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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 08.08.2010

Predigt zu Römer 9:1-5.31-10,4 , verfasst von Titus Reinmuth

Liebe Gemeinde,

einer der für den heutigen Israel-Sonntag vorgeschlagenen Predigttexte steht im Brief des Apostels Paulus an die Römer.

Paulus schreibt im 9.Kapitel:

(9,1) Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, (2) daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.

(3) Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, (4) die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, (5) denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.

(9,31) Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet und hat das Gesetz doch nicht erreicht. (32) Warum? Weil es ihm nicht aus Glauben nachtrachtete, sondern wie aus Werken.

Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes, (33) wie geschrieben steht: Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden. (10,1) Liebe Brüder, der Wunsch meines Herzens und mein Gebet zu Gott

für sie ist, daß sie gerettet werden. (2) Denn ich bezeuge ihnen, daß sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. (3) denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerech- tigkeit Gottes nicht untertan. (4) Denn das Ziel des Gesetzes ist Christus, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.

 

Liebe Gemeinde,

der zehnte Sonntag nach Trinitatis, der so genannte Israel-Sonntag, stellt uns vor schwierige Fragen. Christen und Juden, Juden und Christen - es ist ein nach wie vor schweres Miteinander, wenn es denn überhaupt ein Miteinander ist. Die Synagogen in unserem Land werden noch immer bewacht, wer ein jüdisches Gotteshaus besucht, betritt das Gebäude meist wie einen Flughafen - mit Sicherheitskontrollen. Im Herbst dieses Jahres wird Charlotte Knobloch als Präsidentin des Zentralrats der Juden abtreten. Sie ist 77 Jahre alt. Jetzt erst wird ein Generationswechsel vollzogen. Als aussichtsreichster Kandidat gilt Vizepräsident Dieter Graumann. Er ist 59 und wäre der erste Sprecher der Juden in Deutschland, der nicht mehr Zeuge des Holocausts war. Die Presse spricht von einem Epochenwechsel. Christen und Juden in Deutschland - normal und entspannt ist hier fast nichts. Der Grund dafür ist Geschichte. Und zwar eine Geschichte der Gewalt - Gewalt, die Christen dem jüdischen Volk immer wieder angetan haben.

So gehen die meisten wohl mit recht gemischten Gefühlen auf diesen Text und dieses Thema zu. Wir werden zurückgeworfen auf den zentralen Text des Apostels Paulus aus seinen berühmten Kapiteln im Römerbrief über die Kirche und Israel. Es geht ihm darum, uns Christen in ein evangeliumsgemäßes Verhalten gegenüber Israel einzuweisen. Er tut das persönlich, engagiert - und dann wieder lehrhaft, aufklärend. Insofern wird auch die Predigt heute zu einer Art Lehrpredigt geraten. Das liegt daran, dass uns diese Texte des Apostels Paulus in erster Linie etwas zu lernen geben. Also: Heute gibt es nicht Trost oder Ermutigung oder eine Orientierungshilfe für's Leben, sondern bei Paulus ist etwas zu lernen.

Paulus möchte unsere Einstellungen und unser Verhalten gegenüber Israel zurechtrücken. Von den einleitenden Worten des Paulus sagt man, es seien überhaupt die schwierigsten und zugleich die schönsten, die tiefsinnigsten und zugleich die persönlichsten Worte des Apostels, die es gibt. Diese Worte könnten uns heute dazu helfen, den jüdischen Glauben und damit auch unseren eigenen Glauben besser zu verstehen. Hören wir also diese persönlichen Worte des Paulus:

Er redet von großer Trauer und unaufhörlichem Schmerz, den er in seinem Herzen hat. Ja, er geht noch weiter: Ich selber, so sagt er, wünschte verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder. (...) Der Wunsch meines Herzens und mein Gebet zu Gott für sie ist, dass sie gerettet werden. So radikal ist er bereit, alles zu geben, was ihm heilig ist und was er für wahr erkannt hat, das ganze Evangelium hinzugeben und sich selbst zu opfern für sein Volk, wie einst Mose nach der Geschichte mit dem Goldenen Kalb: „Ich will, Gott, stellvertretend für sie verflucht sein, wenn du sie nur annimmst und erlöst an meiner Stelle".

Paulus würde persönlich alles drangeben, damit Israel gerettet wird. Und das heißt umgekehrt:  Sollte das Evangelium von Christus bedeuten, dass Israel aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen würde, weil es sich nicht zu diesem Christus bekennen kann - dann wünschte Paulus lieber verflucht und von Christus getrennt zu sein, als noch einen Tag länger für dieses Evangelium zu streiten. Nein, dass Gott sein Volk aufgeben würde, das kann nicht sein. Und so zählt Paulus auf, was Gott seinem Volk gegeben hat und was ihm für immer gehört, unabhängig davon, ob es sich zu Christus bekennt oder nicht.

Wir tun gut daran, diese Gaben Gottes für sein Volk zunächst aufmerksam zu hören und auf uns wirken zu lassen:

Ihnen gehört die Kindschaft: Sie sind wahre Kinder Gottes von Abraham an, sie haben eine innige Beziehung zu Gott wie sonst keiner. Wenn wir uns als „Kinder Gottes" bezeichnen, so nur von ihnen her.

Ihnen gehört die Herrlichkeit Gottes: Wie sich Gott dem Mose zeigte von Angesicht zu Angesicht, so ist das ganze Volk Israel der Herrlichkeit Gottes auf dem Weg seiner Geschichte immer wieder begegnet.

Ihnen gehört der Bund, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat. Komme, was da wolle: Gott hat sich mit ihnen verbunden und bleibt seinem Volk treu. Und wenn wir Christen uns im Bund mit Gott glauben, dann nicht, weil wir an die Stelle Israels getreten wären, sondern weil wir durch Jesus Christus in diesen Bund Gottes mit seinem Volk hinein genommen sind. Das verbindet uns mit Israel.

Ihnen gehört das Gesetz: Die Tora, die guten Gebote Gottes, die zu einem gelingenden Leben führen, die die Freiheit des Menschen bewahren helfen, Israel hat sie als erste erfahren. Die Tora erzählt von der Liebe und Güte Gottes.

Ihnen gehört der Gottesdienst: Sie beten und singen Psalmen, lesen die Tora, sprechen das Bekenntnis ihres Glaubens. Unser Gottesdienst ist bis in viele Einzelheiten hinein dem jüdischen Synagogen-Gottesdienst nachempfunden.

Ihnen gehört die Verheißung: Gott wird sein Volk nicht verlassen, weder damals zur Zeit des Paulus, noch heute in unserer Gegenwart. Juden unserer Tage bezeugen es: Gott bleibt treu. Gott macht seine Verheißungen nicht rückgängig. Schon Paulus sagt mit Blick auf Israel: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen."

Ist dies alles nicht schon überreichlich genug? Wenn es so ist, besteht für uns Christen am Israel-Sonntag nicht schon reichlich Grund, Israel zu loben, für Israel zu beten, von Israel zu lernen für unsren Glauben? Einfach, weil unser Glaube hier seine Wurzeln hat, aus dem jüdischen Glauben gewachsen ist? Auch daran möchte Paulus uns erinnern: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich."

Doch all dies ist noch nicht genug. Paulus steigert das Ganze noch einmal, wenn er sagt: Christus kommt aus Israel, dem Fleische nach, d.h. seiner Abstammung nach. Christus, Kern und Mitte unseres Glaubens, ist selbst Jude, Sohn jüdischer Eltern, Kenner und Verehrer der Verheißungen und des Gottesdienstes und des Gesetzes und des Bundes und der Herrlichkeit Gottes und der Gotteskindschaft aller.

Darauf zielt es hin: Jesus, Grund und Mitte unseres Glaubens, ist Jude - als Jude geboren und als Jude gestorben. Und wenn wir uns zu Jesus Christus bekennen, dann bekennen wir uns zu dem Juden Jesus, der die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet.

Gott ist in Jesus Mensch geworden, so glauben wir, um sich allen Menschen zu zeigen, nicht nur seinem Volk. Um alle Welt mit sich bekannt zu machen, um allen Menschen sein Lebensversprechen zu geben - und auch Nicht-Juden in seinen Bund mit hinein zu nehmen. Und weil wir durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk mit hinein genommen sind, geht auch uns all das, wovon Paulus spricht, etwas an: der Bund, die Tora, der Gottesdienst, die Verheißungen. Schon manchmal haben wir im Laufe der Kirchengeschichte gemeint, wir hätten damit nichts mehr zu tun und haben uns vom so genannten Alten Bund und Alten Testament getrennt, es als Judenbuch abgetan und das jüdische Volk als ein uns ganz fremdes behandelt - und nicht nur behandelt, sondern verfolgt, verketzert, und mit grausamen Pogromen ausgestoßen und auszulöschen versucht. Und jedes mal haben wir uns damit zugleich von Christus getrennt, haben ihn ausgestoßen und unser Christsein verraten. Diese leidvolle Geschichte in der Begegnung zwischen Kirche und Synagoge sollte uns umso wachsamer sein lassen für diese Ausführungen des Apostels Paulus.

Ja, wir hängen untrennbar miteinander zusammen, ob uns das befremdet oder nicht, ob uns das passt oder nicht, weil wir beide, Juden und Christen aus der selben Wurzel kommen. Christus kommt nicht aus irgendeinem Volk, sondern aus Israel. Er ist in Jesus von Nazareth gekommen, aus dem Stamm Davids. Da liegt die Basis, das gehört uns beiden, Juden wie Christen - und was haben wir nicht schon an Trost und Hoffnung, an Glauben und Leben aus diesem gemeinsamen Erbe empfangen. Vor allem anderen haben wir ein gemeinsames Buch, eine gemeinsame Urkunde des Glaubens und das ist die hebräische Bibel, heilige Schrift der Juden und heilige Schrift der christlichen Gemeinden von Anfang an. Gerade uns Protestanten sollte das eine wichtige Verbindung sein. Nichts ist uns doch so wichtig wie dieses Buch. Nicht die Kirche, nicht der Gottesdienst, nicht der Pfarrer oder die Pfarrerin mit dem, was er oder sie sagt oder tut, sondern die Schrift ist Grundlage unseres Glaubens. Nur dass wir Christen glauben, dass der Retter, der Messias nicht erst in Zukunft erscheinen wird, sondern bereits in Jesus gekommen ist.

Und da liegt der „Stein des Anstoßes" - wie Paulus schreibt. Wir sagen: Christus ist das Ziel der Tora - jedenfalls für jeden, der glaubt. Das sagt der letzte Vers unseres Predigttextes: „Das Ziel des Gesetzes ist Christus, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt." Etwas genauer umschrieben heißt das: Jesus Christus, der Jude, ist Mitte und Grund unseres Glaubens und Lebens. In ihm kommen die Gebote Gottes, die das Volk Israel durch Mose erhalten hat, für alle Menschen, Juden und Nicht-Juden, Christen und Nicht-Christen zur Geltung und zu ihrem Ziel.

Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes - das unterscheidet uns Christen von unseren jüdischen Geschwistern. Wir sind überzeugt: Gott hat sich in diesem Menschen der ganzen Welt offenbart, damit alle Menschen einen Zugang zu Gott finden. Wir vertrauen darauf, dass Gott in Jesus Christus der ganzen Welt das Leben versprochen hat und sich mit allen Menschen verbündet hat - so wie zuerst seinem Volk Israel. Und wir meinen, dass die Tora und die Propheten schon auf Jesus als den Sohn Gottes hinweisen. Aus den Büchern der hebräischen Bibel allein ist das freilich nicht abzulesen. Man muss dazu erst die richtige Brille aufgesetzt bekommen. Es erschließt sich uns Christen eben erst unter der Vorraussetzung des Glaubens. Wer das Evangelium ablehnt und sich nicht zu Christus bekennt, der wird all das nicht nachvollziehen können. Das ist zu respektieren.

„Hat denn Gott sein Volk verstoßen?" fragt Paulus ein Kapitel weiter. „Das sei ferne! ... Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen". Das heißt: Gott hält an der Erwählung seines Volkes fest. Das Ja Gottes zu Israel ist stärker als das Nein Israels zum Evangelium. Es bleibt dabei: Israel gehört die Gotteskindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen. Und aus diesem Volk Israel kommt Jesus Christus, der Jude, zu dem wir uns bekennen. Wo wir Israel verstoßen, verraten wir den Grund unseres Glaubens.

Paulus möchte uns in ein evangeliumsgemäßes Verhalten zum Volk Gottes einweisen. Er macht uns deutlich: Wir hängen untrennbar mit dem Volk Gottes zusammen, ob uns das befremdet oder nicht, ob uns das passt oder nicht, weil wir beide, Juden und Christen aus der selben Wurzel kommen und an denselben Gott glauben. Auf unterschiedlichen Wegen bezeugen wir beide Gottes Lebensversprechen in dieser Welt.

Wir alle dürfen Gottes Kinder heißen, wir dürfen Anteil haben an seiner Verbundenheit mit den Menschen, und wir dürfen in seinem Namen und zu seinem Lob Gottesdienst feiern - gestern am Sabbat und heute am Sonntag. Es wird eine Zeit kommen, da werden wir uns gelassen begegnen, uns zu den großen Festen in unseren Gotteshäusern besuchen, ohne dass Polizei zugegen ist, werden gemeinsam Mahner sein in unserer Gesellschaft, wenn zentrale ethische Fragen zur Diskussion stehen, werden einander zuhören, wenn wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkunden - und all das interessant, bereichernd und normal finden. Paulus jedenfalls hätte seine Freude daran und würde Gott loben über alle Maßen.

Amen.



Dr. Titus Reinmuth

E-Mail: titus@reinmuths.de

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