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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 02.04.2010

Predigt zu 2. Korinther 5:18-21, verfasst von Christoph Dinkel

Der Predigttext für den Karfreitag steht in 2. Korinther 5,18-21. Der Apostel Paulus schreibt:

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.

Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

Liebe Gemeinde!

Eine ungeheure Spannung liegt über dem Karfreitag. Der Triumph der Hölle und der Triumph Gottes liegen ganz dicht beieinander. Ja, beide Triumphe ereignen sich im selben Augenblick. Im selben Ereignis wird zugleich die Macht der Hölle und die Macht Gottes sichtbar. Dasselbe Ereignis kann total gegensätzlich verstanden und interpretiert werden. Und darin liegt diese ungeheure Spannung des Karfreitags.

Der Triumph der Hölle ist am Karfreitag das Offensichtliche. Jesus von Nazareth wird gekreuzigt. Er stirbt den Tod der Schande, den Tod, der im römischen Reich nur gegen Sklaven und Nichtrömer verhängt werden durfte, weil er so erniedrigend und so qualvoll war. Auch aus jüdischer Sicht war der Tod am Kreuz eine der abgründigsten Todesarten. Wer am Pfahl hängt, gilt als von Gott Verfluchter, heißt es im 5. Mosebuch (5. Mose 21,23).

Die Verwerfung, die Jesus von Nazareth erlebt, ist total: Seine Freunde und Jünger sind geflohen und haben ihn im Stich gelassen. Einer hat ihn gar verraten, ein anderer hat geleugnet ihn überhaupt zu kennen. Alle Mächte der Welt haben sich gegen Jesus verschworen: die jüdischen Behörden und die römischen, die geistlichen Führer und die weltlichen. Auch die öffentliche Meinung steht gegen ihn: Kreuziget ihn, ruft das Volk. Lieber wollen sie den Mörder frei als den Prediger aus Nazareth. So schnell kann die Stimmung kippen, wenn man nur die richtigen Parolen vorgibt. Selbst das Recht und die erwiesene Unschuld können Jesus nicht schützen. Das Recht wird korrumpiert für die Interessen der Mächtigen. Militär und Polizei arbeiten Hand in Hand, um Jesus zu beseitigen und die Erinnerung an ihn auszulöschen. Individuelles Versagen und individuelle Schuld spielen zusammen mit systemischem Versagen und systemischer Schuld. Alles hat sich gegen Jesus verschworen, alle Institutionen und Mächte, die sonst das Leben und die soziale Ordnung der Menschen sichern, schließen sich in einem teuflischen Pakt zusammen, um den Unschuldigen auszulöschen: Inländer und Ausländer, Römer und Juden, staatliche und religiöse Gewalt, Justiz, Polizei und Militär, seine eigenen Anhänger und die öffentliche Meinung - sie alle lassen Jesus im Stich, sie alle bündeln ihre Kräfte, um Jesus aus der Welt zu schaffen und zu vernichten. Der Tod Jesu an Karfreitag ist der Triumph aller finsteren Mächte. Es ist der Triumph der Hölle. (Vgl. zu diesem Absatz: Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl, 3. Aufl., 107)

Die Jünger Jesu haben das genau so wahrgenommen. Ihre Enttäuschung, ihre Trauer, ihre Wut - auch über sich selber - und ihre Verzweiflung müssen grenzenlos gewesen sein. Sämtliche Osterberichte dokumentieren das überdeutlich. Dass sich der Schrecken mit Ostern löst, erleben sie als Wunder und totale Überraschung. Und es braucht lange bis die Osterbotschaft ankommt. Erst wiederholte Erscheinungen des Auferstandenen lösen den festen Griff der teuflischen Deutung des Geschehenen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Lektüre der Schrift, die Reflexion des Geschehenen im Lichte alttestamentlicher Texte. Die Schrift hilft das Erlebte neu zu deuten, das Neue Testament ist voll von solchen Neudeutungen. Überall, wo es heißt, „wie geschrieben steht" oder „das geschah, damit die Schrift erfüllt würde" finden wir die Spuren dieser nachösterlichen Neuinterpretation der Ereignisse. Diese Neuinterpretation wurde schließlich so mächtig und umfassend, dass sie die ganze Darstellung in den Evangelien überformte und man manchmal den Eindruck gewinnt, das ganze Leben Jesu einschließlich Karfreitag und Ostern folge einem göttlichen Plan. Aber diese Interpretation war erst im Nachhinein, von Ostern aus möglich. An Karfreitag selbst hingegen und an den Tagen danach herrschte blankes Entsetzen und abgründiger Schrecken. Die Jünger und Anhänger Jesu haben Karfreitag als Höllentriumph erlebt und Ostern kam für sie als Wunder und gänzlich unerwartete Überraschung.

Die Rolle der Schrift bei der Überwindung des Karfreitagschreckens dokumentiert sich besonders deutlich in der Emmauserzählung. Zwei Jünger wandern von Jerusalem nach Emmaus. Von den Ostererscheinungen haben sie zwar gehört, aber das ändert nichts an ihrer Verzweiflung. Auf dem Weg begegnet ihnen der Auferstandene, den sie jedoch nicht erkennen. Der fremde Begleiter spricht sie auf ihre Traurigkeit an und als sie vom Schicksal Jesu erzählen, verweist er sie auf den Propheten Jesaja, genauer auf Jesaja 53, auf das sogenannte vierte Gottesknechtslied. Und mit Hilfe dieses Textes lernen die Emmausjünger ganz allmählich und mühsam den Karfreitag neu zu verstehen. Gänzlich überzeugt sind sie erst als der Fremde beim Abendessen ihnen das Brot bricht, wie es Jesus oft getan hatte, zuletzt beim letzten Mahl am Gründonnerstag. Doch mit dem Brechen des Brotes entschwindet der Auferstandene. Sie müssen ohne seine körperliche Präsenz weiterleben. Aber ihnen bleibt das Studium der Schrift und das Brechen des Brotes in seinem Namen als Zeichen seiner Gegenwart und seiner Lebendigkeit.

Das vierte Gottesknechtslied ist der zentrale Schlüssel für die Neuinterpretation des Karfreitags durch die frühen Christen. Nicht nur die Emmausjünger, auch der Apostel Paulus nutzt diesen Schlüssel und entdeckt mit seiner Hilfe das Geheimnis des Karfreitags. In Jesaja 53 heißt es über den Gottesknecht, einen unbekannten Gottesboten, der vermutlich im 6. Jahrhundert in Babylon lebte: „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt."

Das ist der Schlüssel zu Karfreitag. Mit Hilfe dieses Textes lernten die frühen Christen verstehen, dass der Triumph der Hölle an Karfreitag nur ein scheinbarer Triumph ist. Das Schicksal des Gottesknechtes ist das Schicksal Jesu: Er wird verachtet, geschlagen und gemartert. Und die Täter, die den Gottesknecht quälen, denken sie handeln dabei im Namen Gottes. Gott stehe auf ihrer Seite. Der Gottesknecht werde von Gott geschlagen und gemartert. Ihre Täuschung bemerken sie nicht. Sie bemerken nicht, dass es ihre eigene Bosheit ist, ihre eigene Sünde ist, die sie zur Vernichtung des Gottesknechtes treibt. Er wird das Opfer ihrer Verblendung, ihrer Krankheit, ihrer Missetat. Sie machen den Unschuldigen zum Opfer und merken nicht, dass er der Bote Gottes ist, der sie retten soll. Das Schicksal des Gottesknechtes ist das Schicksal Jesu. Auch der Gottesknecht stirbt, wird aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, wie es im Lied heißt. Er wird mit Gottlosen und Übeltätern begraben. Und doch ist das nicht das letzte Wort über ihn. Der Gottesknecht wird das Licht sehen und wird neu die Fülle Gottes erleben, er wird, so heißt es im Lied, „die Vielen zur Beute" bekommen und „die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten."

Das Schicksal des Gottesknechtes wendet sich. Der aus Sicht der Mörder von Gott Geschlagene und Verworfene, ist im Gegenteil der von Gott Erwählte. Sein Tod hat heilende Kraft für sie, weil er sich trotz aller Qual nicht vom Weg Gottes abbringen ließ und noch für die Übeltäter gebeten hat. So schwach der Gottesknecht aus Sicher der Täter war, so war er doch in Wirklichkeit stark, weil er sich vom Bösen nicht überwinden und anstecken ließ und Gottes Liebe treu blieb. Das vierte Gottesknechtlied schildert im Nachhinein den Erkenntnisprozess der Mörder des Gottesknechtes. Voller Entsetzen nehmen sie wahr, dass sie einen anderen für ihre Missetat haben sterben lassen. Voller Beschämung erkennen sie, dass Gott nicht auf ihrer, sondern auf der Seite des Gottesknechts stand.

Und das ist der Schlüssel zu Karfreitag für die frühen Christen und auch für den Apostel Paulus. Der am Pfahl Aufgehängte ist nicht wie sie meinen von Gott verflucht. Vielmehr steht Gott auf der Seite des unschuldig Leidenden. Und dieser stirbt nicht, wie von römischen und jüdischen Machthabern unterstellt, für seine Missetat, vielmehr tobt sich an ihm die Missetat der anderen aus. Sein Schandpfahl ist ihre Schande und nicht seine. Ihre Schuld und nicht seine wird hier gesühnt. Und das Opfer der Gewalt erhebt sich nicht und klagt nicht an. Das Opfer der Gewalt bittet für die Gewalttäter und will sie, die mit der Hölle im Bunde stehen, zu Gott zurückbringen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!" ist der Appell des Gekreuzigten an seine Mörder. Lasst ab von Hass und Gewalt, sie führen direkt in die Hölle, direkt in den Tod. Lasst euch versöhnen mit Gott und wählt den Weg des Friedens und der Liebe.

Was für eine Wende in der Deutung des Karfreitags! Aus dem Triumph der Hölle wird die göttliche Botschaft an die Mörder und alle, die in die Irre gehen: Lass dich versöhnen mit Gott. Wähle das Leben und nicht den Tod. Und Paulus, der große Theologe, durchdringt das Geschehen noch weiter und wagt den kühnen Satz: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung."

„Gott war in Christus", mit diesem Satz wird die Wende der Deutung des Karfreitags vollendet. Gott steht nicht nur an der Seite des Gekreuzigten wie er auf Seiten des Gottesknechtes steht. Er identifiziert sich vielmehr ganz mit ihm, ist in ihm gegenwärtig, mitleidend, mitsterbend. Das Kreuz auf Golgatha ist der Ort der Ohnmacht Gottes. Der Gott, der die Liebe ist, gibt sich den Menschen Preis und wird um der Liebe willen zum Opfer der Menschen. Gott spricht kein Machtwort, um die Mörder von ihrem Tun abzubringen. Der Appell Gottes ist ein leiser und stiller Appell, es ist der Appell der Liebe: Lass dich versöhnen mit Gott. Wähle das Leben und nicht den Tod.

Die Ohnmacht Gottes an Karfreitag ist schwer auszuhalten. Was soll uns ein ohnmächtiger Gott helfen? Was soll einem noch Mut geben, wenn selbst Gott zum Opfer menschlicher Bosheit wird? Wir sehnen uns manchmal so sehr nach göttlichen Machtworten, nach Erweisen seiner Allmacht, nach deutlich sichtbarer Rettung, nach der für alle offenbaren Wende. Aber all das wird uns verweigert. Der Gott, der die Liebe ist, spricht solche Machtworte nicht. Sein Appell ist leise und still: Lass dich versöhnen mit Gott! Wähle das Leben, nicht den Tod. Vertraue der Macht der Liebe.

Dietrich Bonhoeffer hat in der Haft viel über Macht und Ohnmacht Gottes nachgedacht. Für ihn steht diese Frage im Zusammenhang einer mündigen Religiosität. In Widerstand und Ergebung schreibt er: „So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt. [...] Vor und mit Gott leben wir ohne Gott", sagt Bonhoeffer und meint damit, dass uns der Karfreitag lehrt, ohne kindliche Allmachtsvorstellungen von Gott zu leben. Für Bonhoeffer ist deutlich, ich zitiere wieder, „dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! [...] Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen." Durch seine „Ohnmacht" gewinnt der Gott der Bibel „in der Welt Macht und Raum. (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 18. Aufl. 192f)

Nur der leidende Gott kann helfen, nur der gekreuzigte Gott ist der Gott der Liebe und nur die Liebe hält der Macht der Hölle stand. Der Triumph der Hölle an Karfreitag ist überwältigend und schockierend. Lähmendes Entsetzen breitet sich aus. Jesus selbst wähnt sich von Gott verlassen und auch seine Jünger glauben an den göttlichen Fluch über dem Gekreuzigten. Und doch ist dieser Triumph der Hölle kein totaler Triumph. Dieser Triumph ist zugleich ihre Niederlage und der Beginn neuen Lebens. So ohnmächtig die Liebe an Karfreitag zum Opfer der Bosheit wird, so klar ist doch auch ihr Sieg. Der Gekreuzigte bittet für seine Mörder, er hält fest an der Liebe. Gott war in Christus und richtet durch ihn den stillen, leisen, aber doch unüberhörbaren Appell an uns: Lass dich versöhnen mit Gott! Wähle das Leben und nicht den Tod. Der Triumph der Hölle wird zum Beginn neuen Lebens. Der gekreuzigte Christus wird zum neuen Adam, zum Anfänger einer neuen Menschheit. Und für alle, die ihm vertrauen, gilt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden."

„Gott war in Christus". Dieser Satz des Apostels beschreibt die ganze ungeheure Spannung des Karfreitags. Im Gekreuzigten Jesus leidet Gott selbst und wird Opfer höllischer Vernichtung. Doch dieser Triumph der Hölle ist zugleich ihre Niederlage. Die Macht der Liebe erweist sich aller Ohnmacht zum Trotz als stärker. Aus ihr wächst neues Leben, eine neue Menschheit, eine neue Schöpfung. Gott war in Christus und verwandelt den Schrecken des Karfreitags in einen Triumph der Liebe und ihrer Macht. - Amen.

 



Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de

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