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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 27.06.2010

Predigt zu Römer 14:10-13, verfasst von Leo Karrer

Starke und Schwache in der Gemeinde

Zur Ausgangssituation

In der römischen Gemeinde ist es zur Zeit des Paulus zu Auseinandersetzungen gekommen. Es gab Polarisierungen in zwei Gruppen. Der judenchristliche Teil der römischen Gemeinde ist während Jahren infolge eines Ausweisungsdekretes des Kaisers Claudius dahingeschmolzen. Der heidenchristliche Teil wurde zahlenmässig nicht nur stärker, sondern auch selbstbewusster. Als nach Aufhebung des Ediktes die Juden wieder in die Stadt zurückkehrten, führte dies zu internen Konflikten. Der Gegensatz zwischen Juden und Griechen war damals nicht nur einer von Rasse und Volk, sondern vor allem ein religiöser. Von diesen Konflikten handeln die letzten Kapitel des Römerbriefes. Aber nicht nur die gemeindliche Situation in Rom, die Paulus bis dahin nicht aus eigener Erfahrung kannte, war Anlass zum Schreiben. Vermutlich dachte er an andere Gemeinden, vor allem an Jerusalem. Ja, dieses Schreiben darf in einem gewissen Sinn als theologisches Testament des Apostels verstanden werden (H. Venetz, S. Bieberstein).

In diesem Abschnitt des Römerbriefes charakterisiert Paulus die beiden Parteien als die „Starken" und die „Schwachen". Sie unterscheiden sich vor allem in ihrer Einstellung zum Genuss von Götzenopferfleisch und Wein. Interessant ist nun, dass der Apostel die verschiedenen Standpunkte nicht gegeneinander ausspielt. Vielmehr geht es ihm um die Einheit der Gemeinde, die gottesdienstliche Tischgemeinschaft und das gegenseitige Ertragen anderer Überzeugung. Was bedeutet eine brüderliche und schwesterliche Kirche, würden wir heute fragen. Schon kurz zuvor heisst es im Text: „Keiner von uns lebt für sich, und keiner stirbt für sich selbst" (14,7).

Christus gehören

Der Horizont, in den Paulus all diese Fragen stellt, ist Jesus Christus. Die „Christen gehören alle dem Herrn" (14,8). So betont er mit Berufung auf Jesaja: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich beugen jedes Knie und jede Zunge wird Gott lobpreisen" (14,11). Christus soll die Mitte aller Orientierung sein. Der Apostel sieht in Christus die Lösung für die Schwierigkeiten mit all ihren Spannungen und Streitereien. Es geht Paulus darum, Jesus im Glauben als den Herrn des eigenen Lebens anzunehmen und anzuerkennen, „denn wir werden uns ja alle vor dem Richterstuhl Gottes zu stellen haben" (14,10) und „jeder von uns wird über sich selbst Gott Rechenschaft abzulegen haben" (14,12). Jeder Christ und jede Christin sind in dieser Option mit all ihren Gnadengaben und Charismen für die Auferbauung der Gemeinde einbezogen (12,3ff, 1 Kor 12) und zu ihren Teilen mitverantwortlich. Christus ist somit das Richtmass für alles, was christliche Gemeinde ausmacht. In ihm öffnet sich die Einheit der Gemeinde als Gemeinsamkeit im Glauben. Und wenn es zu Spannungen kommt, dann soll man so handeln, „wie es der Liebe entspricht" (14,15). Damit ist das Wesentliche gesagt... für damals und für heute.

Auch heute aktuell

Die Worte des Paulus im Römerbrief verleugnen nicht die Realitäten und die konkrete Situation damals. Man kann sich somit die Konflikte in den Gemeinden, in den Kirchen und zwischen den Kirchen nicht grundsätzlich verübeln. Sie sind Bedingungen des Lebensalltags. Die Frage ist aber, wie wir mit Konflikten umgehen und in welcher Haltung wir miteinander umgehen. Die Probleme der Kirche sind meist auch die Orte der Problemlösung und der vorhandenen Ressourcen dafür.

Die theologischen Meinungsverschiedenheiten und religiösen Parteiungen bestimmen wieder vermehrt den Ton auch zwischen den Kirchen. Vor allem in der katholischen Kirche, aber auch in den Kirchen der Reformation kennen wir die Polarisierung zwischen den sog. „Traditionalisten" und den sog. „Progressiven", zwischen Fundamentalisten und sog. Liberalen. Die ängstlich gewordenen und religiös besorgten Menschen fragen, ob die zahlreichen Veränderungen in einer relativ kurzen Zeitspanne nicht doch die Fundamente des Glaubens ins Wanken gebracht haben; ob die modernen Theologen und Theologinnen nicht das Wesentliche verwässert haben, ob ihre alte Kirche noch die Sicherheit gewährende religiöse Heimat geblieben sei; ob nicht die frühere innere Geschlossenheit und der Friede verloren gegangen seien... Sie fragen, ob nicht wieder ein klarerer Kurs gesteuert werden müsse. Die eher traditionell orientierten Sorgen und Ängste sind vermutlich ein wichtiges Signal, ob Fortschritt zu Wildwuchs führt und ob nicht manches zu sterben droht, was zu retten wäre. Anderseits sind sie zu fragen, ob sie nur konservativ im Kirchenverständnis des 16. oder 19. Jahrhunderts stehen bleiben oder echte Traditionalisten sind, die den ganzen Reichtum der christlichen Tradition bis zurück zu ihren biblischen Quellen ernstnehmen. Es stellt sich auch die Glaubensfrage: vertrauen sie auf gewachsene Strukturen, Autoritäten und zeitbedingte Doktrinen oder auf den Geist, den Jesus der Kirche versprochen hat.

Ungeduldig gewordene „Reformer" fragen, ob man nicht allen Grund habe, über den restaurativen Kurs enttäuscht zu sein, weil die Neuaufbrüche seit dem letzten Konzil und die ökumenischen Annäherungen nicht kraftvoll vorangetrieben, sondern z.T. eher wieder blockiert werden; ob nicht gerade die römisch-katholische Kirche aus ihrer zentralistisch übersteuerten und patriarchalen Gestalt zu Reformschritten finden müsste und ob nicht allzu viel Energie für innerkirchliche Probleme vergeudet werde statt für den kritisch-prophetischen Dienst an der Welt und mit den Menschen; man ist z.B. hilflos angesichts der Verzögerung der innerkirchlichen Naherwartungen auf Reformschritte hin...

Auch diese Strömungen haben eine wichtige Aufgabe für die Zukunftskraft des gelebten Christentums. Natürlich können auch sie Opfer „ihrer" Brillen und ihrer hochgesteckten Ziele werden. Aber die Kirchen brauchen deren Kraft, Realitätsmut und die Vision der Ungeduldigen. Auch hier stellt sich die Glaubensfrage, worauf vertraut wird, auch wenn die berechtigten Anliegen nicht zum erwünschten Erfolg führen.

Die Empfehlung des Paulus: Nehmt Rücksicht

Der Ratschlag des Paulus, der sich auch im 1. Korintherbrief findet, ist eindeutig und z.T. geradezu überraschend: „Wir wollen einander also nicht mehr richten. Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoss zu geben und ihn nicht zu verführen" (14,13). Es geht um Umfangsformen in Zeiten der Krise, des Umbruchs mit allen Auf- und Abbrüchen und mit all den im Alltag so bemühenden Polarisierungen in verschiedene Lager. Entscheidend wäre nach Paulus, dass alle Lager, Gruppen und Strömungen von „Christus beherrscht" werden: Konservative wie Progressive, Schweigende wie Werbende, Ängstliche wie Ungeduldige, Aktive wie Meditative, Laien wie Klerus, Engagierte wie Distanzierte, Frauen wie Männer, junge wie ältere Menschen, wie eben das Leben so spielt.

Dabei fällt auf, wie Paulus die gegensätzlichen Standpunkte nicht billig einebnet oder gar nivelliert. Er würgt auch nicht das Glaubensgespräch ab. Er zwingt auch nicht alles unter einen Hut. Im Gegenteil! Er regt zur Achtsamkeit an, zum Dialog und zur Rücksicht dessen, der sich in der Position des „Stärkeren" wähnt, gegenüber dem, der als „Schwacher" erscheint. Die entscheidende Frage, auf die alles zuläuft, zeigt sich darin, ob wir alle zu Christus gehören. Letztlich mündet alles in die Frage, ob wir Gott nicht zu klein denken oder Gott letztlich alles überlassen.

Wem gehörst Du?

Die gläubige Vision von Paulus räumt mit einem selbstherrlichen Menschenbild auf. Was heisst aber dann, jetzt im Leben „Christus gehören"? Im paulinischen Sinn steht die Gottesfrage im Zentrum: das Ja Gottes der Liebe zum Menschen. Jesus Christus ist in Person dieses Ja Gottes - durch seine Botschaft, dass Gott das Heil aller Menschen will, durch sein heilendes Wirken und durch seine einzigartige Hingabe an Gott am Kreuz. Von Jesus Christus dürfen wir bekennen, was wir als Verheissung für alle Menschen empfangen: dass durch das konkrete Leben und Sterben hindurch Gott den Weg mit uns geht. In diesem Sinn ist das spezifisch Christliche das entscheidend Menschliche. Wer sonst in der Welt verkündet eine solch universale Heilshoffnung?

Im Zentrum stehen somit auch die Menschenfragen und die Hoffnung für uns. Es geht um den Primat der Liebe, um die Einheit von Menschen- und Gottesliebe. Damit sind die spirituellen Qualitätsmerkmale für die christlichen Gemeinden und für die Oekumene zwischen ihnen markiert. Für den christlichen Alltag bedeutet dies, selber zu gehen, aber nicht alleine, sondern mit anderen gemeinsam zu gehen und einander nicht alleine zu lassen. Damit sind wir wieder bei der Ausgangssituation des Römerbriefes und mitten in unserer heutigen Zeit mit ihren Nöten und Herausforderungen der Welt und mit ihren Spannungen und Suchbewegungen in unseren Kirchen.

Auch heute gilt ein anderes Pauluswort: „Ihr alle seid durch den Glauben Töchter und Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer' in Christus Jesus" (Gal 3,26ff). Die Kirche ist also immer noch gefordert, das Taufbekenntnis, das Paulus zitiert, in ihrem eigenen Leben einzuholen. Dadurch würde sie einen wichtigen Dienst gegenüber einer Gesellschaft wahrnehmen, die ihrerseits von Spannungen und Widersprüchen geprägt ist.

Kirche als Gemeinschaft von Glaubenden an Jesus Christus wächst weder von oben noch von unten, weder von rechts noch von links, sondern von innen her. Denn die Stunde der Kirche erfüllt sich insofern, als sie die Zeit Gottes in der Zeit der Menschheit ist. Die Verheissungen an Abraham geben einen feinen Hinweis darauf: „Brich auf... und sei ein Segen" (Gen 12,1).



Prof. Dr. Leo Karrer

E-Mail: Leo.karrer@bluewin.ch

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