Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Trinitatis, 30.05.2010

Predigt zu Römer 11:32-36, verfasst von Wolfgang Vögele

„Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?« Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß Gott es ihm vergelten müßte?« Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen."

Liebe Gemeinde,

Bei kleinen Kindern sieht man es am häufigsten. Kinder müssen es nicht lernen, es ist ihnen gleichsam angeboren. Erwachsene können es auch, aber sie vergessen es viel zu häufig. Wenn sie sich angestrengt darum bemühen, dann scheitern sie oft genug daran. Es ist eine Tätigkeit und gleichzeitig eine Haltung. Man erkennt die Haltung daran, daß den Menschen der Mund offen steht und die Augen groß und größer werden. Es verschlägt ihnen die Sprache. Es füllt sie mit Dankbarkeit, Offenheit und Freude. Es befriedigt ihre Neugier.

Worüber spreche ich?

Ich spreche über das Staunen. Der Königsweg zu Gott führt über das Staunen.

Der Beobachter kann sich selbst glücklich schätzen, der das Staunen an kleinen Kindern wahrnimmt. Sie sehen zum ersten Mal in ihrem Leben einen Brummkreisel, eine Dampflokomotive oder ein Riesenrad. Ihre Augen werden groß und ihr Mund öffnet sich sprachlos. Ihre unbefangene Aufmerksamkeit richtet sich vollkommen auf diesen Gegenstand. Sie sind durch nichts mehr abgelenkt. Sie sind neugierig, aufmerksam und gespannt. Sie wollen wissen, was das ist. Sie haben gar nicht damit gerechnet, daß es so etwas gibt. Und das Staunen verwandelt sich zuerst in Aufmerksamkeit, dann in Bewunderung, schließlich in Begeisterung. Dem staunenden Kind kann ein Brummkeisel oder eine Dampflokomotive genauso schön sein wie der Sternenhimmel. Mit einer Mischung aus Verblüffung, Neugier und Freude sehen sie Dinge zum ersten Mal. Was sie zum ersten Mal sehen, können sie noch nicht einordnen. Das Wahrnehmen ist noch nicht zur gelangweilten Routine geworden, die stets das immer Gleiche entdeckt. Staunen für Kinder bedeutet, Dinge und Personen zum ersten Mal zu sehen. Staunen für Erwachsene bedeutet, Dinge so anzusehen, als ob ich sie wieder wie beim ersten Mal sehen. Erwachsene haben es mit dem Staunen schwerer als Kinder. Sie müssen manchmal erst wieder lernen, was den Kindern von Geburt an zur Verfügung steht.

Erwachsene haben es schwerer zu staunen, weil sie zunächst einmal ihre Befangenheit überwinden müssen. Dem befangenen Erwachsenen stehen Erinnerungen, Kritik, Routine und die Meinung anderer Menschen im Weg. Alles schon einmal dagewesen! Das habe ich doch schon einmal gesehen! Gibt es im Fernsehen in viel schöneren und schärferen Farben.

Wer staunt und sich begeistert, macht sich ja auch angreifbar. Bei Erwachsenen ist diese erste Wahrnehmung oft abgeschliffen, sie müssen sie darum oft erst wieder mühsam entdecken. Es sind kleine Kinder, die dabei ihren Eltern oft auf großartige Weise helfen. Väter und Mütter, Patentanten und -onkel, Großeltern und viele andere begleiten kleine Babies von der Geburt an beim Älterwerden. Das ist einer der wichtigsten Wege, die engen Kanäle eigener routinierter Wahrnehmung zu durchbrechen und das Staunen neu zu lernen.

Kinder staunen über alles. Staunen ist die Fähigkeit, die grauen Mauern der Routine zu durchbrechen und sich von Großartigem, Schönem, Bewundernswertem überraschen zu lassen. Der Apostel Paulus hat von den Kindern gelernt: Er macht alle Anstrengungen, seinen Briefpartnern in Rom das Staunen über die Größe, Weisheit und Liebe Gottes neu nahe zu bringen. „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!"

Wer lernen will, über die Herrlichkeit Gottes zu staunen, sieht sich allerdings mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert. Denn Gott ist für uns auf eine andere Weise sichtbar wie die Dampfmaschine oder der Brummkreisel für die Vierjährigen.

Wie kann man diese Schwierigkeit überwinden? Der Schriftsteller Julien Green hat einmal in seinen Tagebüchern geschrieben, Staunen bedeute, die Schöpfung mit den Augen Adams zu sehen. In der Schöpfungsgeschichte gibt Adam als erster Menschden Tieren, Pflanzen und Dingen Namen gibt. Staunen bedeutet hier unterscheiden, als ein Besonderes erkennen. Adams Staunen ist dadurch bestimmt, daß er alle Tiere, Pflanzen und Dinge des Paradieses als Gottes Schöpfung wahrnimmt. Er erkennt in den Millionen und Abermillionen Details der Tier- und Pflanzenwelt die Schöpfung. Alles, Orchideen und Butterblumen, Schneeglöckchen und Mammutbäume, Vogelspinnen und Leoparden, Blauwale und Seeadler, Tropfsteinhöhlen und Korallenriffe, alles weist auf den Schöpfer hin, der die Welt in  ihrer Geschichte Gang gesetzt hat und am Leben erhält.

Staunen bedeutet, das Wunder und Geheimnis der Schöpfung wahrzunehmen und anzuerkennen. Schöpfung weist zurück auf den Schöpfer.

Der Apostel Paulus staunt nun über einen Gott, der weit mehr ist als der Schöpfer der Welt. Dieser Gott kümmert sich um die Welt. Was auf ihr geschieht, das läßt ihn nicht gleichgültig. Es hat eben nicht damit sein Bewenden, daß Gott die Welt geschaffen hat. Gott erhält diese Welt auch. Und er wird sie einmal erlösen.

Eines allerdings fällt den heutigen Hörern auf: Paulus staunt über die Unbegreiflichkeit und die Unerforschlichkeit Gottes. Damit setzt er sich über die Gewohnheiten - und die Gewöhnlichkeiten - eines heutigen geläufig gewordenen Gottesbildes hinweg. Viele Menschen loben den liebenden, den Menschen zugewandten, den barmherzigen Gott und vergessen darüber seine dunklen, seine verborgenen, seine den Menschen abgewandten Seiten. Aus der Bibel läßt sich das nicht richtig begründen. Die Bibel redet vom liebenden und dem zornigen Gott. Dieser Gott offenbart sich und er verbirgt sich. Er zeigt sich den Menschen, und er entzieht sich ihnen. Dieser Gott läßt sich nicht berechnen und nicht in seiner Tiefe durchschauen. Der Gott des Paulus ist in seiner Größe und Tiefe und Vielschichtigkeit dem flachen und zu einfachen Gottesbild unserer Tage himmelweit überlegen.

Mir scheint mir etwas Richtiges daran zu sein, daß Gott sich in der Bibel als ein Gott mit vielen Facetten vorstellt. Er ist kein starres Prinzip. Paulus spricht den Gott, der die Welt geschaffen hat, wie eine Person an: wandelbar und unterschiedlich in seinen Reaktionen. Paulus ist es ganz entscheidend wichtig, daß zwischen Gott und Mensch ein Unterschied besteht, der durch kein Lob- und Bittgebet zu überbrücken ist. Zwar versteht und durchschaut Gott den Menschen. Aber das Umgekehrte gilt nicht: Der Mensch kann Gott nicht bis in seine Tiefe durchschauen. Er muß vor seiner schieren Größe, seiner Unbegreiflichkeit und Unerforschlichkeit kapitulieren. Der Mensch, das Geschöpf, kann sich seinem Gott, dem Schöpfer, nicht gleichmachen. Das Buch des Predigers Salomo bemerkt dazu ganz nüchtern: „Denn Gott ist im Himmel und du auf Erden; darum laß deiner Worte wenig sein." (Pred 5,1) Den ersten Teil würde Paulus sofort unterschreiben, den zweiten aber nicht. Es ist wichtig, über den Unterschied zwischen Gott und Mensch zu sprechen.

Man kann diesen himmelweiten Unterschied zwischen Gott und Mensch nicht einfach überspringen. Paulus bewundert und bestaunt gerade die Unerforschlichkeit Gottes. Man kann darf das nicht einfach der Unzulänglichkeit oder Unfähigkeit des Menschen zuschreiben, wenn er Gottes Wege und Gedanken nicht vollständig erkennen kann.

Man kann diesem Gedanken auch eine ausgesprochen positive Wendung geben: Gut, daß Gott sich nicht so verhält, wie ich mir das denke und vorstelle. Gott hat andere Gedanken und Pläne mit den Menschen, und diese Gedanken und Pläne übersteigen bei weitem das individuelle Bewußtsein und das Planen des einzelnen.

Paulus stellt nicht einfach den Gott der Liebe, der sich in Christus bekannt gemacht hat, dem unbekannten, verborgenen, unerforschlichen Gott entgegen. Denn der Gott, der im Himmel ist (siehe das Buch des Predigers) ist ja auf die Erde herunter gekommen. Er ist Mensch geworden. Die Gegenüberstellung Gott im Himmel - Mensch auf Erden hat Gott selbst in Jesus Christus überwunden. Gott hat sich als Mensch erkennbar gemacht und gezeigt. Und er hat demonstriert, daß seine Barmherzigkeit seinen Zorn übertrifft.

Wir feiern heute das Trinitatisfest, nach Weihnachten, Ostern und Pfingsten im Kirchenjahr das unbekannteste und am meisten unverstandene aller Festtage im christlichen Jahreskreis. Das Trinitatisfest ist ein Fest des Staunens, des Lobens und des Preisens. Es feiert den Gott, der den Menschen in Christus entgegenkommt. Es feiert keine Lehre, schon gar nicht die komplizierte und unüberschaubare Trinitätslehre; das bleibt weiter den Theologen überlassen. An Trinitatis steht Gott, nicht die Gotteslehre im Mittelpunkt - genauso wie an Pfingsten eher der Heilige Geist als der Geburtstag der Kirche im Mittelpunkt der Predigten und Gebete stehen sollte. An Trinitatis feiern wir im Gottesdienst den allmächtigen und barmherzigen Gott, den Gott, der nicht bei sich selbst blieb, sondern in einer langen Geschichte von der Schöpfung über den Auszug Israels aus Ägypten, die Rückkehr Israels aus dem Babylonischen Exil und das Leben und Denken, das Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth die Nähe der Menschen suchte. Das ist kein unnahbarer, sondern ein beteiligter, engagierter und mit-leidender Gott. Deswegen verstehen wir Gott sozusagen dreifach: als Vater, als Sohn und als heiligen Geist. Gott bleibt nicht bei sich selbst, er wendet sich den Menschen zu, als Sohn, als Vater, als Geist.

Und es gibt nichts, wo dieser Gott nicht gegenwärtig wäre.Der entscheidende Satz in diesem Gebetshymnus des Paulus lautet: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge." Gott wird gelobt, weil er am Ursprung und am Ende alles menschlichen Lebens und der gesamten Schöpfung steht. In diesem hymnischen Satz liegt eine ungeheure Erleichterung. Denn die meisten Menschen verfallen immer wieder neu in den Fehler, daß sie sich selbst zum Maßstab aller Dinge machen: mein Erfolg, mein Wohlergehen, meine Beziehungen. Menschen können gar nicht anders als ihr Leben aus ihrer je eigenen, persönlichen und privaten Perspektive zu betrachten. Und dennoch führt sie diese am eigenen Leben orientierte Perspektive unweigerlich in die Sackgasse.

Deswegen lobt Paulus den Gott, der die Welt, das Leben und die Menschen ganz anders sieht als diese Menschen sich selbst sehen. In diesem Lob liegt eine außerordentliche Erleichterung. In diesem Lob liegt ein ganz entscheidender Wechsel der Perspektive. Es macht einen Unterschied, ob ich die Welt aus der Perspektive meiner eigenen Interessen oder aus dem Blickwinkel Gottes betrachte. Es macht einen Unterschied, ob ich Gottes Unerforschlichkeit annehme und lobe oder ob ich dagegen protestiere. Der Gottesdienst ist der Ort und die Zeit, um für wenige Augenblicke nur die Welt mit anderen Augen zu sehen. Wenn ich das tue, dann fange ich an zu staunen. Und aus dem Staunen folgt das Gebet.

„Ihm sei Ehre in Ewigkeit."

Amen.



PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
http://www.Christuskirche-Karlsruhe.de
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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