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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 08.08.2010

Predigt zu Römer 9:1-8.14-16, verfasst von Wolfgang Vögele

„Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen. Aber ich sage damit nicht, daß Gottes Wort hinfällig geworden sei. Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen; auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder. Sondern nur »was von Isaak stammt, soll dein Geschlecht genannt werden«, das heißt: nicht das sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern nur die Kinder der Verheißung werden als seine Nachkommenschaft anerkannt. (...) Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen."

 

Liebe Gemeinde,

das Licht auf dem Ölbild fällt schräg von oben auf die Gesichtszüge des älteren Mannes. Er trägt einen lose gebundenen gelb-weißen Turban, den er ein wenig in den Nacken geschoben hat. Über den Ohren quellen graue lockige Haare hervor. Die hohe Stirn ist in Falten gelegt, die Augenbrauen sind hochgezogen. Man hat den Eindruck, der ältere Mann sei mit einer Mischung aus Zweifel, Resignation, ein wenig Sturheit und gerade überstandene Qualen belastet. Die dunklen Knopfaugen scheinen den Betrachter zu fragen: Was schaust du mich an in meinem Elend? Der alte Mann trägt einen langen dunklen Mantel.

Offensichtlich ist er überrascht. Er hat bis gerade eben gelesen, denn in der Hand hält er ein Buch mit angedeuteten hebräischen Buchstaben. Er schaut so, als ob der Betrachter ihn beim Studieren gestört hätte. Wer das Bild genauer anschaut, sieht einen Intellektuellen, der mit sich selbst nicht im Reinen ist. Neben dem Buch mit der hebräischen Schrift ist im Schatten so etwas wie der Knauf eines Schwertes zu erahnen. Wer sich in der Bildersprache biblischer Geschichten auskennt, der weiß nun, daß er den Apostel Paulus vor sich hat. Das Buch steht für den gelehrten Theologen, das Schwert für seinen Märtyrertod.

Das Bild stammt aus dem Jahr 1661, und gemalt hat es der Helldunkel-Künstler, der berühmte Rembrandt van Rijn (http://www.rijksmuseum.nl/aria/aria_assets/SK-A-4050?lang=en). Heute hängt es im Rijksmuseum in Amsterdam.

Ich habe das Bild für den Anfang ausgewählt, weil es den Menschen Paulus zeigt, den ergrauten Christenmenschen, mit allen seinen dunklen Zweifeln und seinem tiefen Glaubenseifer. Rembrandt hat versucht, sichtbar zu machen, was sich sonst hinter den Buchstaben und Worten der paulinischen Briefe verbirgt. Rembrandt wollte kein Porträt des Apostels malen, er wollte in einen sichtbaren Menschen, in ein Bild umprägen, was er in den Briefen an theologischen Glaubensstürmen abgelesen hatte. Paulus war eine schillernde Persönlichkeit, die mit großer Hartnäckigkeit und intellektueller Brillanz die Anfänge des christlichen Glaubens unnachahmlich geprägt hat: ein streitbarer Gemeindegründer, ein einfühlsamer Briefschreiber, ein präziser Theologe und Schriftgelehrter, ein ebenso aufbrausender wie liebevoller frommer Mann mit einem Hang zur Mystik, ein rastloser Missionar.

In der Passage des Predigttextes stehen Gefühle und Gedanken des Glaubens in einer spannungsvollen Mischung unmittelbar nebeneinander. Paulus sagt: Christus ist mein Zeuge. Ich habe Traurigkeit und Schmerzen in meinem Herzen. Es zerreißt mich. Ich kann das weder im Herzen noch im Kopf miteinander verknüpfen.

Was ist das, das Paulus nicht miteinander vereinbaren kann? Wieso fühlt er sich hin- und hergerissen?

Paulus wurde als Jude geboren, und er wuchs überzeugt im jüdischen Glauben auf. Im Philipperbrief schreibt er, er sei „am achten Tag beschnitten (...), aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer (...)." Nun aber hat Paulus erkannt: Ein Mensch gelangt nicht durch Gebote und Regeln zu Gott, sondern nur durch die Liebe Christi, des gekreuzigten und auferstandenen Herrn.

All das hat er gedanklich in den ersten acht Kapiteln des Römerbriefs entwickelt, und diese Überlegungen gipfelten in dem Spitzensatz am Ende von Römer 8: „Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn." (Röm 8,31) Genau an diesen Vers schließen die herzzerreißenden Überlegungen an, die heute Gegenstand dieser Predigt sind.

Wenn die Liebe Gottes in Jesus Christus für die Glaubenden entscheidend ist, was ist dann mit den göttlichen Verheißungen, die dem Volk Israel gelten? Gott hat doch allen Kindern, die Nachfahren Abrahams sind, seinen Segen verheißen. Er hat mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen und diesen Bund auch erneuert. Gott hat dem Volk Israel am Sinai Gesetze und Regeln für Alltagsleben und Gottesdienst gegeben. Und der Heiland Jesus von Nazareth kommt doch auch aus dem Volk Israel und hat als jüdischer Theologe gelebt und als Wunderheiler gewirkt.

Paulus fragt sich nun: Gilt das alles nicht mehr? Waren die Verheißungen nicht gültig? Und dahinter steht auch die unausgesprochene Frage: Hat Gott sich selbst widersprochen? Hat er die Menschen mit seinen Verheißungen in die Irre geführt? Ist das Volk Israel, dem die Verheißungen gelten, in Wahrheit verworfen? Oder gibt es mit Glauben und Gesetz mehrere Wege, die zu Gott führen?

Es ist wichtig, sich zu verdeutlichen, daß sich hier zwei theologische Alternativen gegenüber stehen: der Glaube Israels und der Glaube an Jesus Christus, der aus diesem Glauben Israels hervorgegangen ist. Der Glaube an Christus ist im Glauben an Israel verwurzelt und nicht von ihm zu trennen. Christliche Gemeinde und Synagoge stehen einander nicht ausschließend oder abgrenzend gegenüber, sie sind als Geschwister desselben Vaters miteinander verbunden. Gerade weil sie so viel gemeinsam haben, zerreißt es Paulus das Herz. Ist denn Gott ungerecht? Widerspricht er sich? fragt Paulus.

Gott kann doch nicht ungerecht sein! Jahrhundertelang hat die christliche Kirche diese Frage so beantwortet: Der jüdische Glaubensweg ist durch den christlichen Glaubensweg abgelöst worden. Nach Jesus Christus gelten die Verheißungen Gottes an Israel nicht mehr in derselben Weise wie vorher. Die gesellschaftlichen und sozialen Folgen dieser theologischen Auslegung des Römerbriefs waren verheerend: Beleidigungen, Vorurteile, Diskriminierungen, Judenverfolgungen, Pogrome und noch mehr. Es wäre darüber unendlich viel zu sagen.

Heute stellen wir diese Auslegung, die den Primat des Christlichen behauptet, aus verschiedenen Gründen in Frage. Die Zerrissenheit, die Paulus in dem Brief zum Ausdruck bringt, wird in dieser Bevorzugung des Christlichen nicht ernst genommen. Paulus stellt eher eine Frage und sagt: Ich weiß nicht, welche Antwort ich geben soll. Denn beide Antworten, die mir möglich scheinen, haben etwas an sich, das ich theologisch nicht richtig finde.

Wenn der christliche Glaube im Vordergrund steht, dann kann ich mir schlecht vorstellen, daß Gottes Verheißungen für Israel nicht mehr gelten sollen. Wenn trotz des christlichen Glaubens auch die Verheißungen an Israel weiter gelten, dann scheint es zwei Heilswege zu geben, die einander ausschließen. Die Ratlosigkeit, die Paulus hier so glaubwürdig vermittelt, darf nicht einseitig aufgelöst werden. Man darf Paulus nicht Antworten unterstellen, die er so gar nicht gibt. Er stellt nur eine Frage .

Nun findet sich aber bei Paulus etwas später a doch die Andeutung einer Antwort. Diese Antwort allerdings vermeidet alle diejenige antijüdische Rechthaberei, welche die christliche Theologie über Jahrhunderte aus den Gedankengängen des Apostels herausgelesen hat. Diese Antwort bedient sich des damals gängigen Mittels des Beweises aus der heiligen Schrift. Paulus zitiert aus dem 2.Buch Mose. Gott sagt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich." Damit wird die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? vom Menschen weggeschoben. Es kommt nicht mehr auf den Modus des Glaubens an, sondern auf Gottes Erbarmen.

 Auch die andere entscheidende Fragen verändern sich. Die Fragen lautet nicht mehr: Was muß ich tun, um bei Gott gnädig angesehen zu werden? Glauben und Vertrauen oder das Gesetz befolgen oder beides? Die Frage lautet dann: Welche Menschen sieht Gott gnädig und mit Erbarmen an und welche nicht? Nach meiner Überzeugung liegt etwas Befreiendes darin, daß Paulus den Menschen mit dieser Antwort eine Bürde abnimmt, die Bürde nämlich, sich durch ein bestimmtes Handeln oder Verhalten für Gottes Gnade zu qualifizieren. Paulus stellt dem mit dem Bibelzitat aus dem 2.Buch Mose eine ganz anderes theologisches Denken gegenüber: Gott entscheidet selbst, wem er Gnade gewährt oder nicht.

Aber auch diese Antwort hat ihre Schwierigkeiten. Denn man darf das nicht so mißverstehen, als würde Gott willkürlich den einen begnadigen und den anderen verdammen. Und damit wäre jede Gewißheit des Glaubens verloren gegangen. Der Gott, von dem Paulus spricht, lebt aus überbordender Liebe, von daher muß man diesen Satz verstehen.

Man kann die Frage stellen: All diese theologischen Überlegungen, all diese Herzensunsicherheiten des Paulus - was geht uns das heute an, was haben wir damit zu schaffen? Sind das nicht theologische Streitigkeiten, die lange hinter uns liegen?

Einen Schlüssel zur Beantwortung dieser letzten Frage gibt uns ein zweites Mal das Bild von Rembrandt, das ich am Anfang kurz beschrieben habe. Denn Rembrandt hat nicht nur Paulus mit Schwertknauf und Bibel gemalt. Er hat in diesem Bild auch sich selbst als den Apostel Paulus gemalt. Der genaue Titel des Bildes lautet: „Selbstportrait als Apostel Paulus". Und damit gibt Rembrandt einen Fingerzeig für die Auslegung von Römer 9.

Rembrandt stellt sich selbst als Paulus dar. Er sagt damit: Die Unsicherheit, die den Paulus gelegentlich befallen hat, seine selbstquälerischen Grübeleien, seine theologischen Gedanken, seine Verzweiflung und seine Glaubensgewißheit - darin finde ich mich wieder.

Den jüdischen Christen Paulus quälte die Frage: Nimmt Gott mich gnädig an? Auf welchem Weg kann ich seine Gnade erlangen? Das sind Fragen, die jeden Menschen bewegen, der Gott aufrichtig glauben und vertrauen will. Niemand wird diese Fragen einfach beiseite schieben, sondern sich damit im Herzen und im Kopf auseinandersetzen.

Und der Weg, den Paulus andeutet, ist ein Weg, der weiterhilft. Auf der einen Seite ist es so, daß Gott selbst entscheiden wird, wem er gnädig ist und wessen er sich erbarmt. Auf der anderen Seite stellt sich Gott in beiden Teilen der Bibel als ein Gott dar, der allen Menschen barmherzig und gnädig entgegenkommt. Gott ist kein willkürliches Schicksal, sondern ein Gott, der sich an seine Verheißungen hält, wenn es sein muß, auch jenseits der Widersprüche, die sich aus menschlichen theologischen Überlegungen ergeben.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und alle Theologie, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.



PD Dr. Wolfgang Vögele
www.Christuskirche-Karlsruhe.de
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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