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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Judika, 21.03.2010

Predigt zu Lukas 1:46-55, verfasst von Jens Arendt

Sören Kierkegaard sagt das berühmte Wort, dass das Leben vorwärts zu leben, aber rückwärts zu verstehen ist.[1]

            Viele alte Menschen sagen, dass sie, wenn sie zurückschauen, ein Muster sehen können, das sie mit Dank, Demut und Reue erfüllt. Man sieht den Finger Gottes. Wie der norwegische Liederdichter Peter Dass (1607-1707) singt:

            Sieh, soll ich alles erzählen / aus meinen Jugendjahren, / welches Schicksal und welcher Zufall / mir da beschieden war, / so kann ich doch nicht anders / als in Verwunderung fallen / über den Weg der Haushaltung Gottes. (DDS 8)

            Die Jungfrau Maria hat vielleicht auch einmal zurückgeschaut. Hinter dem Sarkophag von Königin Margrete I. im Dom in Roskilde, wo ich Pfarrer bin, sieht man die zwölf Apostel, wie sie um das Sterbebett Marias in Ephesos versammelt sind. Aber da ist auch ein Dreizehnter gekommen. Es ist ihr Sohn, der eine kleine goldene Statuette hochhält. Sie stellt Maria als junges Mädchen dar, erkennbar an ihrem offenen Haar.

            Was an jenem Tag in Nazareth geschah, ist wie das reinste Gold geworden. Jetzt hört sie wiederum, dass Jesus kommen wird und dass sie sich nicht fürchten soll.

            Aber wie war es damals für einen blutjungen Teenager? Als junger Mensch ist man "vorwärts" und nicht "rückwärts". "Eure Söhne und Töchter sollen weissagen; eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, eure Ältesten sollen Träume haben," - sagt der Prophet Joel (3,1), und Petrus wiederholt es in seiner Pfingstpredigt (Apg. 2,17).

            Die Jungen sehen nach vorn - sie haben Gesichte. Aber die Natur des Traumes ist immer der Blick zurück.  Dieselben Dinge aus dem Leben tauchen immer wieder in unterschiedlichen Formen in Träumen auf.

            Maria ist jung. Sie sieht nach vorn. Sie wohnt bei ihren Eltern; sie wird eine (wahrscheinlich) arrangierte Ehe eingehen. Eher als an unsere eigenen Teenagetöchter erinnert sie an ihre moslemischen Mitschwestern mit Kopftuch. Aber ich glaube, alle jungen Menschen leben in derselben Erwartung an die Zukunft, wo man nicht mit der Umdeutung der Erinnerung zurückschaut. Maria schaut nach vorn. Sie darf das größte aller Gesichte sehen, die Erfüllung aller Weissagungen.

            Zuerst erschrickt sie, wie die Frauen am Grabe. Nach dem 5. Buch Mose würde eine solche Frau gesteinigt werden. "Man soll das Mädchen vor die Tür des Hauses ihres Vaters führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen" (5. Mos. 22,21). Aber war ihr Erschrecken nicht durch das völlig Unerwartete ausgelöst?

            Der Engel sagt: "Fürchte dich nicht!" Furcht ist, dass man etwas Böses erwartet. Die Furcht hat den bekannten kleinen Bruder, die Besorgnis, und den blinden Zwillingsbruder, die Angst.

            Glaube ist, dass man das Gute erwartet. Hoffnung ist, dass man die Möglichkeit des Guten erwartet. Gott lieben ist, dass man von Gott alles Gute erwartet. Man denke an Martin Luther, der zuerst Tod und Gericht von Gott erwartete. Sein Glaube wurde dann, dass er sich das Gute von Gott erwartete.

            Deshalb spricht Jesus davon, wie die Kinder zu werden. Kinder erwarten sich alles Gute von ihren Eltern. So sollen wir uns alles Gute von unserem Vater im Himmel erwarten. Hoffnung ist nicht einfach Naivität. Hoffnung ist, sich alles Gute von Gott zu erwarten; anstatt Gott gegenüber misstrauisch zu sein. Wer alles Gute von Gott erwartet, erwartet auch das Beste von anderen.

            Das Gute erwarten ist vielleicht leichter für einen jungen Menschen. Je älter man wird, desto mehr ersetzt man die Hoffnung durch Sicherheit. Man besitzt das, was Lebenserfahrung heißt; was oft bedeutet, dass man unerschütterlich ist, eine Versteinerung.

            Das junge Mädchen, das ihr Kind gebären soll, kann sagen: "Ich erwarte mir alles Gute von Gott". Der Alte, der seine eigene Sterblichkeit erkennt, kann sagen: "Ich erwarte mir alles Gute von Gott." Das Gute erwarten, in der Hoffnung leben ist auch, dass man das Ewige erwartet. Dass einzig Sichere ist der Tod, aber auch hier sollen wir an die Möglichkeit Gottes glauben, an die große Veränderung.

            Ohne die Erwartung zu leben, das ist, dass man mit Hilfe von Gewohnheit, Klugheit, Nachahmung, Erfahrung, mit Sitten und Gebräuchen lebt. Man kann hier Ahas in der alttestamentlichen Lesung von heute zum Vergleich heranziehen (Jesaja 7,10-14), der sich weigerte, sich von Gott etwas zu erwarten.

            Die Hoffnung wird heimatlos. Man hat Lebensklugheit. Man wagt nicht, sich eine entscheidende Möglichkeit der Veränderung zu erwarten. Die Möglichkeit, dies Wunderbare in der Möglichkeit, ist so unendlich zerbrechlich wie ein Neugeborenes; und sie ist doch eben zustandegebracht, gebildet mit Hilfe des Ewigen. Sie ist jedoch stärker als alles, denn sie ist die Möglichkeit des Guten!

            Was tut Maria, oder was tun andere mit Maria? Ja, unter anderem wird sie fortgeschickt, zu einigen Verwandten in einem Dorf in den Bergen; bevor sie ins Gerede kommt. Hier begegnet sie nun ihrer Verwandten Elisabeth, die auch auf wunderbare Weise ein Kind erwartet.

            Sie preist Gott; ihn, von dem wir uns alles Gute erwarten. Ihn preisen wir; deswegen ist die Liebe geschwätzig; deshalb feiert man in aller Öffentlichkeit Hochzeit, weil man allen anderen erzählen will, wie sehr man einander liebt.

            "Mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes!

            Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.

            Von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder."

            An Gott glauben ist sich alles Gute von ihm erwarten. Es ist auch an ihn glauben, der alles verändert.

            Dass Maria unter allen Frauen auserwählt wird, ist der erste Ausdruck für die Veränderung aller Werte, die mit Jesus Christus verbunden ist. Bereits hier bei seiner Empfängnis ist diese Andersheit gegenüber allen normalen Gedankengängen im Spiel.

            Dass das einfache Mädchen die Auserwählte ist, ist nur der Anfang, es geht weiter mit den Umständen, unter denen Gottes Sohn geboren wird. Später im Leben wird auch unter den Niedrigen in der Gesellschaft gewählt und gewichtet.

            "Er übt Gewalt mit seinem Arm,

            und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzen Sinn;

            er stößt die Gewaltigen vom Thron,

            und er erhebt die Niedrigen."

            Mit der Erwählung Marias wird mit anderen Worten die ganze Verkehrung der Machtverhältnisse intoniert: Das Große und Mächtige, alles, was sich in eigener Machtfülle aufspielt, verliert seine Bedeutung, während all das Geringe und Unansehnliche, alles Ohnmächtige erhoben und zu Ehren und Würden gebracht wird.

            Gottes Unberechenbarkeit bedeutet Möglichkeit und Hoffnung auf Veränderung. Denn nur Eines steht fest: seine Liebe.

Amen


[1] Oder genauer: er sagt in einer Tagebuchaufzeichnung von 1843, dass man nie die Ruhe haben kann, das Leben rückwärts zu betrachten. Deshalb ist das Leben nie verständlich. "Es ist wohl wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts zu verstehen ist. Aber darüber vergisst man den zweiten Satz, dass es vorwärts zu leben ist. Welcher Satz, je mehr man ihn durchdenkt, eben damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verstehbar ist, eben weil ich keinen Augenglick Ruhe finden kann, die Stellung des "rückwärts" einzunehmen."



Dompropst Jens Arendt
Roskilde (Dänemark)
E-Mail: jea@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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