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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Trinitatis, 30.05.2010

Predigt zu Römer 11:(32) 33-36 , verfasst von Günter Goldbach

Vorbemerkung:

Erschrocken war ich zunächst angesichts der Aufgabe, über diesen Hymnus des Paulus predigen zu sollen. Kann ein Lobpreis Gottes zum „Text" gemacht werden? Muss man ihn nicht als ganz persönliches Zeugnis eines einzelnen (oder einer Gemeinschaft) akzeptieren? Womöglich in ihn einstimmen? Sollte sich nicht also die Doxologie, mit der wir es hier zu tun haben, der kritischen Reflexion entziehen? Selbst wenn wie hier dieser Hymnus des Paulus bis in die Formulierung hinein von ihm übernommen, redigiert, auf seine Überzeugung hin verändert worden ist? Manch Ausleger zieht aus dieser Überlegung rigorose Konsequenzen: Eine Predigt müsse nicht unbedingt reflektorischen Charakter haben, so Ruhbach (in GPM 1985/86, 316ff). Man solle hier vielmehr eine Predigt über die Liturgie und ihre doxologischen Stücke halten „und einmal auf alle Anwendung auf die Gegenwart ...verzichten". Der Prediger habe ja dazu bei den folgenden Episteltexten im Kirchenjahr Gelegenheit genug (vgl. ebd., 318).  -  Ja, in der heilen Welt der v. Bodelschwinghschen Anstalten mochte das angehen, wo man sonntäglich zum Gottesdienst kam und viele verständig zuhörten. Aber bei unserer sporadisch vorbeischauenden Gelegenheits-Zuhörerschaft?! Stählin scheint mir die richtige Antwort auf das Problem zu haben: „Alle Aussagen über die Kirche wirken mit an der Zerstörung der Kirche, wenn sie den Zusammenhang zwischen der Kirche... und dem Ganzen der geschaffenen Welt und ihrer Geschichte aus dem Blickfeld verlieren" (W. Stählin, Predigthilfen II, 3. Aufl. Kassel 1968, 116).

Genauso abwegig wie der Gedanke, eine Doxologie ausschließlich doxologisch „verwenden" zu können, erscheint mir der Vorschlag, am Trinitatis-Sonntag über die Trinitätslehre predigen zu müssen, zumal es der Text  - gegen vielfache Behauptung -  nicht nahelegt. Und: Dogmatische Unkenntnis und dogmengeschichtliche Defizite auszugleichen, mag für speziell interessierte Theologiestudenten hilfreich und notwendig sein; für die zeitgenössische Zuhörerschaft unserer Predigt an Trinitatis ist die Trinitätslehre ( womöglich in ihren Distinktionen von Nicäa 325 oder denen von Konstantinopel 381) total out of interest und  - mit Verlaub -  auch nicht heilsnotwendig. Nein, es sollte nach meinem Dafürhalten darum gehen, die Trinitätslehre zum immanenten Thema der Predigt zu machen, was nach der schönen Erkenntnis Schleiermachers in seiner Predigt über den Text nur mit der Glaubensüberzeugung möglich ist, „daß Gott in der Tat in Christo war..., daß das Bekenntnis zu dem einen Herrn Jesus Christus nach Paulus (aber) niemand sprechen kann außer im Hl. Geist" (F. Schleiermacher, Predigten II, 1843, 562).

So will ich mich also einem dreifachen Anliegen gegenüber verpflichtet fühlen: den Text immanent-trinitarisch auszulegen; den materialen Inhalt der Doxologie auf unsere gegenwärtige Situation hin zu problematisieren; schließlich die Schreibmotivation des Paulus in seinem Brief an die römische Gemeinde nicht völlig auszublenden. Wobei ich unmittelbar vor der Predigt noch einmal die Verse 32, 33 und 36 lesen werde und (zunächst) die alttestamentlichen Bezüge auf Deuterojesaja (v 34) und Hiob (v 35) auslassen und erst später, nicht mit seinen Zitaten, sehr wohl in dem von Paulus gemeinten Zusammenhang aufnehmen will.

Literaturhinweise:

Die einschlägigen Römerbrief-Kommentare und zahllose Meditationen in den bekannten Reihen werden der Kollegenschaft zugänglich sein. In den Vorbemerkungen habe ich die zitierte Literatur schon angegeben. Darüber hinaus zitiere ich aus:

Karl Barth, Ges. Ausgabe Bd. II, Predigten 1954 - 1967, Zürich 1979, 81ff; Auszug: 83f.

Gebr. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Insel-Ausgabe, 5. Aufl. 1981, 168ff: „Frau Holle".

Martin Luther, Predigt über Röm. 11, 33-36; zitiert nach EA 9, 1ff.

 

Liebe Christinnen und liebe Christen,

aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom haben wir einen Abschnitt vorgelesen bekommen  -  wie schon so oft. Ganz großartige Aussagen sind ja auch in diesem Brief zu finden. Für viele von uns sind sie zu einer festen, unerschütterlichen Glaubensüberzeugung geworden. Etwa im 3. Kapitel: „Der Mensch wird gerecht ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben" (3, 28). Das ist fürwahr das Evangelium. Oder im 8. Kapitel: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (8, 39). Ja, davon kann man leben. Darauf kann man sterben.

Aber heute...! Diese letzten Verse des 11. Kapitels, dieser Lobpreis Gottes: Über alles Verstehen und Begreifen hinaus sollen wir Gott die Ehre geben? Wer kann das?! Immer und in jeder Beziehung, unter allen Umständen und in allen Umständen soll am Ende stehen: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit" (v 36)? Wir sind ja nicht Hiob, der alles ertragen und alles erleiden konnte, unerschütterlich in seinem Glauben. Viele von uns jedenfalls bringen das nicht. Die Erfahrung Gottes ist heutzutage weithin die Erfahrung eines verborgenen, vielleicht sogar abwesenden, in jedem Fall unbegreiflichen Gottes. Und diese Erfahrung führt nicht zum Lobpreis. Eher zum Klagen, ja zur Anklage gegen ihn, zum Zweifeln und Verzweifeln an ihm. Das Halleluja ist Bestandteil der Liturgie in den Gottesdiensten, von vielen aus purer Gewohnheit mitgesungen. Im alltäglichen Leben beschäftigen uns Passionsgeschichten.

Fairerweise müssen wir allerdings zugeben: Dieser Hymnus, dieser Lobpreis Gottes im 11. Kapitel des Paulus-Briefes steht da so nicht von ganz ungefähr. Paulus glaubt ja, ein schwieriges Problem gelöst zu haben. Gott sozusagen doch verstanden zu haben an einer Stelle, die für ihn unendlich wichtig ist: Er ist Jude, ein gelehrter Pharisäer, tief verwurzelt in der religiösen Gemeinschaft des alttestamentlichen Gottesvolkes. Aber er ist auch Christus begegnet, lebt einen neuen Weg in seiner Nachfolge. In Christus ist die Barmherzigkeit Gottes allen Menschen gegenüber erschienen. Das glaubt er und das will er allen Menschen weitergeben. Darum ist er unterwegs in der ganzen damals bekannten Welt. Er und die anderen Apostel. Sogar Petrus, den er auf seine Seite ziehen und überzeugen konnte  -  gegen Jakobus, den Bruder des Herrn. Aber: Wieso wollen ausgerechnet die Angehörigen des alttestamentlichen Gottesvolkes das Evangelium von Jesus Christus nicht annehmen? Warum bleiben gerade sie verstockt? Ägypten und Babylon, haben diese Marksteine des Elends in Knechtschaft und Gefangenschaft nicht genügt? Soll der entsetzliche Leidensweg Israels durch die Weltgeschichte immer weitergehen? Hat Gott sein Volk, aus dem doch der Eine gekommen ist als Zeitenwende aller Heimsuchungen, verstoßen? Was ist mit der auf ewig verheißenen Bundestreue Gottes gegenüber seinem auserwählten Volk?!  -  Das treibt den Paulus zur Verzweiflung.

Aber nun ist ihm eine Erkenntnis gekommen, eine Erleuchtung zuteil geworden: Die Ablehnung der Heilsbotschaft in Christus durch die Juden, diese Ablehnung hat sozusagen den Weg frei gemacht, man könnte sagen: sie hat „Platz gemacht" für die „Heiden", d. h. für alle anderen Menschen. Was nicht bedeuten soll, dass die Juden „auf ewig" ablehnend bleiben müssen. Irgendwann werden auch sie zum Glauben an den Gottessohn kommen. Und Gott wird darin seinen „ewigen Bund" mit Israel bestätigen.  -  Dieses „Geheimnis" der Wege Gottes hat Paulus sozusagen „herausgekriegt". Eben deshalb kann er Gott so überschwänglich loben und preisen. Gott will sich ja aller erbarmen (v 32). Das ist die Interpretation der Heilsgeschichte durch Paulus.

Aber was ist mit uns?! Das  - scheinbar gelöste -  Problem des Paulus ist ja nicht unser Problem. Allenfalls mag es denen als Argument dienen, die sich im christlich-jüdischen Dialog engagieren. Was ist mit uns? Denen die Wege und Ratschlüsse Gottes unerklärbar und uneinsichtig sind und bleiben. Denen die Unbegreiflichkeit und Verborgenheit Gottes keinen Lobpreis entlocken will. Die eher Verzweiflung und Furcht beschleicht, wenn sie mit offenen Augen wahrnehmen, was um uns herum geschieht  -  in der Welt, in der Kirche, in unserem eigenen Leben.  -  Lassen Sie uns diese drei Aspekte im Nacheinander einen Augenblick bedenken.

Was geschieht in der Welt? Ein unvorstellbares politisches Chaos in vieler Beziehung müssen wir feststellen. Ein furchtbares Schicksal für Millionen und aber Millionen von Elend, Hunger, Armut und Krankheit betroffenen Menschen. Unterdrückung, Ausbeutung, Terror in vielen Ländern der Erde. „Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge" (v 36)?! Sind nicht die Menschen schuld an alledem?! Ist das nicht alles von uns Menschen verursacht?! Womöglich von irregeleiteten, verblendeten, unfähigen, ganz sicher aber auch bösen Menschen, die das Gute für andere nicht wollen; die nur an sich selber denken. Also: Gott sollte dafür verantwortlich sein?! Und nun: „... damit er sich aller erbarme" (v 32) ?! Aller?! Wirklich: Gott sollte sich aller erbarmen wollen?! Auch der Massenmörder? Der Täter des Holocaust? Der Folterer? Der Kinderschänder? Der Selbstmordattentäter? Aller sollte sich Gott erbarmen?!

Karl Barth scheint es wirklich so verstanden zu haben. Karl Barth, das war ein großer Theologe. Gleichzeitig war er ein sehr bescheidenen Mensch. So ging er in Basel oft in die Strafanstalt und predigte dort vor den Übeltätern und Verbrechern. „Es ist Gottes Erbarmen..., das uns allen zugewendet ist", sagt er in der Auslegung unseres Textes. „Gott ist nahe den sogenannten Frommen und den sogenannten Ungläubigen, den sogenannten Guten und den sogenannten Bösen: Allen. Gott erbarmt sich Aller: eines Jeden in seiner Weise, aber eines Jeden... Darum soll ein Jeder von euch  - nicht mir, aber Ihm das nachsprechen: Ich bin auch einer von diesen Allen... Gott erbarmt sich aller, also auch meiner und also auch deiner".

Nein, ich kann und will das nicht glauben. Mich vielmehr an Martin Luther halten, der es in seiner Predigt so sagt: „ Das sind die hohen Gedanken und Rath Gottes, die Sinne und Verstand übertreffen, daß er seine Güte so reichlich ausschüttet. Und aus lauter Gnaden und Barmherzigkeit dazu erwählet die Armen, Elenden, Unwürdigen..., daß sie sollen wissen..., was er in seinem Herzen hat, nämlich, daß er will durch seinen Sohn denen, die da glauben, ewiges Leben und Seligkeit geben" (Hervorhebung durch Verf.).  -  Ist nicht wenigstens, nein: unabdingbar der Glaube die Voraussetzung für Vergebung?! Wohlgemerkt: der geschenkte Glaube! Dem geschenkt, der ihn erbittet und so Vergebung überhaupt haben will?

Ein Zweites wollte ich ja gerne mit Ihnen bedenken: „Wie gar unbegreiflich sind Gottes Gerichte und unerforschlich seine Wege" (v 33). Ja, das kann man wohl auch sagen, wenn es um unsere Kirche geht. Aber kann man da auch sagen: „Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge" (v 36)? Sollte das auch gelten in Bezug auf unsere verstörte, in eine fundamentale Krise geratene, in ihren Grundfesten erschütterte Kirche?! Auch das, was da geschieht, sollte Gottes Wille sein, in seinem Ratschluss beschlossen?!

Als Wichtigstes und Bedeutendstes denke ich dabei noch nicht einmal an den gegenwärtigen Missbrauchsskandal, der vielleicht die seit Jahrhunderten größte institutionelle Krise der Kirche darstellt. Zig-tausende treten aus der Kirche aus  -  manche als Vorwand, bei passender Gelegenheit eben. Viele jedoch aus tiefer Enttäuschung und echter Empörung. Weil die Kirche sich jetzt messen lassen muss an jenen Kriterien, mit denen sie sonst ihre moralischen Kriterien so hochmütig vertreten hat. Priester und Ordensleute, aber auch kirchliche Mitarbeiter in der evangelischen Kirche, haben Kinder und Jugendliche missbraucht und misshandelt. Und höchste Kirchenkreise haben das immer wieder vertuscht  -  ein echter Skandal.

Aber die Krise der Kirche in unserer Zeit hat noch ein anderes Gesicht: Der Gott, der die Menschen interessiert und von dem zu hören sie ein Recht haben  -  spielt ER wirklich noch eine Rolle in der Fülle von Denkschriften und Thesenpapieren der Kirchenleitungen? Der verstörende, unbegreifliche, in seiner Verborgenheit zur Verzweiflung treibende Gott  -  wo ist er im Amtsschimmel-Deutsch und bei aller political correctness von Synodenbeschlüssen und bischöflichen Verlautbarungen?

Und wenn da mal einer oder eine, auf wundersame Weise in exponierte Position geraten, „aus der Reihe tanzt", die Wahrheit ungeschminkt beim Namen nennt; wenn einer oder eine einmal „anders" ist, den Mächtigen und Etablierten und Festgefahrenen nur mal gelegentlich auf die Füße oder gegen das Schienbein tritt  -  dann hagelt es Protest und Widerspruch und die Aufregung ist groß. Dann wird er oder sie argwöhnisch beäugt, auf jeden Fehltritt hin belauert. Um dann nach einem tatsächlichen schweren Fehler totales Versagen attestiert und im Reißwolf der Boulevardmedien persönliche Integrität und Glaubwürdigkeit als irreparabel abgesprochen zu bekommen.  -  Und schon übernimmt wieder einer der betulichen älteren Männer das Sagen.

Und schlimmer, noch viel schlimmer, liebe Christen, ist alles, was unsere Gottesdienste betrifft. Sind sie nicht erstarrt in vorgeschriebenen Strukturen und liturgischen Abläufen? Von den Jahrtausende alten Psalmen und deren Vorstellungswelt, auf Grundschulniveau im Wechsel gesprochen, von den Jahrhunderte alten Liedern und deren Gottesbild, von dem „Es-ist-5-vor-12" - Tenor vieler Predigten gar nicht zu reden. Sind nicht unsere Kirchen wirklich manchmal nur noch „Grüfte und Grabmäler Gottes" (Friedrich Nietzsche)? Wie bloß sollen die fragenden, suchenden, oft genug verzweifelten und ausweglosen Menschen unserer Tage da Interesse entwickeln, Zugang finden, Hoffnung schöpfen können?!

Ja gut, zu Weihnachten schauen noch einmal ein paar mehr Leute herein in unsere Kirchen. Aber immer mehr begnügen sich auch mit der Weihnachtsmusik per Lautsprecher und Kerzenlicht beim Captains-Dinner auf einem Kreuzfahrtschiff. Oder einem mit Lametta geschmückten Tannenbaum in der Hotellobby auf Bali oder Formentera.  -  Auch von denen, die hierzulande in die Weihnachtsgottesdienste kommen, ist manch einer hinterher enttäuscht: Was? Die Jungfrauengeburt, der Stall zu Bethlehem, die Hirten und die Engel  -  alles nur Legende? Wenn der Pastor Schwierigkeiten mit der Bibel hat, soll er das doch mit dem Bischof besprechen!

Ostern  -  Leben gegen den Tod? Leben aus dem Tod? Greift die christliche Hoffnung über den Tod hinaus nicht ins Leere? Was bewirkt eine solche Hoffnung? Wie weit trägt sie? - Wem gelingt es noch, auf diese brennenden Fragen eine glaubwürdige, eine überzeugende Antwort zu geben?!

Pfingsten, der Geburtstag der Kirche. Für wie viele doch nur noch willkommene freie Tage!

Und in den Gemeinden: Nur noch open-air mit anschließendem Grillen, versteht sich. Am besten ökumenisch, mit der unter gleichem Besuchermangel leidenden katholischen Nachbargemeinde.

Trinitatis  -  Was meinen Sie? Wie bitte?!...

Was mich bei alledem persönlich am meisten aufregt, ich gebe es zu, ist die plumpe Effekthascherei. Da wird eingeladen zu einer Tangomesse. Tangomusik im Gottesdienst. Tangotänzer zwischen den Kirchenbänken. Und ja, die Menschen kommen. Um was zu sehen? Wie ihre Pastorin im Talar Tango tanzt? Oder um den dabei ausgeschänkten argentinischen Rotwein zu genießen? Irgendwie krass, finde ich jedenfalls.  -  Eine andere Gemeinde brachte es kürzlich in die Zeitung, weil sie am Palmsonntag zu einem Gottesdienst einlud, an dem ein leibhaftiger Esel teilnehmen sollte. Ausdrücklich wurde auch vermerkt, dass die Gottesdienstbesucher anschließend Gelegenheit hätten, das Grautier zu streicheln. Also wirklich doch: absolut unterirdisch!

Beispiel auf Beispiel ließe sich aneinanderreihen. Das alles soll Gottes Wille sein?! Das alles Ihm zur Ehre in Ewigkeit (v 36)?! „Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm alle Dinge" (ebd.)?! Auch alles das, was wir in Seinem Namen aufführen, alle Albernheiten und Torheiten?!

Ein Drittes und Letztes, liebe Christinnen und liebe Christen, wollte ich ja noch mit Ihnen bedenken. Für viele ist es die schlechthin entscheidende, schon mehrfach angesprochene Frage überhaupt: Wie bringen wir eigentlich den von Paulus so gepriesenen unbegreiflichen Gott zusammen mit den unbegreiflichen Dingen unseres ganz persönlichen Lebens?! Diese irritierenden Erfahrungen, aus denen unser Leben geformt wird  -  wo ist da der Sinn, wo ist da Gott, der uns „zum Ziele bringt, auch durch die Nacht"?

Ich sehe sie vor mir, jene Eltern, deren einziges Kind, ein 6-jähriges Mädchen, an Leukämie gestorben ist. Nicht nur das Kind, auch sie, die Eltern, haben einen langen verzweifelten Kampf hinter sich: vergebliche Hoffnungen auf Typisierungsaktionen, durchwachte und durchweinte Tage und Nächte auf der Kinderkrebsstation. Natürlich doch zweifeln und verzweifeln sie an der Liebe Gottes zu sich und zu ihrem Kind. Ihr Leiden und das Leiden ihres Kindes war gewiss auch ein Leiden an Gott und seiner Gegenwart, an die sie glauben wollen und es doch nicht können. Niemals würden sie, wie Hiob, das, was sie erlebt haben, auf die Formel bringen: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt" (Hiob 1, 21b). Niemals würden sie ihre Geschichte, wie Paulus seine Geschichte, mit den Worten deuten können: „Welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes" (v 33). Und Deuterojesaja, der alttestamentliche Prophet,... Deuterojesaja? Seine bekanntesten Worte, immer wieder auf Christus gedeutet, lauten: „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit" (Jes. 53, 4). Aber sie enden mit einem Bekenntnis der Zuversicht: „Er wird das Licht schauen und die Fülle haben" (Jes. 53, 11b). Wie ist das gemeint: ein gutes Ende nach dem schrecklichen Ende? Und eben dafür der Lobpreis? „Gloria in desertis" (Hanns Lilje)  -  Lob aus der Tiefe  -  und nirgendwo anders her? „Wer Gott verstehen will, der muss zu Grunde gehen", formuliert sogar ein Ausleger unseres Textes (G. Zinn in PrSt II/2, 1998, 54).

Unter diesem Aspekt nun noch einmal ein Blick auf den Paulus: Sollte er es wirklich nicht haben kommen sehen, was ihm bevorstand? Nach dem, was er schon alles bei der Verkündigung des Evangeliums hatte erleben müssen: Er war im Gefängnis gewesen, geschlagen, gesteinigt worden, in Seenot geraten, in Hunger und Durst, in Hitze und Kälte gewesen... (vgl. 2. Kor. 11, 23ff). Jetzt auf dem Weg in das Zentrum der damaligen Welt, nach Rom. Wie übrigens auch Petrus; und auch er auf dem Weg zu seiner Kreuzigung in den neronischen Gärten auf dem vatikanischen Hügel. Kann Paulus für sich in der Nachfolge seines Herrn etwas anderes erwartet haben?! Gut, als er seinen Brief an die römischen Christen schreibt, wird das Imperium nach dem Tod des Claudius (54 n. Chr.) von Seneca und Burrus noch vernünftig regiert. Aber dunkle Wolken zeigen sich schon am Horizont. Paulus wird also sein Schicksal geahnt haben: hingerichtet mit dem Schwert vor den Toren der Ewigen Stadt. Wahrscheinlich eben dort, wo heute eine der schönsten Kirchen Roms zu finden ist: St. Paul vor den Mauern. Sein Grab soll eben dort vor kurzem aufgefunden sein: Mit modernsten technischen Möglichkeiten wird an der Identifizierung gearbeitet. Nicht mit besonderem Eifer. Wohl absichtlich verlangsamt von denen, die um die Attraktivität des Petrusgrabes besorgt sind, auf dessen Fundamenten sie feudal residieren.

Paulus in jedem Fall ein aus vielen Gründen leidender Mensch. Und dennoch und trotz allem ein Gott lobpreisender Apostel. Ist es also wahr, liebe Christen, was hier zu erkennen ist, womöglich auch die einzige Möglichkeit, die uns bleibt: erst in die Tiefe stürzen zu müssen? Sich ganz und gar auf nichts anderes als auf die göttliche Rettung verlassen zu müssen? IHN erst dann und nur dann loben zu können?!

Die Eltern jenes an Leukämie gestorbenen 6-jährigen Mädchens habe ich an eine kleine symbolträchtige Geschichte erinnert, als Märchen gesammelt von den Gebrüdern Grimm. Dieses Märchen erzählt von einem armen Mädchen, das sich täglich an einen Brunnen setzen und soviel spinnen musste, bis ihm die Finger blutig wurden. Als es aber die Spule im Brunnen von diesem Blut reinigen wollte, fiel die Spule in die Tiefe des Brunnens. Die hartherzige Stiefmutter befahl ihm, die Spule wieder herauszuholen. Und dann heißt es da: „Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was es anfangen sollte, und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien...".

Wie ein „losgelassenes Schicksal" (Ernst Bloch) könnte uns allen manches noch bevorstehen: auf dem Weg in die Tiefe, zuletzt bestimmt durch das Tor des Todes. Das Leiden anzunehmen, es zu bejahen, um im Bild zu bleiben: mit Herzensangst in die Tiefe des Brunnens zu springen, um in dieser Tiefe „den Brunn alles Heils" zu entdecken. Und dann, wer weiß, nicht auszudenken: ein Lobpreis könnte unsere Antwort sein auf die Frage nach dem unbegreiflichen Gott. Und vielleicht mag es auch jetzt schon hier der eine oder die andere  - gegen das eigene verzagte Herz und womöglich unter Tränen -  mitsingen:

„Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe" (EG 585).

Liedvorschläge (in dieser Reihenfolge): EG 134/ 140/ 155 oder 194/ 585/ 171.



Dr. Dr. Günter Goldbach
Osnabrück
E-Mail: guenter.goldbach@uni-osnabrueck.de

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