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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 27.06.2010

Predigt zu Matthäus 5:43-48, verfasst von Peter Lind

"Als Jesus das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: ..." So beginnt der Abschnitt im Matthäusevangelium, den man Bergpredigt nennt, weil er, wie gesagt, auf einem Berg spielt. Im Lukasevangelium spielt sich weitgehend dieselbe Rede auf einer großen Ebene ab, aber anstatt eine Diskussion darüber anzufangen, wer von den beiden Evangelisten Recht hat, ist es weitaus interessanter herauszufinden, warum Matthäus meint, diese wichtige Rede müsse auf einem Berg und an keinem anderen Ort stattfinden.

            Matthäus bemüht sich mehrfach, den Bericht über Jesus Christus ähnlichen Ereignissen im Alten Testament entsprechen zu lassen, um auf diese Weise anschaulich zu machen, dass Jesus wirklich die Erfüllung der Verheißungen des Alten Testaments ist, und eine sehr wichtige Erzählung im ganzen Alten Testament ist die Schilderung, wie Moses von Gott auf dem Berg Sinai die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten erhält. Dieses Ereignis auf dem Berg bildet die Grundlage für das Verhältnis zwischen dem Volk Israel und Gott; das Gesetz, die Zehn Gebote, in denen klar und deutlich gesagt ist, du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren usw. Gebote, die im Prinzip bis auf den heutigen Tag das Fundament des Grundgesetztes einer jeden zivilisierten Gesellschaft bilden, weil diese Gebote so präzise und so klar die Dinge nennen, die für die Stabilität und das Bestehen einer Gesellschaft entscheidend sind; nämlich den Respekt vor dem Nächsten, was im Alten Testament vor allem heißt: vor seinem Landsmann.

            Wie wir vorhin in der Lesung aus dem Alten Testament gehört haben, enthält das Alte Testament auch zahlreiche Anweisungen zum Schutz des Fremden wie auch des Waisen und der Witwe, aber die Zehn Gebote handeln in erster Linie davon, die Stabilität in der eigenen Gesellschaft zu bewahren, damit sie gegenüber Angriffen von außen nicht verwundbar ist, und es gibt sicher viele Menschen, die der Auffassung sind, von der heutigen politischen Haltung in Israel geht eine direkte Linie zurück zu der Haltung in den Zehn Geboten gegenüber denjenigen, die draußen stehen - gegenüber den Feinden.

            Matthäus lässt hier auf dem Berg Jesus als einen zweiten und neuen Mose dieses in jüdischer Identität und jüdischem Selbstverständnis tief verwurzelte Element kommentieren. Und mit jedem Gebot verschärft Jesus die Forderung an den Menschen, wie man sich gegenüber seinem Nächsten zu verhalten hat, und das wesentlichste ist in Wirklichkeit, dass die Auffassung, wer mein Nächster ist, dahingehend geändert wird, dass der Begriff alle Menschen umfasst; jetzt also soll nicht mehr nur mein Landsmann, mit dem ich sonst Herkunft, Religion und Sprache teile, sondern auch der Fremde, mein potentieller Feind, mein Nächster sein und damit in die Forderung der Nächstenliebe mit eingeschlossen sein!

            Das ist starker Tobak. Und das war es für die Zuhörer Jesu damals, und so muss es eigentlich noch immer überall in der Welt für einen jeden Menschen sein, der diese Worte hört: "Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!" Diese Forderung steht ganz einfach im Widerspruch zur menschlichen Natur, ja zu jeglicher Form von Logik, weil ein Feind und Verfolger doch per Definition gehasst werden muss, wenn man denn überleben können soll; ja, hier geht es nicht nur um einen selbst und das eigene private Schicksal, sondern es geht um das Schicksal der gesamten Gesellschaft: Wenn man einen eventuellen Feind nicht hasst, dann ist man ein ernsthaftes Risiko für das Überleben seiner eigenen Gesellschaft. Es ist beinahe Verrat, wenn man seinen Feind nicht hasst.

            Aber zugleich muss man auch zugeben: wenn es sich wirklich machen ließe, wenn es tatsächlich durchführbar wäre, dass alle Menschen sich zur selben Zeit darauf einigen würden, diesem Gebot Jesu zu folgen, so dass alle ihren Feind und Verfolger lieben könnten, dann wäre das das Ende von Mord und Krieg und ethnischen Säuberungen und damit des größten Teils der Not und des Elends, worunter unsere Welt ständig leidet. Es wäre die Erfüllung des innigsten Traumes der meisten Menschen. Eine Welt ohne Krieg und ohne Hass.

            Es wäre schön. Aber es ist und bleibt ein Traum. Eine Utopie. Eine Illusion. Womit ich nicht gesagt haben möchte, dass man nicht fortgesetzt darauf hoffen und dafür kämpfen soll, dass Friede und Verständnis und Harmonie zwischen allen Mensschen in die Welt einkehrt, denn selbstverständlich soll man danach streben; aber es wird nie so kommen. Es kann nie so kommen, weil wir Menschen nun einmal so sind. Der Hass und die Rache ist ein Teil unserer Natur, ein Teil unseres Instinkts fürs Überleben, der sich einfach nicht unterdrücken lässt und der wohl auch gar nicht unterdrückt werden soll, gerade weil er die einzige Garantie fürs Überleben ist. Wenn die Dänen, die Polen, die Holländer, die Norweger, die Engländer usw. nur die Nazis geliebt hätten, als sie im Zweiten Weltkrieg mit ihren Panzern und Ideen von Rassenreinheit und Oberherrschaft angewalzt kamen, würde die Welt Hitler und seinen zahllosen wahnsinnigen Gesinnungsgenossen gehört haben, wie man sie in mehr oder weniger katastrophalem Umfang zu jeder Zeit und allerorten antreffen kann. Man kann nicht und darf nicht die andere Backe hinhalten, wenn solche Menschen versuchen, die Macht zu erobern. Es wäre Verrat nicht bloß an der eigenen Natur, sondern auch am Nächsten - im Massengrab, im Konzentrationslager; ja, es wäre Verrat an der Menschheit.

            Aber es ist ein Dilemma, für das es überhaupt keine billigen und leichten Lösungen gibt, weder in die eine noch in die andere Richtung. Obwohl man also realistischerweise anerkennen muss, dass es unmöglich ist, seinen Feind zu lieben und für seinen Verfolger zu bitten, so muss man auf der anderen Seite auch an der Auslegung des Wortes Jesu festhalten, die Brorson in dem Lied, das wir gerade gesungen haben, formuliert hat:

            Soll Liebe sich bewähren,

            dann muss sie deinen Feind erreichen,

            dass du sanft bist, wenn er zürnt,

            das ist christliche Liebe.

Obwohl Friede vielleicht nicht in der ganzen Welt geschaffen werden kann, müssen diese Worte als eine Forderung an uns gerichtet sein. Als eine Forderung, die uns zum Nachdenken darüber veranlasst, was wir eigentlich tun; ob es nicht in Wirklichkeit eine andere Art und Weise des Lebens gibt, als die des Hasses und der Gewalt. Südafrikas langer, schwerer und sehr schmerzhafter, aber auch unglaublich lebensbejahender und hoffnungsvoller Weg zur Versöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen nach der Apartheit ist ein phantastisches Beispiel mitten in einer Welt, in der es sonst so schwer ist, einander zu vergeben und sich miteinander zu versöhnen. Wie soll z.B. im Nahen Osten jemals Friede kommen, wenn man nicht irgendwann seinen Feinden und Verfolgern den Hass und die Übergriffe vergibt, die begangen worden sind?

            Brorson lebte zu einer Zeit, in der man gewiss in mancherlei Hinsicht idealistischer und hoffnungsvoller zu sein wagte als heute, wo Vernunft, Realismus und gelegentlich Zynismus die Brillen sind, durch die man die Welt betrachtet. Deshalb kann dieses Lied heute auf den ersten Blick unbegreiflich naiv und unrealistisch wirken. Sieht man aber gnauer hin, entdeckt man jedoch - wie so oft bei Brorson, dass er die Dinge bestimmt nicht leicht nimmt in einer Art redseliger Weltsicht. Merkwürdigerweise hat man sich vor einigen Jahren, als die neue Ausgabe des Kirchengesangbuchs erschien, dazu entschlossen, eine Strophe auszulassen, die eigentlich sehr direkt am Realismus und an der Hoffnung festhielt. Sie lautete so:

Und willst du sagen: Ich kann
nicht lieben meinen Neider,
so bezeugst du, dass du nicht verstehst,
was Jesu Liebe vermag.

Zwar hält Brorson in den restlichen Versen des Liedes daran fest, dass Jesu vergebende Liebe z.B. zu seinen Henkern, als er am Kreuz hängt, für uns ein Beispiel zur Nachahmung sein soll; und da müssen wir - wie gesagt - fast schon im Voraus aufgeben; aber das Wesentliche ist, dass er trotzdem die Aufmerksamkeit auf Jesu und damit Gottes Liebe lenken kann. Denn um sie geht es natürlich, wie es selbstverständlich auch vor allem um die Vollkommenheit Gottes und nicht unsere Vollkommenheit geht. Denn Jesus verkündet ein Evangelium; eine frohe Botschaft, die erzählt, dass etwas geschehen ist - für uns. Als Mose die Tafeln auf dem Sinai empfing und nach einigen Schwierigkeiten dem Volk etwas über die Zehn Gebote sagen konnte, bestand keinerlei Zweifel, dass dies ein Gesetz war, das zu befolgen war, und wenn man sich nicht nach den Geboten richtete, würde man bestraft.

            Was Jesus hier auf dem Berg im Matthäusevangelium verkündet und was von der Krippe in Bethlehem bis hin zum Kreuz auf Golgatha und dem leeren Grab am Ostermorgen verkündet wird, ist kein Gesetz. Es ist nicht einmal Moral, wie man sonst oft das Evangelium auslegen will. Es ist die Botschaft, dass Gott dich so sehr liebt, dass er seinen eigenen Sohn dem Leiden und Tod hingegeben hat, damit du verstehen kannst, dass du die Vergebung deiner Sünden hast, wie es dir bei der Taufe zugesagt worden ist. Die Botschaft von der vollkommenen und vergebenden Liebe Gottes macht, dass wir, ungeachtet, wie wir sonst unser Leben führen und unsere Welt einrichten, allzeit glauben und hoffen können, dass wir dort bei Gott im Glauben an seine Gnade und Barmherzigkeit einen neuen Anfang machen können.

            Man sagt, dass die Weber von echten, persischen Teppichen immer dafür sorgen, dass ein ganz kleiner Fehler in ihre Teppiche eingewebt wird, weil sie nicht den blasphemischen Gedanken riskieren wollen, dass ihre Teppiche vollkommen wären, denn vollkommen ist nur einer, nämlich Gott! Das ist eine gute Pointe. Wir sollen nicht glauben, wir könnten vollkommen werden. Jedesmal in der Weltgeschichte, wenn Menschen behauptet haben, sie seien vollkommen, hat das in der Regel unfassbare Tragödien und Leiden mit sich gebracht. Wir sollen in unserer Welt in der Erkenntnis leben, dass wir unvollkommen sind, zugleich aber in dem Glauben und in der Hoffnung auf die vollkommene Liebe, die ein für alle Mal ein Teil unseres Lebens und unserer Welt in Jesus Christus geworden ist. Denn nur in der Hoffnung können wir manchmal die Gesetze der Natur und der Logik brechen und der Vergebung und der Liebe eine Chance geben für einen Sieg über den Hass.

Amen



Pastor Peter Lind
Middelfart (Dänemark)
E-Mail: pli@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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