, die uns das Leben schwer machen, Sorgen, Trauriges, Unabänderliches. Wie gehen wir mit den Bedrängnissen unseres Lebens um? Welchen Stellenwert haben sie in unserem Lebenslauf? Vielleicht rücken sie in das Vergessen. Vorbei ist vorbei. Vielleicht durchleben wir sie aber auch immer wieder neu und können einfach nicht vergessen. Sie bleiben bedrängend, auch wenn sie eigentlich schon durchgestanden sind.

Paulus wendet die Bedrängnisse überraschend positiv: Wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. Ich verstehe das als einen neuen, überraschenden Weg, mit Bedrängnissen umzugehen. Sie werden weder vergessen, noch behalten sie uns auf Dauer im Griff. Paulus zeichnet einen Prozess nach, der einen Wandel mit sich bringt. Aus Bedrängnis wird am Ende Hoffnung.

Zeiten, in denen wir Unfriede und Bedrängnis durchleben, sind keine verlorenen Zeiten. Wir müssen sie nicht vergessen, um sie los zu werden. Das gelingt ohnehin nicht. Sie gehören zum Leben dazu. Das Kreuz steht nicht nur für das Leiden einer Person, sondern ist zugleich ein Symbol für die Bedrängnisse aller Menschen. Namenloses Leiden, Bedrängnisse, die unaussprechlich sind, nächtliches Grauen, für das es keine Zeugen gibt - das Kreuz erinnert auch daran.

Mit der Erinnerung an den von Gott geschaffenen Frieden rücken die Bedrängnisse in ein neues Licht. Negative Erfahrungen werden nicht einfach umgedeutet. Sie erhalten kein positives Vorzeichen. Das wäre furchtbar, weil das Leiden banalisiert würde. Aber Bedrängnisse bleiben auch nicht einfach nur Widerfahrnisse. Sie sind keine verlorene Lebenszeit. Sie können erinnert werden und müssen nicht geleugnet werden. Das Kreuz steht nicht nur für das erlebte Leiden, sondern auch für seine Überwindung. Denn es erinnert an den Frieden, den Gott uns schenkt. Die biblischen Erzählungen sind eben darum erinnerungswürdig, weil sie uns betreffen und Teil unserer Lebensgeschichte werden. In ihnen spiegeln sich unseren Erfahrungen. Sie werden uns eigentlich erst zugänglich, indem wir eine neue Perspektive auf sie gewinnen können. Denn erst im Lichte des Kreuzes gilt: Bedrängnis bringt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung.

Manchmal kann man im Nachhinein solche Geschichten erzählen und anderen Anteil daran geben. Ich erinnere mich an Geschichten, in denen Menschen von ihrer Krankheit gesprochen haben. Ein Strom der Erinnerungen bahnte sich seinen Weg. Ihre Lebensgeschichte ist durch die Krankheit nicht zur verlorenen und vergessenen Zeit geworden. Lebensgeschichte und Krankengeschichte bildeten eine unauflösliche Einheit. Bedrängnisse wurden erzählt, die ich als über alle Maßen bedrückend empfunden habe. Die Erzählenden haben ihre Erlebnisse nicht schön geredet. Aber sie haben von der großen Kraft gesprochen, die ihnen manchmal von außen zugewachsen ist. Und wie ihnen ein Gebet Kraft gegeben hat. Sie haben auch von Rückschlägen gesprochen und tiefer Verzweiflung. Aber am Ende stand die Hoffnung, auch mit der Krankheit noch leben zu können und dann auch irgendwann sterben zu können. Ich bin dankbar für die mitgeteilte Erfahrung. Mich haben diese Erzählungen sehr beeindruckt. Aber immer, wenn ich so etwas wie Bewunderung zum Ausdruck bringen wollte, stieß ich auf Unverständnis. Nein, da ist nichts, dessen man sich rühmen wollte oder könnte. Denn die Hoffnung ist ein Geschenk.

Das Kreuz Jesu Christi ist das Erinnerungsstück, das uns den Zugang zu den wichtigen Erfahrungen unseres Lebens bahnen kann. Es gibt den Blick frei für die Bedrängnisse, die wir durchgestanden haben, aber auch für die Hoffnung und die Kraft, die uns geschenkt wurden. Erinnern wir uns und erinnern wir Gott an seine große Barmherzigkeit.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen



 Evangelienlesung ist Mk 12,1-12.



Prof. Dr. Birgit Weyel
Lehrstuhl für Praktische Theologie, Tübingen
E-Mail: birgit.weyel@uni-tuebingen.de

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