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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 02.04.2010

Predigt zu Matthäus 26f:, verfasst von Peter Nejsum

Die Leidensgeschichte nach Matthäus

Im gleichen Maße, wie die Religion in der Welt, in der wir leben, zunehmend mehr Platz einnimmt, macht auch die Religionskritik wieder auf sich aufmerksam. Das kommt in vielerlei Weise zum Ausdruck, in Vereinigungen, Konferenzen, Theaterstücken. Im gleichen Maße, wie Gott in den Zeitungen Spaltenplatz erhält, bekommen auch die Atheisten zunehmend Platz. Der morderne, vernünftige Mensch distanziert sich von religiösen Vorstellungen. Für ihn handelt es sich um nichts anderes als Aberglauben, sogar gefährlichen Aberglauben, der die Vernunft außer Kraft setzen will. Wenn Gott wirklich als etwas anderes als eine Vorstellung in unserer Phantasie existieren würde, dann würde er sich auf eine Art und Weise zu erkennen gegeben haben, die uns unmissverständlich zu verstehen gegeben hätte, dass er existierte und was er wollte. Stattdessen greifen die Gläubigen zu phantasievollen Umdeutungen einer unbequemen Wirklichkeit, die voller Widersprüche und Leiden ist, - so hört man es.

            Ich glaube eigentlich nicht, dass diese neu-erweckten Atheisten eine wirkliche Bedrohung ausmachen. Was man aber ernst nehmen muss, ist die Tatsache, dass das, was Anlass zu Religionskritik gibt, oft für Gläubige Anlass zu Anfechtungen gibt. Und das muss man dann aber sehr ernst nehmen.

            Die Pointe ist, dass diese Religionskritik überhaupt nicht neu ist. Die Leidensgesschichte ist das beste Beispiel dafür. Denn die Relgionskritik ist Teil der Erzählung. Die Kritiker sind de facto alle da, wenn man genau hinsieht: Zunächst unter dem Kreuz, wo es heißt: "Andern hat er geholfen und kann sich selbst nicht helfen!" Und: "Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig vom Kreuz herab! Dann wollen wir ihm glauben."

            Das ist der höchst grundlegende Einwand gegen das, was da geschieht: Wie kann er Gottes Sohn sein? Warum verhindert er es nicht? Warum setzt er seine Macht nicht durch? Soll das ein Gott sein?

            In der Alten Kirche mussten sich die Christen gegen Beschuldigungen des Atheismus verteidigen - denn wenn man den Tod seines Gottes in den Mittelpunkt seines Glaubens stellt, dann muss das Atheismus sein, es kann unmöglich etwas anderes sein.

            Das Phantastische ist, dass diese Einwände nicht wegzensuriert werden oder dass ihnen widersprochen wird, sondern dass sie in die Geschichte eingehen, nicht an zufälliger Stelle, sondern an der entscheidenden Stelle: am Fuß von Jesu Kreuz. Die ganz entscheidende Anfechtung: Wo ist Gott in dieser ganzen Angelegenheit? erhält eine Stimme, mitten im Zentrum der Geschichte. War es nicht genau dies, was die Jünger veranlasste, sich davonzumachen, sich selbst, so gut sie konnten, zu retten und das verließen, was sie als ein sinkendes Schiff aufgefasst haben müssen? Wenn sie auch nur ein ganz kleines bisschen davon überzeugt gewesen wären, dass Gott von ihrem Herrn und Meister wissen wollte, obwohl er jetzt das Unheil über ihn hereinbrechen ließ, dann wären sie wohl treu geblieben.

            Aber sie sind dort überall, die Vertreter der Religionskritik, nicht nur unter dem Kreuz, sondern überall in der bunten Personengalerie, die die Leidensgeschichte vorführt. Da ist die Gleichgültigkeit: Die neugierigen Zuschauer, die zusammengeströmt sind und bei dem blutigen Auftritt schaudern und denken, dass hier wieder einmal ein religiöser Phantast seinen Teil wegbekommen hat und dass man davon nur lernen kann. Der vernünftige Beamte, der ohne mit der Wimper zu zucken Ordnung in den Papieren schafft und im Übrigen, rein privat, der Meinung ist, dass "allzu viel Religion im öffentlichen Raum ist". Da sind die rohen und abgestumpften Soldaten, die bloß finden, dass er ein erbärmlicher Narr ist, und ihn verspotten: "Gegrüßet seist du, der Juden König!" Da ist die intellektuelle Elite, die sich darüber aufregt, dass ein Mensch behaupten kann, er sei Sohn Gottes, und dann noch ein solcher Mensch, so erbärmlich, so wenig erhaben!

            Ein besonderer Typ ist Pilatus. Er ist derjenige, der meint, es werde allzu viel von Schuld gesprochen. Er meint, es müsste Umstände geben, die die Leute zwängen, so zu handeln. Ist es nicht besser, dass ein Mensch büßen muss, als dass Unruhen ausbrechen und eine gefahrvolle Situation entsteht, in der sehr viel mehr Menschen umkommen?

            Es gibt Umstände, die so geartet sind, dass man von jeder Schuld freigesprochen wird. Wenn es Sinn machen soll, muss es ein "recht und billig" geben, absolute Lösungen sind unangebracht. Moral handelt wohl davon, Vor- und Nachteile abzuwägen, eine kluge Entscheidung zu finden.

            Mit dieser Auffassung hatte Jesus in der Bergpredigt Schluss gemacht, die gegen die Ansicht gerichtet war, dass man ohne weiteres mit den Handlungen fertig werden könnte, die man anderen schuldig ist. Dass man sich zurücklehnen und selbstgefällig sagen könnte: Jetzt habe ich das Meinige getan! Oder wenn ein Mensch in Not ist, sagen könnte: Oh, da sind andere, die sich dessen besser annehmen können als ich! Es ist wirklich schlimm, dass nicht schon jemand eingegriffen hat! Jesus hält uns in unser Schuldigkeit fest - dass sich das, was wir anderen schuldig sind, nicht beiseite schieben lässt.

            Jetzt muss er den Tort erleiden, sein Schicksal von Pilatus besiegelt zu sehen, der seine Hände vor den Augen des Volkes wäscht und behauptet: "Ich bin unschuldig am Blut dieses Mannes. Es ist eure Sache!"

            Dass Gott sich auf diese Weise offenbart, so verborgen, so indirekt, ist nicht nur Anlass für Religionskritik. Es ist immer auch eine starke Anfechtung. Es ist diejenige, die die Frage stellt: Wo ist Gott in meinem Leben? Warum setzt Gott sich nicht nachdrücklicher durch? Warum überzeugt er nicht davon, dass er gegenwärtig ist, dass die Dinge einen Sinn haben, einen Zusammenhang, dass es einen Ausweg gibt? Dass da Fülle ist anstelle von Leere? Man kann auch die Frage stellen: Warum nimmt er mich nicht von meinem Kreuz, von all dem, was ich zu leiden habe? Warum gibt er sich nicht wenigstens zu erkennen, so dass ich wissen kann, dass es nur eine Prüfung ist?

            Genau dies kulminiert am Kreuz, wo Jesus selbst von dem Gefühl der Gottverlassenheit ergriffen wird, wo er mit aller Kraft schreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

            Aber Gott lässt sich nicht nachweisen. Es lässt sich nie beweisen, dass es de facto Gott war, der sich dort auf Golgatha offenbarte. Alle Kritiker, Skeptiker, Angefochtenen, Zweifler sind in die Geschichte eingeschrieben. Deshalb gibt es niemanden, der von vornherein aus der Erzählung ausgeschlossen wäre. Das ist an sich schon phantastisch: Da ist Raum für den Zweifel und die Anfechtung und den Unglauben.

            Aber wenn uns das klar ist, dann ist es eine Frage des Glaubens. Es gibt keinen zwingenden Grund zu der Annahme, der Mann am Kreuz sei Gottes Sohn. Im Gegenteil, ist man versucht zu sagen, es ist eine Frage des Glaubens. Man kann die Voraussetzung akzeptieren und dann sehen, was passiert.

            Der jüdisch-ungarische Schriftsteller Imre Kertész, der als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz verschleppt wurde, ist wie so viele andere mit der Frage konfrontiert worden, wie man bei seinem Glauben an einen Gott bleiben kann - wenn man so viel Furchtbares erlebt hat.

            Er antwortet, dass die wichtigste Frage für ihn nicht die ist, ob Gott existiert oder nicht - sondern ob wir leben, wie wenn er existierte. Denn er kann kein Gottesbild akzeptieren, das uns fragen lässt, warum Gott Auschwitz zugelassen hat. Gott offenbart sich in der Hoffnung eines Menschen auf das Leben. Gott offenbarte sich für Imre Kertész darin, dass er überhaupt den Wunsch hatte weiterzuleben, nachdem er Auschwitz "überlebt" hatte.

            In seinem Buch "Roman eines Schicksalslosen" erzählt er von seiner Zeit in Auschwitz und später in Buchenwald. Er erzählt mit einer merkwüridgen Nüchternheit, ohne in den Schrecken zu schwelgen. Er bemüht sich nicht, all die täglichen Leiden auszumalen, denen man ausgesetzt war - alles, was wir wissen, muss so furchtbar gewesen sein für einen fünfzehnjährigen Jungen, der völlig allein etwas vom Schlimmsten, was Menschen jemals anderen Menschen angetan haben, durchleben musste.

            Auf der anderen Seite bekommen wir einen Eindruck vom täglichen Leben in einem Konzentrationslager. Kertész erzählt von den trivialen Episoden des Alltags, die manchmal auch Augenblicke der Freude und der Hoffnung hervorrufen konnten, was schwer zu verstehen sein kann. Wir sind so sehr daran gewöhnt, nur nach den Schrecken zu fragen, und denken gar nicht daran, dass es selbst dort in der Hölle eine Art von Leben gab, einen täglichen Rhythmus - und ja, Augenblicke des Glücks.

            Imre Kertész überlebt mit knapper Not und kehrt in ein zerbombtes Budapest zurück, wo er nur schwer sehen kann, was er für sich und seine Zukunft tun soll. Aber da sitzt er an einem windigen Nachmittag in der Dämmerung auf einer Bank mitten in den Ruinen und denkt zurück, zurück an genau diese Stunde des Tages im Lager, wo es eine Art Ruhe des "Feierabends" zwischen der Arbeit und dem gab, was das Abendessen sein sollte. Da lebten sie - die Gefangenen. Man tauschte gestohlene Waren, handelte mit Brotrationen und Kartoffeln oder nur mit Kartoffelschalen! Und hier entstanden auch kurze Augenblicke der Nähe, der Fürsorge, der Mitmenschlichkeit und des Gefühls, nicht völlig allein zu sein.

            Er sitzt da und denkt zurück - mit Wehmut. Er denkt an diese Menschen, und diese Augenblicke eines relativen Glücks, trotz allem. Und er fühlt eine Gewissheit in sich wachsen. Eine Gewissheit, dass er sein Leben weiterleben will, dieses Leben, das fortzusetzen so unmöglich ist. Er will es weiterleben. Er will leben. Leben von der Erfahrung, dass es nicht diejenige Unmöglichkeit gibt, die wir nicht durchleben können. Und dann schreibt er ganz wunderbar, dass er es ja schon weiß - er weiß, dass das Glück wie eine unvermeidliche Falle auf ihn wartet.

            Das Wichtige ist nicht, ob Gott existiert, sondern zu leben, wie wenn er existierte. Das Wichtigste ist nicht zu wissen, ob es wirklich Gottes Sohn war, der dort am Kreuz hing, sondern zu leben, wie wenn es so war. Tut man es, dann sieht man vielleicht, dass Gott ganz buchstäblich mit dem ist, der leidet. Dass eine tiefe Pointe darin liegt, dass Christus so leiden und sterben musste. Dass es Ausdruck der Treue Gottes gegenüber seinem Geschöpf ist und dass er, der um unseretwillen so viel gelitten hat, sich natürlich nicht träumen lassen konnte, die Auferstehung und das neue Leben für sich zu behalten. Dann sieht man vielleicht, dass die Ohnmacht nicht nur Ohnmacht ist, sondern dass Macht dahintersteht. Die Macht, die den Gekreuzigten an Ostern aufrichten wird.

            Aber man sieht vielleicht auch, dass selbst dort Leben ist, wo man nichts sehen kann. Dann kann man hören, dass in dem Schrei: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? nicht nur Gottverlassenheit ist, sondern auch Festhalten an Gott. Er lässt Gott nicht los, wie fern und unbegreiflich er auch scheint. Das ist nicht vernünftig. Es lässt sich nie beweisen. Aber es ist das, um dessentwillen wir Ostern feiern.

Amen



Pastor Peter Nejsum
Slangerup (Dänemark)
E-Mail: pene@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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