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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 20.06.2010

Predigt zu Lukas 15:11-32, verfasst von Peter Nejsum

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist mit Recht eines der berühmtesten Bilder für die Liebe Gottes: Er ist wie ein Vater, der dem Sohn entgegenläuft, den er tot glaubte, so froh, ihn wiederzusehen, dass er gar keine Zeit hat, die Bitte um Vergebung zu hören, die der Sohn vorbereitet hat, sondern er umarmt ihn, setzt ihn in seine alte Würde als Sohn wieder ein, lässt das gemästete Kalb schlachten und Flaschen entkorken, denn nun muss gefeiert werden! Es hätte an dieser Stelle enden können, das Gleichnis, es hätte die kleine Reihe von Gleichnissen krönen können, die Jesus hier im Lukasevangelium erzählt, wo die beiden ersten das Gleichnis vom Hirten mit den 100 Schafen ist, der seine Schafherde Schafherde sein lässt und sich aufmacht, um das eine Schaf zu finden, das sich verlaufen hat, und der so überaus froh ist, als er es wiederfindet, und das zweite das Gleichnis von der Frau, die eine Drachme verliert, und die vor Freude so ausgelassen ist, dass sie ihre Nachbarinnen zu einem Fest einlädt, als sie die Drachme endlich wiederfindet. Da hätte unser Gleichnis vom verlorenen Sohn auch von der Freude bei Gott handeln können darüber, das wiederzusehen, was er verloren glaubte.

            Aber das Gleichnis vom verlorenen Sohn geht weiter, und es führt ein Element in die Erzählung ein, das die Pointe problematisiert. Ein Element, das die Augen dafür öffnet, dass Liebe und Barmherzigkeit, auch wenn sie göttlicher Art ist, im Widerspruch steht zu einem anderen Begriff, nämlich dem der Gerechtigkeit. Ich denke natürlich an den anderen Bruder, den Tugendbold von Sohn, der immer seine Pflicht getan hat, der aber niemals auch nur einen Bock bekommen hat, um mit seinen Freunden zu feiern... und wie die Geschichte erzählt ist, so ist er es, mit dem wir uns identifizieren sollen. Und ich habe auch niemals einen Konfirmanden getroffen, der nicht lauthals für diesen Bruder Partei genommen hätte und der nicht der Meinung gewesen wäre, dass es total ungerecht gewesen sei - für Konfirmanden sind nämlich Geschwisterprobleme recht präsent. Obwohl die Geschichte unter dem Namen "das Gleichnis vom verlorenen Sohn" bekannt ist, ist es dennoch der ältere Bruder, um den es geht. Und das Bild vom Gottesverhältnis als einem Verhältnis Eltern-Kind gibt plötzlich Anlass zu Eifersucht zwischen Geschwistern in diesem Familiendrama.

            Und noch ein weiterer überraschender Zug: Die Erzählung endet nicht. Wir bleiben draußen vor dem Haus stehen, auf der Treppe, während der Vater hinausgegangen ist, um mit seinem Ältesten zu reden, der verbittert ist und nicht an dem Fest teilnehmen will. Aber es wird nichts darüber gesagt, welche Wirkung die Worte des Vaters gehabt haben. Es steht nichts davon da, ob der ältere Bruder zum Fest hineingegangen oder enttäuscht weggegangen ist. Der Konflikt findet keine Lösung. Und wir müssen auf eigene Faust weiterdichten. Was geschah dann eigentlich? Wie endet die Geschichte?

           

Es bieten sich verschiedene Möglichkeiten. Wir fühlen uns an Hollywood erinnert, wo man für viele Filme verschiedene Schlüsse dreht, unter denen der Regisseur (oder der Produzent) dann im letzten Augenblick "seinen" Schluss auswählt. Sei's drum!  Die erste Möglichkeit ist die eines feel-good-Schlusses, der so lauten würde: Der ältere Bruder dachte über die Worte seines Vaters nach. Er sah dem Vater in die Augen. Dann umarmte er ihn und ging mit ihm ins Haus, umarmte seinen Bruder, und sie feierten gemeinsam bis in die frühen Morgenstunden.

            Ist das ein guter Schluss? Es ist ein happy end, und dieser Ausgang hat offenbar seine Fürsprecher, aber hier bekommt der Zorn des Bruders, sein Gefühl des Gekränktseins und seine berechtigte Empörung keinen rechten Platz. "Was Vater sagt", hat hier in der Kirche großes Gewicht, aber es ist die Frage, ob das Wort des Vaters "alles, was mein ist, das ist dein", und weitere Argumente den großen Bruder befähigen, direkt zu Vergebung und Versöhnung zu springen. Ich kann jedenfalls von meinen Konfirmanden sagen, dass diejenigen unter ihnen, die dem großen Bruder beipflichten, sich nicht so leicht überzeugen lassen!

Aber es gibt auch die Möglichkeit eines tragischen Endes. Es könnte so lauten: Der ältere Bruder war voller Verachtung für den Vater, der wieder zu den Feiernden ging. Er konnte hören, wie sie prosteten und hurra riefen. Sie erzählten ihm nicht einmal, dass sie ein Fest veranstalteten, sondern ließen ihn auf dem Feld arbeiten. Und er riss die Tür auf, ging ins Haus und schlug seinen Bruder mit seiner Hacke auf den Kopf. Die Mutter schrie, der Vater warf sich tränenüberströmt über die Leiche seines Sohnes, und der ältere Sohn sah das Blut an seinen Händen, lief davon und irrte wie ein Geächteter umher, ohne Ruhe zu finden, sein Leben war zerstört, und zum Schluss machte er, von Schuldgefühlen geplagt, seinem Leben ein Ende.

            Selbstverständlich ist das kein erbaulicher Schluss, auch wenn er gewisse biblische Bezüge enthält, u.a. auf Kain und Abel. Vielleicht liegt er dem älteren Bruder auch gar nicht, aber so etwas kann man nicht wissen. Hier siegt der Zorn und der Neid über die Möglichkeit von Vergebung und Versöhnung. Befreiend ist allein, dass dieses Ende die Gefühle des älteren Bruders ernst nimmt und dass er uns nicht vorgaukelt, die Wirklichkeit sei mehr rosenrot, als sie es tatsächlich ist. Aber er will auch entlarven, wie ohnmächtig wir sind, wenn wir die Rache und Vergeltung wählen. Der Schluss hat einen kolossalen Preis. Es mag immer ein Leichtes sein, im Zorn die Tür zuzuschlagen und sich davonzumachen. Aber je härter man die Tür zugeschlagen hat, desto schwerer ist es, wieder zurückzukommen.

Man kann sich noch einen Schluss vorstellen. Er lautet so: Da ging der Vater ins Haus, aber der ältere Sohn blieb draußen. Er ging sicheren Schrittes davon. Er hatte einen Entschluss gefasst: Am folgenden Tag verließ er den Hof. Er nahm nichts mit von dem, was ihm gehörte. Er begab sich in eine fremdes Land, und durch sein Können und seinen Fleiß erwarb er ein Vermögen. Er nahm sich auch eine Frau und bekam Kinder, und sie litten keinen Mangel, es sei denn, dass sie sich wünschten, mehr Zeit mit ihrem Vater verbringen zu können, denn er arbeitete hart, er hatte ununterbrochen neue Projekte im Kopf und neue Initiativen, die das Geschäftsimperium erweitern sollten, das er aufgebaut hatte.

            Und jeden Tag dachte er: Ob mein Vater eines Tages hier vorbeikommt und mir um den Hals fällt und mir einen Kuss gibt? Er muss von mir gehört haben, gehört haben, was ich aufgebaut habe. Ob er vielleicht kommt? Und jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, sah er gespannt nach, ob sein Vater nicht gekommen sei. Aber sein Vater kam nie.

            Da ging er eines Tages in sich und dachte: Was ist das alles wert, wenn ich mich mit meinem Vater nicht aussöhne? Und dann machte er sich auf in seine Heimat, um sich mit seinem Vater zu versöhnen.

Und man kann sich viele andere Schlüsse vorstellen. Wer sagt eigentlich, dass er in sich ging in dem Schluss? Und wer sagt denn, dass er es nicht tat in dem Schluss, in dem er seinen Bruder totschlug - sein Vater hatte ihm doch vorher schon vergeben? Wer sagt eigentlich, dass er überhaupt etwas unternahm - dass er nicht einfach wieder an seine Arbeit ging, verbittert und gekränkt und mit eiskalter Luft zwischen dem Vater und sich selbst, und dass er im übrigen den Rest seines Lebens damit zubrachte, für eine Gesellschaftsordnung zu kämpfen, in der jeder seines Glückes Schmied ist und in der man je nach Verdienst belohnt oder bestraft wird?

Die Pointe ist, dass es keinen Schluss gibt. Deshalb unterlässt Jesus es auch, ihn zu erzählen. Man kann den Schluss nur für sich selbst erzählen, für seine eigene Person. Und man hat zu bemerken, dass dieser Vater in den entscheidenden Situationen keinerlei Finger im Spiel hat: Er hat nichts dagegen, als der jüngere Sohn sein Erbe ausbezahlt haben will, er hat nichts damit zu tun, dass der Sohn aus Bequemlichkeit den Entschluss fasst, wieder nach Hause zu kommen. Und er hat auch keinen Einfluss darauf, ob er zum Fest hineingeht oder nicht, und wie er er überhaupt reagiert. Es ist ihnen überlassen. Sie haben die Freiheit zu tun und zu lassen, was sie wollen.

            Das ist eine markante Aussage über Gott. Denn der Vater entspricht ja Gott in dem Gleichnis. Und deshalb ist das, was da gesagt wird, nur dies, dass Gott handelt, wie er handelt, mit einer Liebe, die eine Herausforderung für unsere Begriffe von Gerechtigkeit ist, und dass er mit dem Gedanken einer Übereinstimmung von Einsatz und Verdienst Schluss macht. Gott ist in dem Sinne ungerecht. Ich las im Zusammenhang mit unserer Sommerhochschule, deren Thema "Vergebung" war, über eine Frau, die vergewaltigt worden war, und sich einfach nicht mit dem Gedanken abfinden konnte, dass der Gewalttäter durch dasselbe Tor ins Himmelreich eingehen sollte wie sie selbst. Man kann sich leicht in sie hineinversetzen, finde ich, und es ist ja keine einfache Sache, dies Bild von Gott zu akzeptieren.

Aber an dieser Stelle bekommt uns das Gleichnis zu fassen. Wir müssen mit dieser Liebe einig werden, denn sie ist nicht zu ändern. Und deshalb besteht das Dilemma. Wenn Gott lieb und vergebend sein soll, müssen wir uns damit abfinden, dass seine Gerechtigkeit einigermaßen anderer Art ist als die unsrige. Dann müssen wir uns daran gewöhnen, dass es nicht nach Verdienst geht. Dass alle möglichen und unmöglichen Leute in das Reich Gottes eingelassen werden genauso wie wir. Und dass wir andere Menschen als Gottes Kinder betrachten müssen, nicht nur die, die uns am nächsten stehen, die, die uns gleichen, die, denen wir Sympathie und  Respekt entgegenbringen, aber auch die, die uns äußerst zuwider sind. Das ist der Preis dafür, dass wir den Gott haben, den wir haben. Und genau dies pointiert das Gleichnis von dem verlorenen Sohn.

            Welchen Schluß wir uns jeweils ausdenken, ist unsere Sache. Wir können uns dafür entscheiden, in der Verbitterung zu verharren oder trotzig unseren eigenen Weg gehen zu wollen, oder wir können uns dafür entscheiden, das zu tun, was nötig ist, um alle Schmach abstreifen und hineingehen zu können und mitfeiern zu können. Eines steht jedoch fest: Dass in dem Haus, das auch das unsrige ist, keine Unversöhnlichkeit oder Willkür herrscht, sondern dass hier ein Vaterherz schlägt. Es kann warten, auch auf uns.

Amen



Pastor Peter Nejsum
Slangerup (Dänemark)
E-Mail: pene@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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