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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 27.06.2010

Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Hans-Hermann Jantzen

(10) Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.

(11) Denn es steht geschrieben (Jesaja 45, 23): „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen."

(12) So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

(13) Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten, sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

Liebe Gemeinde,

da schreibt uns der Apostel Paulus gewichtige Sätze ins Stammbuch! „Lasst uns nicht mehr einer den andern richten, sondern richtet vielmehr darauf euern Sinn, dass niemand seinem Bruder oder seiner Schwester einen Anstoß oder Ärgernis bereite!" (Vers 13) Brandaktuell hört sich das an. Ein Ratschlag für unsere Streitkultur in Politik und Gesellschaft, auch in der Kirche.

Fast könnte man meinen, Paulus sei dabei gewesen bei den Streitereien der vergangenen Monate, habe aufmerksam die Zeitungen gelesen und die Nachrichten verfolgt:

-          Da macht sich ein Harald Schmidt in seiner Fernsehshow auf unerträgliche Weise über die zurückgetretene Hannoversche Landesbischöfin lustig.

-          Da werfen sich die Koalitionspartner in Berlin gegenseitig Schimpfwörter wie „Wildsau" oder „Gurkentruppe" an den Kopf.

-          Da kommentiert selbst eine seriöse Zeitung wie die Evangelische Zeitung in Hannover den Rücktritt des Bundespräsidenten mit „Pfui" und „schäbig".

-          Und innerkirchlich erlebe ich gerade einen Konflikt zwischen Kirchenvorstand und Kirchenkreisvorstand, wo beide Parteien alle Register ziehen, um die jeweils andere Seite in ein schlechtes Licht zu setzen.

„Lasst uns nicht mehr einer den andern richten, sondern richtet vielmehr darauf euern Sinn, dass niemand seinem Bruder oder seiner Schwester einen Anstoß oder Ärgernis bereite!" Ist Paulus nicht von dieser Welt? Weiß er nicht, wie es unter uns Menschen, auch unter Christen, zugeht? Da geraten sachliche Differenzen schnell auf die persönliche Ebene und bekommen eine emotionale Schärfe, die ihnen gar nicht zukommt. Statt zu argumentieren und den anderen zu überzeugen, wird der „Gegner" verdächtigt, verunglimpft, gekränkt.

Ich glaube nicht, dass Paulus weltfremd ist. Gerade weil ihm nichts Menschliches fremd ist; gerade weil er den Menschen richtig einschätzt und sich nichts vormacht über die Schwächen des menschlichen Charakters, redet er uns ins Gewissen.

Hat Paulus einen Anlass, so zu schreiben? Was ist los in der Gemeinde in Rom? Er kennt sie doch noch gar nicht. Bis Rom ist er auf seinen Reisen noch gar nicht gekommen! Nun, Nachrichten gab es auch damals schon. Paulus war zu Ohren gekommen, dass sich zwei Gruppen in der Gemeinde heftig bekämpften. Die einen waren im Judentum beheimatet, bevor sie Christen wurden. Die anderen stammen aus dem Umfeld der heidnischen römischen Kulte. Der Streit geht um die Grundsatzfrage: Wie viel Freiheit schenkt der Glaube an Jesus Christus? Darf man als Christ Fleisch essen, das vermutlich aus den heidnischen Tempeln stammt und den Göttern geopfert worden ist? Oder sollte man die Finger davon lassen? Muss man als Christ weiterhin den Sabbat mit all seinen Vorschriften beachten? Oder ist das jetzt ein Tag wie jeder andere? Die „Starken", die für sich die Freiheit des Glaubens in Anspruch nehmen, und die „Schwachen", die Skrupel haben, werfen sich gegenseitig vor, den Glauben zu verraten.

„Starke" und „Schwache" mag es unter uns auch geben. Der Genuss von Fleisch oder die Beachtung besonderer Feiertage ist nicht unser vordringliches Problem. Schon eher beargwöhnen wir uns, wenn es um den rechten Umgang mit der Heiligen Schrift geht: Wie weit dürfen wir die Texte der Bibel interpretieren? Ist die Schöpfungsgeschichte eine Schilderung über die Entstehung der Welt oder ist sie ein Mythos mit einem tiefgründigen Wahrheitsgehalt? Ist die Weihnachtsgeschichte eine Legende oder ein historischer Bericht? Dürfen wir bestimmte Aussagen der Bibel als zeitbedingt und damit für uns als überholt werten? Durchaus keine hergesuchte Frage, wenn Sie z.B. an die Frauenordination denken. In unserer Kirche sind zwar Pastorinnen bis hin zu Bischöfinnen allgemein akzeptiert. Aber andere Kirchen sehen das durchaus anders und führen immer wieder die Bibelstelle ins Feld: „Die Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen!" (1. Korintherbrief 14, 34)

Noch drängender berührt uns das Problem vermutlich bei der Frage: Wie politisch darf die Kirche sein? Ist es eine unzulässige Einmischung, wenn Kirchenvertreter das Sparpaket der Bundesregierung kritisieren und fordern, dass den sozial Schwachen nicht die Hauptlast der Einsparungen aufgebürdet werden darf? Bin ich zu weit gegangen, als ich mich auf dem Elbekirchentag in Hitzacker vor zwei Wochen gegen eine Vertiefung der mittleren Elbe ausgesprochen habe, weil ich das ökologisch und ökonomisch für nicht vertretbar halte? Überzieht die Kirche ihre eigentliche Aufgabe, wenn sie immer wieder vor den Gefahren der Atomenergie warnt? Auch unter uns gibt es Christenmenschen, die unserer Kirche eine größere politische Enthaltsamkeit empfehlen und statt dessen die Verkündigung und Seelsorge stärken möchten. Aber - ist das wirklich ein Gegensatz?

Wie ist das mit den Starken und den Schwachen? Beide Gruppierungen können auf die jeweils anderen ganz schön Druck ausüben, so dass ich manchmal nicht recht weiß: wer ist hier eigentlich stark und wer ist schwach? Wenn ein Pastor eine Mitarbeiterin als „Nervensäge" abtut, weil sie ihm ständig in den Ohren liegt, ihre Arbeit sei in dem Stundenrahmen nicht zu schaffen; wenn ein Kirchenvorstand ein Gemeindeglied auslacht, weil der Mann im Streit um die Gestaltung eines Grabplatzes sagt: „Aber Opa schaut doch von oben, vom Himmel zu!", dann erweisen sich die vermeintlich Starken als ziemlich schwach. Und am Ende bleiben auf beiden Seiten enttäuschte und gekränkte Menschen zurück.

Kann Paulus uns aus dieser Falle heraus helfen?

Zwei Aspekte empfinde ich als hilfreich:

1. „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt." Wir müssen also für unser Reden und Handeln vor Gott Rechenschaft ablegen, müssen uns verantworten. Das ist eine heilsame „Bremse", mich nicht forsch selbst im Recht zu wähnen und den andern ins Unrecht zu setzen. Wenn ich mich vor Gott verantworte, dann wird mir bewusst, wie oft ich selbst Unrecht getan habe, wie sehr ich selbst in Schuld verstrickt bin. „Was richtest du deinen Bruder? Was verachtest du deine Schwester?" Das sitzt. Ich halte inne. Ich schaue in den Spiegel - und erschrecke. Ich werde barmherziger mit mir und meinen Mitmenschen.

Mein Leben vor Gott verantworten, das folgt aus dem Bekenntnis zu Gott, das Paulus mit dem Jesajazitat in Erinnerung ruft: „Mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen." (V. 11). Weil Gott Gott bleibt; weil Gott der Herr ist und das Recht setzt, habe ich mich vor ihm zu verantworten.

Auf dem Hintergrund der Rechtfertigungsbotschaft ist das Bild vom Richterstuhl Gottes in unserer Kirche ziemlich verblasst. Gern nehme ich für mich in Anspruch, als Sünder von Gott gerecht gesprochen zu sein - aus Gnade. Aber die Rechtfertigung hebt das Gericht nicht auf, so als stünde es jetzt in meinem Belieben, was recht und unrecht ist! Ich behalte die Verantwortung für mein Leben. Das ist die ernsthafte Seite des Glaubens. Die tröstliche, befreiende gehört aber unbedingt dazu: es ist der Vater Jesu Christi, dem ich mich mit meiner Schuld, mit meinem guten Willen und meinem Unvermögen anvertrauen kann. Auf dem Richterstuhl sitzt Christus. Er hat das Lösegeld für meine Schuld schon bezahlt.

Diese konsequent evangelische Linie wird deutlich, wenn wir das ganze Kapitel 14 nachlesen. Als Christen dürfen wir getrost unterschiedliche Auffassungen vertreten. Wichtig ist, dass wir sie vor Gott verantworten können. Bei allem notwendigen Streit um den richtigen Weg gilt es immer zu bedenken: auch der andere mit seiner Meinung, die mir so gar nicht schmeckt, ist von Gott angenommen.

2. „Richtet darauf euern Sinn, dass niemand seinem Bruder und seiner Schwester Anstoß oder Ärgernis bereite." Das geht über die Mahnung, einander nicht zu richten, weit hinaus. Nicht nur den anderen nicht richten, nicht verurteilen, sondern positiv auf ihn zugehen. Wege zueinander ebnen statt Steine in den Weg legen.

Mich erinnert das sehr an Martin Luthers Erklärung zum 8. Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten:" Luther sagt sehr deutlich: nicht nur kein falsches Zeugnis verbreiten über andere; nicht nur nicht lügen oder jemanden hinter seinem Rücken schlecht machen, sondern „Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren!" Für Luther hängt das, ähnlich wie bei Paulus, am Bekenntnis: das 1. Gebot qualifiziert alle weiteren Gebote. „Ich bin der Herr, dein Gott!" Weil ich das glauben und bekennen darf, muss den anderen nicht schlecht machen. Ich stehe auf einer Stufe mit ihm vor Gott. Das hilft uns, uns gegenseitig als Bruder oder Schwester zu akzeptieren.

„Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn," schreibt Paulus. „Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn." Und fährt dann fort: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deine Schwester?"  Dass wir alle im Leben und Sterben vor Gott stehen, weist uns als Schwestern und Brüder aneinander. Dass jeder von uns sein Leben vor Gott zu verantworten hat, verhilft uns zur Einsicht in eigene Schwächen. Dass wir darauf vertrauen dürfen, dass Christus auf dem Richterstuhl Gottes sitzt, gibt uns die Freiheit, uns nicht zu Richtern übereinander aufzuspielen. Gott schenke uns den Mut zu fairem Streiten, wo es nötig ist. Und er schenke uns die Stärke, einander dabei kein Ärgernis zu bereiten.



Landessuperintendent Hans-Hermann Jantzen
Lüneburg
E-Mail: hans-hermann.jantzen@evlka.de

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